von Jean Ziegler
Während all der Jahre als UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung waren meine schönsten – weil intensivsten und bewegendsten – Augenblicke diejenigen, die ich in den Schulkantinen und -küchen in Äthiopien, Bangladesch, der Mongolei et cetera verlebt habe …
Dort war ich stolz, ein Mensch zu sein. Die Nahrung richtete sich nach dem jeweiligen Land. Die Mahlzeiten wurden mit heimischen Produkten zubereitet: Maniok, Teff und Hirse in Afrika; Reis, Saucen und Hühnchen in Asien; Quinoa und Süßkartoffeln auf den Hochebenen der Anden. Auf allen Kontinenten gehörte zu den Mahlzeiten des Uno-Welternährungsprogramms (WFP) Gemüse. Und zum Nachtisch immer einheimisches Obst: je nach Land Mango, Datteln, Weintrauben.
Eine tägliche Mahlzeit in der Schulkantine veranlasste die Eltern unter Umständen, ihre Kinder in die Schule zu schicken und für einen regelmäßigen Besuch zu sorgen. Natürlich förderte diese Mahlzeit das Lernen und ermöglichte den Kindern, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.
Mit nur 25 amerikanischen Cent konnte das WFP eine Schale mit Reis oder Gemüsebrei oder Hülsenfrüchten füllen und den Schülern außerdem eine Monatsration mit nach Hause geben. 50 Dollar genügten, um ein Kind ein Jahr lang in der Schule mit Nahrung zu versorgen.
In den meisten Fällen bekamen die Kinder in der Schule Frühstück und/oder Mittagessen. Diese Mahlzeiten wurden entweder in der Schule selbst, von der Gemeinde oder in Zentralküchen zubereitet. Manche Schulspeisungsprogramme sahen vollständige Mahlzeiten vor, während andere besonders energiereiche Kekse oder kalte Imbisse anboten. Die segensreichen Rationen für zu Hause ergänzten die Schulspeisung. Dank dieser Einrichtung erhielten ganze Familien Lebensmittel, wenn ihre Kinder zur Schule gingen. Die Verteilung dieser Rationen wurde davon abhängig gemacht, ob die Kinder in der Schule angemeldet waren und wie regelmäßig sie den Unterricht besuchten.
„Warum isst der Kleine nicht?“
Im Rahmen des Möglichen wurden die Nahrungsmittel vor Ort gekauft. Davon profitierten die einheimischen Kleinbauern. Außerdem wurden die Mahlzeiten in der Schule mit Mikronährstoffen angereichert. Durch die Verteilung von lebenswichtiger Nahrung in extrem armen Regionen gelang es der Schulspeisung, gelegentlich den Teufelskreis von Hunger, Armut und Kinderarbeit zu durchbrechen. Schulspeisung erhielten ferner aidskranke Kinder, Waisen, behinderte Kinder und demobilisierte Kindersoldaten.
Vor 2009 versorgte das WFP auf diese Weise im Durchschnitt 22 Millionen Kinder – davon die Hälfte Mädchen – in siebzig Ländern mit Mahlzeiten, die insgesamt einen Wert von 460 Millionen Dollar pro Jahr repräsentierten. […]
Eines Tages fiel mir in einer Schule in Jessore, Bangladesch, ganz hinten in einer Klasse ein Junge von ungefähr sieben Jahren auf, der vor sich auf dem Pult seinen Teller mit Haferbrei und Bohnen stehen hatte, aber das Essen nicht anrührte. Unbeweglich saß er da, den Kopf gesenkt. Ich fragte Shah Murshid, den Regionaldirektor des WFP: „Warum isst der Kleine nicht?“
Murshid antwortete ausweichend. Offenbar war er verlegen. Schließlich erklärte er: „Es gibt immer Probleme … Hier in Jessore haben wir nicht die Mittel, den Schülern Familienrationen für ihre Familien mitzugeben. Deshalb weigert er sich zu essen … Er möchte das Essen für seine Familie mitnehmen.“
Erstaunt wandte ich ein: „Aber warum lassen Sie ihn nicht gewähren? … Er liebt halt seine Familie!“ Murshid: „Der Kleine hat Hunger. Er muss essen. Laut Vorschrift darf das Essen nicht aus der Schule hinausgenommen werden.“
Dieses Problem tritt immer wieder überall dort auf, wo das WFP Schulkantinen unterhält. Wo seine Mittel (und die der das WFP unterstützenden nichtstaatlichen Organisationen) nicht ausreichen, um den Schülern zusätzliche Mahlzeiten für ihre Familien mitzugeben, kommen strikte Regeln zur Anwendung.
In Sidamo beispielsweise, im Süden Äthiopiens, schließt der Lehrer die Kantine ab, sobald das Essen aufgetragen ist, um die Schüler zu zwingen, die Mahlzeit dort einzunehmen. Wenn die Kinder aus der Kantine treten und zu der Reihe der Wasserhähne auf dem Schulhof gehen, um sich die Zähne zu putzen und die Hände zu waschen, geht der Pädagoge noch einmal hinein, um sich davon zu überzeugen, dass alle Mahlzeiten aufgegessen wurden und dass nicht unter den Pulten versteckt noch volle oder halbvolle Teller stehen …
Die Liebe zu ihrer Familie spielt bei den Kleinen eine große Rolle. Essen, während die Ihren zu Hause hungern müssen, stellt ihre Loyalität, ihre Solidarität auf eine harte Probe. Daher ist es einigen von ihnen lieber, vom Hunger gequält zu fasten, als von Gewissensbissen gequält zu essen … Aber tragischerweise stellt sich das Problem heute kaum noch, weil die meisten Schulspeisungen eingestellt worden sind.
Am 22. Oktober 2008 haben sich die siebzehn Staats- und Regierungschefs der Eurozone im Elyséepalast in Paris versammelt. Um 18 Uhr sind Angela Merkel und Nicolas Sarkozy auf der Freitreppe vor die Presse getreten. Dort haben sie den Journalisten erklärt: „Wir haben gerade 1700 Milliarden Euro freigestellt, um den Interbankenkredit anzukurbeln und um die Eigenkapitalquote der Banken von drei auf fünf Prozent zu heben.“
Noch vor Ende 2008 gingen die Hilfsgelder der Eurozone für die Nahrungsmittelsoforthilfe um fast die Hälfte zurück. Das normale Budget des WFP betrug rund 6 Milliarden Dollar. 2009 fiel es auf 3,2 Milliarden. Das WFP sah sich gezwungen, die Schulspeisungen in vielen Ländern, auch in Bangladesch, einzustellen. Seither müssen eine Million kleine Mädchen und Jungen in Bangladesch ohne die Mahlzeiten auskommen.
2007 habe ich viele Schulen in Dhaka, Chittagong und andernorts besichtigt. Es war offensichtlich, dass viele dieser Kleinen mit den großen schwarzen Augen und schmächtigen Körpern die einzige nahrhafte Mahlzeit des Tages in ihrer Schule erhielten.
Ich erinnere mich auch an eine mehrstündige Sitzung im Büro des Erziehungsministers in Dhaka. Meine Mitarbeiter und ich kämpften, unterstützt vom örtlichen Vertreter des Uno-Entwicklungsprogramms UNDP, verbissen darum, dass die Schulen in Bangladesch nicht mehr während der großen Ferien geschlossen wurden, mit anderen Worten darum, dass die Kinder an zwölf Monaten im Jahr ihre tägliche Mahlzeit bekamen. Der Minister lehnte ab. Heute ist die Frage gegenstandslos geworden. Denn inzwischen hat das WFP, wie schon ausgeführt, die meisten seiner Schulspeisungen abgeschafft.
Für 2011 hatte das WFP seinen nicht einschränkbaren Bedarf auf 7 Milliarden Dollar beziffert. Bis Anfang Dezember 2010 hatte es 2,7 Milliarden Dollar erhalten. Dieser Rückgang der Einnahmen hat dramatische Konsequenzen.
Millionen US-Dollar fehlen
Den Fall Bangladesch konnte ich aus eigener Anschauung verfolgen. In diesem besonders bevölkerungsreichen, armen und den klimatischen Risiken besonders ausgesetzten Land verloren 2009 acht Millionen Männer, Frauen und Kinder alle Einkünfte und befanden sich nach den Worten des WFP „am Rande des Verhungerns“ (on the edge of starvation). Schuld war das Zusammenwirken zweier Katastrophen: die Verwüstung weiter landschaftlicher Flächen durch einen Monsun von extremer Heftigkeit und die Schließung einer großen Zahl von Textilfabriken, die die ganze Wucht der Weltfinanzkrise ungebremst zu spüren bekamen.
Die Asiendirektion des WFP verlangte in diesem Jahr für die Hilfe in Bangladesch 257 Millionen Dollar. Sie erhielt 76 Millionen. Noch schlimmer war die Situation 2010: Die Asiendirektion erhielt für Bangladesch nur 60 Millionen Dollar. Für 2011 erwartet sie einen noch größeren Einbruch bei den Zahlungen der Geberländer – und damit eine noch größere Zahl der zum Hungertod verurteilten Menschen.
In anderen Weltregionen ist die Situation genauso tragisch. Am 31. Juli 2011 gab die Uno folgende Pressemeldung heraus: „12,4 Millionen Menschen sind am Horn von Afrika vom Hunger bedroht. Diese Region im Osten des Kontinents umfasst fünf Länder, unter denen Äthiopien und Somalia am stärksten von der Hungersnot betroffen sind … Besondere Gefahr besteht für 1,2 Millionen Kinder im Süden Somalias. In ihrem geschwächten Zustand sind sie vom Tode bedroht, weil ihnen die Kraft fehlt, gegen Krankheiten zu kämpfen.“ Das WFP verlangte 1,6 Milliarden Euro. Davon hat es weniger als ein Drittel erhalten.
Im Lager Dadaab auf kenianischem Gebiet drängen sich 450.000 Menschen. Hunderttausende versuchen die Lager zu erreichen, die von den Vereinten Nationen in Ogaden errichtet wurden. Jeden Tag tauchen Tausende neuer Familien nach Fußmärschen von 100, manchmal 150 Kilometern aus dem Morgennebel auf. In Dadaab dauert die Registrierung ungefähr vierzig Tage. Weil es an Funktionären fehlt. Es fehlt auch an konzentrierten Nahrungsmitteln (Kraftriegel, nährstoffreiche Kekse) und Infusionsbeuteln. Bei diesen Keksen handelt es sich um Mischungen aus Getreide, Soja, Bohnen und anderen Hülsenfrüchten, Ölpflanzen und Milchpulver, angereichert mit Mineralien und Vitaminen. Diese speziell für den WFP entwickelten Nahrungskonzentrate werden mit Wasser gemischt und wie Haferbrei verzehrt.
In den Lagern und der unmittelbaren Umgebung ringen viele Kinder mit dem Tod. Tage und Nächte hindurch, oft wochenlang, marschieren die Familien, nachdem sie ihre von der Trockenheit zugrunde gerichteten Dörfer verlassen haben, durch die glühende Hitze und den dichten Staub der Steppe, um ein Lager zu erreichen. Viele sterben unterwegs. Mütter müssen die schwächsten Kinder zurücklassen. Am Rand der Pisten, in den Lagern, in provisorischen Unterkünften rund um die Lager sind schon Tausende von Menschen verhungert.
Anfang August 2011 waren nach Einschätzung des Kinderhilfswerks Unicef 570.000 Kinder unter zehn Jahren in dieser Region extrem unterernährt und unmittelbar vom Hungertod bedroht.
In ihrem Aufruf vom 18. August 2011 machte Unicef auch auf bleibende Gesundheitsschäden aufmerksam, die nach Berechnung der Organisation etwa 2,2 Millionen Kindern bevorstehen, die möglicherweise überleben, aber anschließend unter den Folgen der Unterernährung zu leiden haben werden. Erinnern wir uns, dass ein Kind, das in den ersten zwei Lebensjahren, einer entscheidenden Entwicklungsphase für seine Gehirnzellen, nicht angemessen ernährt wird, lebenslange Hirnschäden erleidet.
Sicherlich wäre es ungerecht, Frau Merkel oder den Herren Sarkozy, Zapatero, Berlusconi nebst den anderen Staatschefs, die 2008 entschieden haben, ihren Banken zulasten der für das WFP bestimmten Hilfszahlungen 1.700 Milliarden Euro zukommen zu lassen, irgendeinen Vorwurf zu machen.
Frau Merkel und Herr Sarkozy wurden gewählt, um die deutsche und französische Wirtschaft zu stützen und, gegebenenfalls, in Ordnung zu bringen. Sie wurden nicht gewählt, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen. Schließlich zählen die vom Hunger dauerhaft geschädigten Kinder aus Chittagong, Ulan-Bator und Tegucigalpa nicht zu den Wählern. Sie sterben auch nicht auf den Champs-Élysées in Paris, dem Kurfürstendamm in Berlin oder der Plaza Mayor in Madrid.
Wirklich schuld an dieser Situation sind die Spekulanten – die Manager der Hedgefonds, die noblen Großbankiers und andere Raubritter des globalisierten Finanzkapitals –, die aus Profitsucht und persönlichem Gewinnstreben, aber auch einer gehörigen Portion Zynismus das Weltfinanzsystem ruiniert und Vermögenswerte in Höhe von vielen Hundert Milliarden Euro vernichtet haben.
Dieses Raubgesindel müsste vor ein Tribunal für Verbrechen gegen die Menschlichkeit gestellt werden. Doch seine Macht – und die Schwäche der Staaten – ist so gross, dass es sich offenbar von keinerlei Risiko bedroht sieht.
Ganz im Gegenteil: Seit 2009 haben seine Akteure, als wäre nichts gewesen, ihre Aktivitäten fröhlich wieder aufgenommen, kaum behindert durch ein paar schüchterne neue Normen, die der Basler Ausschuss erlassen hat, diese von den Zentralbanken der reichen Länder eingesetzte Koordinierungsinstanz: erhöhte Eigenkapitalquote, etwas verstärkte Kontrolle der Finanzderivate et cetera. Zu den Vergütungen und Boni der Banker hat der Basler Ausschuss überhaupt keine Entscheidung getroffen. So hat Brady Dougan, der Vorstandsvorsitzende der Credit Suisse, 2010 einen persönlichen Bonus in der bescheidenen Höhe von 71 Millionen Schweizer Franken (65 Millionen Euro) eingesackt. […]
Die Hoffnung
2001 belief sich die Zahl der Dollarmilliardäre auf 497 und ihr kumuliertes Vermögen auf 1,5 Billionen Dollar. Zehn Jahre später, 2010, hatte sich die Zahl der Dollarmilliardäre auf 1210 und ihr kumulatives Vermögen auf 4,5 Billionen Dollar erhöht. Das kumulierte Vermögen dieser 1210 Milliardäre übersteigt das Bruttosozialprodukt Deutschlands.
Der Zusammenbruch der Finanzmärkte 2007 / 08 hat die Existenzgrundlage vieler Millionen Familien in Europa, Nordamerika und Japan vernichtet. Laut der Weltbank sind zusätzlich 69 Millionen Menschen im Elend des Hungers versunken. In den Ländern des Südens wurden überall neue Leichengruben ausgehoben.
Doch 2010 hatte das Vermögen der Superreichen jenes Niveau überschritten, das ihr Reichtum drei Jahre vor dem Zusammenbruch der Finanzmärkte hatte.
Wer sind die Herren des Agrar- und Lebensmittelmarkts, die heute über die Ernährung der Menschen bestimmen?
Einige transkontinentale Konzerne beherrschen diesen Markt. Jeden Tag entscheiden sie, wer stirbt und wer lebt. Sie bestimmen die Herstellung und den Preis der Produktionsmittel, die die Bauern und Viehzüchter kaufen müssen (Saatgut, Pflanzenschutzmittel, Pestizide, Fungizide, mineralischer Dünger et cetera.). Ihre Trader sind die Hauptakteure an den Commodity Stock Exchanges (den Agrarrohstoffbörsen) der Welt. Sie legen die Lebensmittelpreise fest. Auch das Wasser unterliegt inzwischen großenteils der Kontrolle dieser Konzerne. Seit kurzem haben sie sich viele Millionen Hektar Ackerland in der südlichen Hemisphäre angeeignet. Sie berufen sich auf den freien Markt und die „Naturgesetze“, die ihn angeblich regieren. Doch an den Gesetzen des Marktes ist gar nichts natürlich. Die Ideologen der transkontinentalen Unternehmen (der Hedgefonds, der internationalen Großbanken et cetera) sind es, die, um ihre mörderischen Praktiken zu legitimieren und um das Gewissen der Akteure zu beruhigen, diese „Marktgesetze“ als natürlich ausgeben, indem sie sie ständig als „Naturgesetze“ bezeichnen.
Vielfältige Ursachen sind daran beteiligt, dass jeder siebte Mensch auf der Erde schwerstens unterernährt ist und dass von diesen eine skandalöse Zahl verhungert. Doch egal, was für Ursachen es auch sind, die Menschheit verfügt über die Mittel, diesen entsetzlichen Missstand zu beseitigen. (…) Die Lösungen sind bekannt und füllen viele Tausend Seiten von Projektentwürfen und Machbarkeitsstudien.
Im September 2000 haben 146 der damals 193 der Uno angehörenden Staaten ihre Vertreter nach New York entsandt, um ein Verzeichnis der schlimmsten Tragödien anzulegen, von denen die Menschheit an der Schwelle des neuen Jahrtausends heimgesucht wurde – Hunger, extreme Armut, Wasserverschmutzung, Säuglingssterblichkeit, Geschlechterdiskriminierung, Aids, Epidemien, Klimazerstörung –, und die Ziele für den Kampf gegen diese Geißeln festzulegen. Nach Berechnungen, die die Staats- und Regierungschefs vorlegten, müsste man, um die acht Tragödien zu besiegen – unter denen der Hunger den ersten Rang einnimmt –, fünfzehn Jahre lang eine jährliche Investition von achtzig Milliarden Dollar vornehmen. Dazu würde es genügen, bei den 1.210 vorhandenen Milliardären eine jährliche Vermögenssteuer von zwei Prozent zu erheben …
Wie können wir der Unvernunft der Hungermacher ein Ende setzen? Indem wir zunächst einmal gegen den Sittenverfall der Führungseliten in vielen Ländern der südlichen Hemisphäre kämpfen – gegen ihre Bestechlichkeit und die Besessenheit, mit der sie festhalten an der Macht ihrer Positionen und der Aussicht auf die Reichtümer, die diese ihnen versprechen. In einigen Ländern der Dritten Welt sind die Unterschlagung öffentlicher Gelder und die Bereicherung der gewählten Volksvertreter ein großes Unglück. Wo die Käuflichkeit grassiert, werden die Ackerflächen den Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals preisgegeben, die schalten und walten können, wie sie wollen.
Paul Biya, der seit nahezu dreißig Jahren kamerunischer Präsident ist, verbringt drei Viertel seiner Zeit im Genfer Hôtel Intercontinental. Ohne seine tätige Mithilfe könnte sich der Trust von Alexandre Vilgrain nicht die vielen Tausend Hektar Ackerland in Zentralkamerun aneignen. Ohne sie hätte Vincent Bolloré nicht die Privatisierung des Staatsunternehmens Socapalm erreicht und sich nicht 58.000 Hektar fruchtbares Ackerland unter den Nagel reißen können.
In Las Pavas, im nordkolumbianischen Departement Bolivar, werden die paramilitärischen Killer im Sold der spanischen transkontinentalen Ölpalmenkonzerne von der politischen Führung des Landes dazu „ermächtigt“, wenn nicht sogar aufgefordert, die Bauern von ihrem Ackerland zu vertreiben: Der gegenwärtige Präsident Juan Manuel Santos ist mit den spanischen Palmölkonzernen so eng verbandelt, wie sein Vorgänger Álvaro Uribe es mit den Paramilitärs war.
Ohne das Wohlwollen von Abdulaye Wade gäbe es keine Grands Domaines du Sénégal! Und was wäre in Sierra Leone der rührige Jean-Claude Gandur ohne die bestechlichen Regierungsvertreter, die den ländlichen Gemeinschaften ihr Ackerland entreißen, um es ihm zu überlassen?
Bleibt der Hauptfeind. Es wäre so absurd wie vergeblich, von diesen Kraken der Agrarkonzerne, Geiern des „Grünen Goldes“ oder „Tigerhaien“ der Börsenspekulation zu erwarten, dass sie das Gewissen plagt. Das Gesetz der Profitmaximierung ist ein ehernes Gesetz.
Doch wie sollen wir dann diesen Feind bekämpfen und besiegen? Von Che Guevara stammt das Wort: „Die stärksten Mauern fallen durch ihre Risse.“ Bringen wir also der gegenwärtigen kannibalischen Weltordnung, die die Menschen unter ihrer Betondecke begräbt, so viele Risse wie möglich bei! In seiner Gefängniszelle schrieb Antonio Gramsci 1929, der Pessimismus der Vernunft verpflichte zum Optimismus des Willens. Der Christ Charles Péguy sprach von der „Hoffnung, dieser Blume der Schöpfung… die selbst Gott entzückt“.
Der Bruch, der Widerstand, die Unterstützung der Gegenmächte durch die Völker sind unentbehrlich – egal, auf welcher Ebene. Ob global oder lokal. Theoretisch oder praktisch. Hier oder anderswo. Notwendig sind bewusste, konkrete Aktionen, Aufstände, Landbesetzungen et cetera, wie die der Bauerngewerkschafter von Ross Béthio, Benin, der Sierra Jotocán in Guatemala oder der Reisbauern von Las Pavas in Kolumbien.
In den Parlamenten, den internationalen Institutionen können wir radikale Veränderungen durchsetzen: die Vorrangigkeit des Rechts auf Nahrung festschreiben, Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel verbieten, die Herstellung von Biotreibstoffen aus Nahrungspflanzen untersagen, das globale Kartell der Kraken des Agrarrohstoff- und Nahrungsmittelhandels zerschlagen, die Bauern gegen das Land Grabbing schützen, die Subsistenzlandwirtschaft im Namen des kulturellen Erbes erhalten und überall auf der Welt in ihre Verbesserung investieren. Die Lösungen sind da, die Waffen zu ihrer Durchsetzung verfügbar.
Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt, C. Bertelsmann Verlag, München 2012, 230 Seiten, 19,99 Euro
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Autors.
Schlagwörter: C. Bertelsmann Verlag, Dritte Welt, Hunger, Jean Ziegler, Nahrungsmittel