16. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2013

Bemerkungen

Im Westen nichts Neues

[…] Der Politiker. Politik kann man in diesem Lande definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung. Die Politik war bei uns eine Sache des Sitzfleisches, nicht des Geistes. Sie wurde in Bezirksvereinen abgehaspelt und durchgehechelt, und gegen den Arbeiter standen alle andern zusammen. Vergessen war der Geist, auf dessen Grundlage man zu Vorschlägen und Gesetzen kam, vergessen die Gesinnung, die, Antrieb und Motiv in einem, erst verständlich und erklärbar machte, was man wollte. Der Diplomat alter Schule hatte abgewirtschaftet, »er besitzt keinen modernen Geist«, sagten die Leute; nun sollte der Kaufmann an seine Stelle treten. Aber der besitzt ihn auch nicht. Eine wilde Überschätzung des Wirtschaftlichen hob an. Feudale und Händler raufen sich um den Einfluß im Staat, der in Wirklichkeit ihnen beiden unter der Führung der Geistigen zukommen sollte. Und dazu sollen wir Ja sagen? […]

Kurt Tucholsky

Auszug aus „Wir Negativen“, in Die Weltbühne, März 1919

Blätter aktuell

Wer hätte das gedacht: In deutschen Medien wird wieder über das Thema Wohnen diskutiert. Dabei sind der Wohnungsmangel und die hohen Mieten das Ergebnis einer bereits seit Jahren andauernden Politik, die das Wachstum der Metropolregionen als Innovations- und Wirtschaftszentren propagierte. Die Folgen sind dramatisch – und eine Lösung der lange tabuisierte Wohnungsnot ist nicht in Sicht. Auch eine umfassende Politik sozialer Wohnraumversorgung fehlt bislang völlig. Diesen Fragen geht Barbara Schönig in der jüngsten Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik nach.
Bewegten sich die Verfehlungen in den Chefetagen der Banken bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2007 noch meist innerhalb legaler Grenzen, so haben sie seither mehr und mehr den Rahmen jeglicher Legalität verlassen. Und fast immer dabei: die Deutsche Bank. Daher ist es allerhöchste Zeit, dass die Politik den kriminellen Machenschaften der Finanzindustrie endlich einen Riegel vorschiebt – so Wieslaw Jurczenko in einem Beitrag unter der ironischen Überschrift „Lauter kriminelle Einzelfälle“.
Und Marc Brandstetter sieht „,Die Rechte’ in Bewegung“: Die Neonaziszene steht unter Druck: Die eher zufällige Aufdeckung des für zehn Morde verantwortlichen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) im Herbst 2011 setzte die Sicherheitsbehörden massiv unter Zugzwang. Doch anstatt in den betroffenen Behörden konsequenter durchzugreifen, um die Ursachen des eigenen Versagens zu beseitigen, diskutierten Politik und Gesellschaft reflexartig über ein Verbot der NPD.
Weitere Beiträge befassen sich unter anderem mit folgenden Themen: „Sozialausstieg auf Europäisch“, „Venezuela am Scheideweg“, „Von Japan bis Südkorea: Die Wiederkehr der Dynastien“ und „Der Kult um den Colt“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Februar 2013, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet: www.blaetter.de

Film ab

Schauspieler ist er geworden, weil er – nach seinen eigenen Worten – ein totaler Versager war. Kein Einser-Schüler und Baseball-Crack sie sein Bruder. Auf dem Konservatorium reichte es nicht zum Konzertpianisten; der Wechsel ins Jazz-Fach schlug auch fehl, und am städtischen College vergeigte er alle Prüfungen. Dann riet ihm ein Freund, einen Schauspielkurs zu besuchen, weil dort niemand durchfalle. Und tatsächlich: Da fiel es ihm leicht, in unterschiedlichste Rollen zu schlüpfen.
Doch danach – zu klein und hässlich für Heldenrollen – musste er sich jahrelang mit Kellnern über Wasser halten. Wer besetzt schon einen schmächtigen Burschen mit viel zu großer Nase? Einer tat es: Regisseur Mike Nichols, 1967, und dieser Film wurde auch zu Dustin Hoffmanns „Reifeprüfung“ und Durchbruch als Schauspieler.
Für eine zweite Reifeprüfung, die als Regisseur, ließ er sich Zeit, bis er 75 war, und das war vielleicht gut so, denn für die Inszenierung des Films „Das Quartett“ über die Bewohner von Beecham House, eines Altersheims für pensionierter Musiker und Sänger, war intime Kenntnis der Fährnisse und Malaisen jenseits der 70, der gesundheitlichen Gebrechen und der Begleiterscheinungen des Senilwerdens, Voraussetzung – und sei es nur, um dem Heiteren, auch Komischen den Vorzug vor dem Melancholischen und Tragischen zu geben und dem ganzen Film ein Motto zu unterlegen, das Wilf(red), einer der Hauptdarsteller (Billy Conolly) so auf den Punkt bringt: „Sieh zu, dass Du nicht vor Deinem Tod abstirbst!“
Großartig in ihrer blasierten, aber zutiefst verletzlichen Divenhaftigkeit – Maggie Smith, einem jüngeren Publikum vor allem als Minerva McGonagall aus den Harry-Potter-Filmen vertraut, die jüngst erst wieder in der zu Recht preisgekrönten britischen TV-Serie Downton Abbey reüssierte. Apropos Harry Potter – offenbar hat nicht nur Quentin Tarantino einen Faible dafür, mit Anspielungen auf andere Filmwerke zu arbeiten: Michael Gambon, der in Harry Potter drei bis acht als Nachfolger des verstorbenen Richard Harris den Dumbledore gab, tritt im „Quartett“ in Erscheinung, als musste er, was Kaftan und wallendes Gewand anbetrifft, nicht einmal das Kostüm wechseln.
Natürlich ist Hoffmanns Film keine Dokumentarstück übers Altern, auch nicht mal ansatzweise realistisch – die fahlen Farben im Umfeld des Todes, blasses Grau und düstere Töne, kommen nicht vor. Und wer schon einmal in einem hiesigen Pflegeheim nicht der obersten Preisklasse gewesen ist und dessen typische Gerüche kennt, der käme nicht im Traum auf die Idee, Beecham House könnte ein vergleichbares Odeur eigen sein. Zu sehr zeichnet die Kamera die gesamte Szenerie romantisch weich; die Stimmung ist bisweilen geradezu mediterran. Überdies spielt der Film dort, wo England am grünsten und mit am lieblichsten ist, in Buckinghamshire. Und um das Maß voll zu machen: Ein Happyend gibt es auch noch. Aber – nebbich! Das Leben ist hart genug, da darf es im Kino schon mal die schöne Illusion sein.

Clemens Fischer

„Das Quartett“, Regie: Dustin Hoffmann; derzeit in den Kinos.

Nichts Neues unter der Sonne

„Unter derjenigen Klasse von Schriften, welche eigentlich dazu bestimmt ist, durch die Lesegesellschaften ihren Zirkel zu machen, finden sich, wie man allgemein klagt, so gar wenige, bei denen sich entweder der Kopf oder das Herz der Leser gebessert fände. Das immer allgemeiner werdende Bedürfnis, zu lesen, auch bei denjenigen Volksklassen, zu deren Geistesbildung von Seiten des Staats so wenig zu geschehen pflegt, anstatt von guten Schriftstellern zu edleren Zwecken benutzt zu werden, wird vielmehr noch immer von mittelmäßigen Skribenten und gewinnsüchtigen Verlegern dazu gemißbraucht, ihre schlechte Ware, wär´s auch auf Unkosten aller Volkskultur und Sittlichkeit, in Umlauf zu bringen. Noch immer sind es geistlose, geschmack- und sittenverderbende Romane, dramatisierte Geschichten, sogenannte Schriften für Damen und dergleichen, welche den besten Schatz der Lesebibliotheken ausmachen und den kleinen Rest gesunder Grundsätze, den unsre Theaterdichter noch verschonten, vollends zu Grund richten“ …
An der Sprache dieses Textausschnittes ist leicht festzustellen, dass sie einer vergangenen Zeit angehört. Inhaltlich trifft aber eins zu eins zu, was Friedrich Schiller in seiner „Vorrede zu dem ersten Teile der merkwürdigsten Rechtsfälle nach Pitaval“ gegen Ostern 1792 zu Papier gebracht hat, verbunden im Übrigen nicht zuletzt mit der Forderung, dass gute Literatur nicht abgehoben sein dürfe, sondern sehr wohl auch populär sein müsse, solle sie besagten Leserkreis erreichen.
Darüber, ob die obige Zustandsbeschreibung auch auf das damalige Fernsehen zutraf, hat uns Schiller leider nichts überliefert …

HWK

Leppinski 2

Agnes Lepp und Filip Wisniewski weisen einen schwäbischen beziehungsweise polnischen Migrationshintergrund auf und sind beide derzeit im Frankenlande wohnhaft. Als musikalisches Duo firmieren sie unter dem Namen „Leppinski 2“.
Auf ihrer titellosen Erstveröffentlichung verzichten sie darauf, sattsam abgenudelte Jazz-Standards zum Besten zu geben; stattdessen präsentieren sie neun Eigenkompositionen. Duo-Formationen sind ja nun wahrlich keine Rarität in der Jazzmusik. Gelegentlich schließen sich auch Heroen wie Chic Corea und Bobby McFerrin im Duett zusammen.
Eher selten ist hierbei jedoch die Kombination aus Gesang und Gitarre, den die fränkischen Newcomers zelebrieren. Als professionelle Musiker mit erfolgreichen Studienabschlüssen zeigen sie sich durchaus routiniert in ihren Stücken. Zu hören ist das ausgereifte Gitarrenspiel Wisniewkis, das sich mal dezent im Hintergrund zu den vokalen Improvisationsmomenten von Agnes Lepp einordnet und sich dann fast übergangslos in den Vordergrund arbeitet.
Die beiden musikalischen Protagonisten sind gut aufeinander eingestellt. Weniger jazz-affine Ohren werden sicherlich die Stücke präferieren, die sich mehr am klassischen Songwriter-Genre orientieren und weniger die offensichtliche Experimentierlust der zwei Musiker herausstellen.
„Does Humor belong in Music“, fragte einst Frank Zappa. Vielleicht kann ja aus der hörbaren Spiel- und Gesangfreude der beiden künftig noch mehr Spielwitz erwachsen, welchen die vorhin genannten Superstars in ihrem Zusammenspiel zur Perfektion getrieben haben.
„Lonely Birds are singing their song …“ intoniert Agnes Lepp. Nun, Leppinski 2 ist zu wünschen, dass sie keine einsamen Vögel in der deutschen Jazzszene bleiben.

Thomas Rüger

Leppinski 2: dto., Edtion Metropolmusik 2012, ca. 16 Euro

Wirsing

Aus gegebenem Anlass hieß es in der ZIB-Sendung des ORF: „Benedikt XVI. ist der 265. Papst, der im Frühjahr 86 wird.“ Was stimmt daran nicht? Wenn der alte Herr 86 wird, wird er nicht mehr Papst sein. Nur die anderen 264 Päpste werden im Frühjahr 86.

Fabian Ärmel