von Ulrich Busch
Am 13. Februar 1883, acht Tage nach dem Besuch des Venezianischen Karnevals und drei Monate vor Vollendung seines 70. Lebensjahres, verstarb Richard Wagner an den Folgen eines Herzinfarkts. Sein Leichnam wurde nach Bayreuth überführt und im Garten der Villa „Wahnfried“ beigesetzt. Mit dem Tode Wagners fand ein bewegtes Leben ein plötzliches Ende und hörte ein reiches Schaffen abrupt auf. Zugleich aber begann damit eine posthume Wirkungsgeschichte, die bis heute anhält.
Richard Wagner, vor 200 Jahren, am 22. Mai 1813, in Leipzig geboren und vor 130 Jahren in Venedig gestorben, war zweifellos das größte Musikgenie des 19. Jahrhunderts, ein deutscher Künstler von europäischem Rang und säkularer Bedeutung. Dieses Urteil galt selbstredend nicht von Anfang an, setzte sich im Laufe der Zeit aber mehr und mehr durch und entsprach bereits 1876 allgemeiner Überzeugung. Seinen Bewunderern, wie zum Beispiel Friedrich Nietzsche, galt er als „Lichtbringer“ und neuer „Demosthenes“. Für Thomas Mann war er „eines der faszinierendsten Vorkommnisse der Kunst- und Geistesgeschichte“ überhaupt. Selbst Kritiker wie Hanns Eisler sahen in ihm einen Künstler „von wirklicher Größe“, der auf sein Publikum polarisierend wirkte, keinen aber „kalt“ ließ. Im Rückblick zeigt sich, dass Wagner „im Großen wie im Fatalen“ zu den wirkungsmächtigsten Gestalten seiner Epoche zählte, „vergleichbar nur mit Marx und Nietzsche“ (Joachim Fest).
Wagner hat die Musik seiner Zeit grundlegend revolutioniert. Harmonik, Orchester, Konzertwesen, Bühnenkunst, Opernstruktur – all das litt seit Beethoven und Weber unter einer gewissen Erstarrung. Wagner brach diese auf und machte, so Peter Wapnewski, „aus der Musik des 19. Jahrhunderts […] die des zwanzigsten“. Sein Einfluss reichte jedoch weit über die Musik hinaus und bezog sich auch auf die Dichtung, die Publizistik, das Theater, die Kunstgeschichte, die Kulturtheorie, die Politik, die Philosophie und den Instrumentenbau. Er selbst sah sich vor allem als Bühnenreformer und Erneuerer der Tonkunst, als Schöpfer kolossaler Musikdramen, welche als „Gesamtkunstwerke“ an Ausführende wie Zuhörer völlig neue Ansprüche stellten und sich daher von den herkömmlichen Bühnenwerken, den Opern Donizettis, Rossinis, Spontinis, Bellinis, Cherubinis, Verdis und Meyerbeers, sichtlich abhoben. Franz Werfel sah in Wagner den „Rächer Monteverdis“, da er das in Vergessenheit geratene Prinzip des Rezitativischen, des Musikdramas, „gegen die Oper wiederhergestellt und zum Siege geführt“ hat.
Die meisten Zeitgenossen Wagners jedoch haben das Neue, das Revolutionäre seiner Kunst nicht verstanden. So hielt zum Beispiel Robert Schumann Wagner für „keinen guten Musiker“ und Heinrich Laube sah in seiner Dichtung „den Text eines Dilettanten“. Einer seiner ärgsten Gegner, Eduard Hanslick, kritisierte bis zuletzt „die Armut seiner Erfindung und das Dilettantische seiner Methode“. Dabei war Wagners Stil durchaus originell, seine Kunstauffassung neuartig und sein Oeuvre eine kolossale Leistung, die alles Bisherige übertraf. Als „bürgerliches Gesamtkunstwerk“ entsprach es den Erfordernissen seiner Zeit, indem es exzessive Sinnlichkeit mit Entsagung (Triebverzicht) und Naturromantik mit bourgeoisem Luxusraffinement vereinigte. So entstanden Musikdramen, die gleichermaßen revolutionär wie romantisch, national wie kosmopolitisch, utopisch wie dekadent waren.
Tatsächlich war Wagner seiner Zeit weit voraus – nicht nur als Komponist, am Notenpult und am Klavier, sondern auch als Opernunternehmer, Theatermanager, Event-Organisator, Kulturlobbyist, Geld- und Kreditbeschaffer. Genau genommen war er „der erste Künstler der Moderne“, die „vollkommenste Inkarnation des reinen […] Künstlertypus“, wie Wapnewski schrieb. Er lebte für sein Werk und hat es verstanden, wenn auch unter Einsatz fraglicher Mittel, dieses beim Publikum durchzusetzen und damit nachhaltig Eindruck zu machen. Er wollte seine Schöpfungen nicht einfach vermarkten, sondern zelebrierte sie als theatralische Magie, als Offenbarungen und Mysterien. Geld war für ihn nie das Motiv seines Schaffens, sondern immer nur Mittel zum Zweck, als solches aber enorm wichtig. Er war ständig in Geldnot, von Geldsorgen geplagt und von Gläubigern verfolgt. Nichtsdestotrotz war er privat ein maßloser Verschwender, ein „Schnorrer“ und ein „Pumpgenie“, wie Thomas Mann nicht ohne Humor bemerkte. Er schuf Werke für die Zukunft, lebte indes aber gewaltig über seine Verhältnisse und verschuldete sich bei aller Welt – in der festen Überzeugung, dass die Welt ihm, dem genialen Künstler, letztlich unendlich viel mehr schulde, als er.
Wagners Lebens- und Schaffenszeit reichte von den Napoleonischen Kriegen bis zum Beginn der imperialistischen Ära. Sie umfasste damit den größten Teil des 19. Jahrhunderts. „Leidend und groß“, schrieb Thomas Mann, „wie das Jahrhundert, dessen vollkommener Ausdruck“ sie ist, steht uns „die geistige Gestalt Richard Wagners vor Augen“. Trotz Zukunftsmusik, übertriebenen Sendungsbewusstseins und Prophetentums blieb Wagner entschieden in seiner Zeit verhaftet. Alle Ideen und Widersprüche des Zeitgeistes in sich aufnehmend und sie in Töne und Reime setzend, verkörpert er in unseren Augen wie kaum ein anderer Künstler das „bürgerliche Zeitalter“ schlechthin – vom Sieg der Heiligen Allianz über Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig in Wagners Geburtsjahr 1813 über die Revolutionen von 1830 und 1848/49 bis hin zur Reichsgründung 1871 und zum wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Deutschlands in der Wilhelminischen Ära. Er hatte „alles“ in sich, was das 19. Jahrhundert ausmachte: „die Untergangsahnungen und die Anbruchserwartungen, den Zerstörungsfuror und die großen Imaginationen einer neuen und besseren Welt“, vermerkte der Historiker Joachim Fest. Sein Leben verlief nicht neben der Geschichte, sondern war aufs Engste mit dieser verflochten: Sein „Lebensdrama“ war das „Drama des Jahrhunderts“, so der Wagnerbiograph Martin Gregor-Dellin. In seinen Opern spiegeln sich Romantik und Restauration, vormärzlicher Aufbruch und postrevolutionäre Resignation ebenso wider wie Germanenkult, gründerzeitlicher Pomp und nationaler Größenwahn. Er stand im Netzwerk frühsozialistischer und nationalromantischer Ideen, unter dem Einfluss des „Jungen Deutschland“ und der Junghegelianer; er nahm die politischen wie philosophischen Strömungen seiner Zeit in sich auf, die vernünftigen wie die irrationalen, die utopischen wie die religiösen.
Es ist aber nicht nur die Originalität der Wagnerschen Dicht- und Tonkunst, der meisterhaft beherrschte neuromantische Stil und das Berauschende seiner Musik, was seine Werke auszeichnet und sie für die Nachwelt so bedeutungsvoll wie problematisch macht, sondern gleichermaßen das darin implementierte ideologische Programm, das neben anarchistischen und revolutionär-humanistischen Momenten auch nationalistische, antisemitische und rassistische Züge trägt. Nichts fehlt in Wagners Schriften und Musikdramen, weder der revolutionäre Anarchismus Bakunins noch der radikale Antikapitalismus von Proudhon bis Marx, weder die Religionskritik Feuerbachs noch der Pessimismus Schopenhauers, weder die revolutionäre Gesinnung von 1848/49 noch der Judenhass des deutschen Kleinbürgertums, weder der Nationalismus des Kaiserreichs noch die pseudoreligiöse Weltverklärung der Neuromantik. Für Wagner wurde dies alles zur Quelle der Inspiration, und er formte hieraus sein „Kunstwerk der Zukunft“.
Weltanschaulich wurzelt sein Denken in der deutschen Romantik und in der revolutionären Utopie des „Vormärz“. Es ist aber auch schon etwas vom falschen Pathos Wilhelm II. und „viel ‚Hitler‘ in Wagner“ (Thomas Mann), was ihn neben Nietzsche, Lagarde, Gobineau und Chamberlain zu einem der geistigen Vorläufer des Nationalsozialismus werden ließ. Aber auch das gehört zum 19. Jahrhundert, welches das Jahrhundert Feuerbachs, Lassalles, Marx‘, Bismarcks, Darwins, Hugos, Dickens‘, Fontanes, Tolstois und so weiter war, aber eben auch das von Schopenhauer, Nietzsche, Treitschke und Gobineau.
Obwohl Wagners Musikdramen den Zeitgenossen neuartig und ungewohnt erschienen und die chromatisch alterierte Harmonik insbesondere des „Tristan“ unbedingt in die Zukunft weist, bildet Wagners Tonkunst – musikhistorisch gesehen – doch weniger den Auftakt zu einer neuen Richtung als vielmehr den Schlussakt einer Entwicklungsperiode, der musikalischen Romantik. Sie ist deren großartige Synthese, reifste Ausformung und höchste Steigerung, behaftet aber auch schon mit den Insignien ihres Niedergangs, den Merkmalen der Dekadenz, wie Nietzsche als erster feinfühlig konstatiert hat, ebenso wie mit den Vorzeichen des Kommenden, des impressionistischen Stils und der Atonalität. Deshalb finden sich unter den Vorläufern Wagners – Gluck, Beethoven, Schubert, Weber, Berlioz, Marschner, Meyerbeer – große Namen, nicht aber in seiner direkten Nachfolge. Diese verharrte vielmehr in einem wenig produktiven Epigonentum (Humperdinck, Siegfried Wagner, Pfitzner), mied die Bühne und entfaltete sich eher auf sinfonischem Gebiet (Bruckner, Liszt, Mahler) oder ging eigene, schließlich von Wagner weg- und über ihn hinausführende Wege (Strauß, Saint-Saens, Franck, Schönberg, Berg). Mithin war Wagner in der Tat nicht, wie konservative und reaktionäre Kreise von Ludwig II. bis zu Adolf Hitler meinten, „der Seher einer Zukunft“, sondern vielmehr, wie Nietzsche richtig erkannt hatte, „der Deuter und Verklärer einer Vergangenheit“, der „letzte Verherrlicher und unendlich bezaubernde Vollender einer Epoche“, eben des 19. Jahrhunderts, und darin zugleich „ein mächtig-glückhafter Selbstverherrlicher und Selbstvollender“ (Thomas Mann), der keiner Steigerung mehr bedurfte, aber eben auch keine mehr erlaubt. Dieses Schicksal teilte er übrigens mit einem anderen „Außenseiter“ des 19. Jahrhunderts, mit Karl Marx, dem größten Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, der im gleichen Jahr wie Wagner, 1883, starb und der Nachwelt ein ebenso umfangreiches wie problematisches Erbe hinterließ.
Dieser Beitrag ist die Kurzfassung einer ausführlicheren Arbeit des Autors, die in Berliner Debatte Initial, Heft 1/2013, erscheinen wird.
Schlagwörter: 19. Jahrhundert, Friedrich Nietzsche, Musik, Richard Wagner, Thomas Mann, Ulrich Busch