16. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2013

„Wir sind keine Moralapostel“

von Stephan Wohanka

2005 besuchte ich Chile. Eine Schlagzeile blieb mir im Gedächtnis: „Mi abuelo no es ladrón“. Pinochets Enkelin wehrte sich dagegen, dass ihr Großvater Augusto Pinochet, der Putschist gegen Präsident Salvador Allende und spätere Militärdiktator, als Dieb wahrgenommen würde; das sei er nicht. Tatsache ist, dass der Mann Millionen an Bestechungsgelder erhalten, ins Ausland geschafft und Steuern hinterzogen hatte…
Die Berliner Zeitung titelte am 21.11.12 „Wir sind keine Moralapostel“ und führte so in einen Beitrag des Bundesverteidigungsminister de Maizière ein (siehe „Debatte überfällig“, Das Blättchen 2012/25). De Maizière möchte eine öffentliche Debatte über die Militärpolitik der Bundesrepublik, deutsche Interessen und so weiter anstoßen. Eine seiner Thesen ist die Behauptung, wir seien keine Moralapostel; deshalb auch der Aufmacher. Und wieder: Glaubt man einen Tatbestand verneinen zu müssen, wie hier das Moralaposteltum, so ist höchste Vorsicht geboten: Das Gegenteil ist richtig; wir sind Moralisten!
Schon die in Rede stehende Zeitung ist Kronzeugin. Hymnisch feierte ihr Chefredakteur im März 2011 das deutsche Abstimmungsverhalten in der UNO in Sachen Libyen: „Die Bundesregierung, Außenminister Guido Westerwelle voran, verweigert dem westlichen Bündnis die Solidarität. Politisch ist das eine heikle Entscheidung. Aber sie ist mutig. Und vor allem völlig richtig“. Deutschland hatte sich damals bekanntlich bei der Abstimmung im Sicherheitsrat enthalten, anders als die USA, Großbritannien, Frankreich. Der Artikel gipfelte in folgendem Satz: „Es ist beruhigend, dass Westerwelle Deutschland auf einen Sonderweg (sic!) führt“.
Diese Enthaltung gilt – so wird inzwischen auch hierzulande unter der Hand eingeräumt – als politischer Fehler dieser Bundesregierung. Dabei ging es, das muss dabei (wieder) in Erinnerung gerufen werden, lediglich darum, Bündnissolidarität zu zeigen; westliche Partner zeigten damals Verständnis dafür, dass Deutschland nicht aktiv militärisch eingreifen wollte. So kann es nicht verwundern, dass diese (Ent)Haltung im Ausland Äußerungen wie „No strategies please – we´re German“ oder „No shooting, we´re German“ oder auch die These, dass die Deutschen „militante Pazifisten“ seien, regelrecht provoziert; Aussagen, die de Maizière in seinem Text zitiert. Ist nicht „Sonderweg“ in diesem Kontext das Synonym für „Moralapostel“?
Der Beweis wurde angetreten! Die Bundeswehr hat sich mit hundert Soldaten doch am Libyen-Krieg beteiligt: Diese hätten unter anderem an der Auswahl militärischer Ziele sowie der Übermittlung von Befehlen an AWACS-Überwachungsflugzeuge mitgewirkt, wie später die Bundesregierung einräumte. Damit liegt das Moralisch-Heuchlichere offen: Aus innenpolitischen Gründen sich enthalten – „Risiko für deutsche Soldaten“ –, aber dann doch heimlich begrenzt mitmachen!
Schon lange gefallen sichdie deutschen politischen und intellektuellen Eliten dabei, „Sonderwege“ zu gehen. Hans Mayer, als renommierter Literaturwissenschaftler Wanderer zwischen den deutschen Welten, leitet 1977 in einer Rede vom „Deutschen Selbstempfinden“ das „merkwürdig schwache Selbstgefühl von uns Deutschen“, das sich in Selbsthass äußern oder zu Nationalismus aufblähen und in Hass und Gewalt gegen unsere Nachbarn, gegen Fremdes und Fremde ausbrechen könne, aus unserer Geschichte her. Als bei unseren westlichen Nachbarvölkern eine neue Welt mit einer großen Blüte der Kultur sich gegen das Mittelalter durchsetzte, standen, so Hans Mayer, die „Gedanken und Empfindungen“ der deutschen Geistesarbeiter allzu oft „im Schatten einer politischen und gesellschaftlichen Niederlage“ und „im Gegensatz zu den politischen Ordnungen“.
Dieser schon früh nachweisbare Widerstreit zwischen Geist und Macht, zusätzlich geprägt von den beiden, wenn auch unterschiedlichen Diktaturen des letzten Jahrhunderts hat das deutsche Selbstempfinden tief in der Wurzel geschädigt. Der deutsche Minderwertigkeitskomplex geht – das ist bei Völkern nicht anders als bei Menschen – einher mit grandioser Heuchelei und versteckter Arroganz. Natürlich sind wir moralisch nicht besser als andere, wir aber meinen von uns, wir seien immer noch die Besseren! Da spielen wir schon mal an der Seite von China und Russland den oberpazifistischen Leisetreter; um letzterem Land dann wiederum vorzuhalten: „Mit besonderer Sorge stellt der Bundestag fest, dass in Russland seit dem erneuten Amtsantritt von Präsident Putin gesetzgeberische und juristische Maßnahmen ergriffen wurden, die in ihrer Gesamtheit auf eine wachsende Kontrolle aktiver Bürger abzielen, kritisches Engagement zunehmend kriminalisieren und einen konfrontativen Kurs gegenüber Regierungskritikern bedeuten“. So eine Resolution, die mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen beschlossen wurde.
Was soll solch ein Beschluss? Diese oberlehrerhafte Diktion ist weder diplomatisch noch angemessen gegenüber Partnern. Es ist legitim, andere Länder zu kritisieren. Dafür haben Regierungen spezifische Möglichkeiten; zum Beispiel das Gespräch von Minister zu Minister. Aber da darf man, wie es Westerwelle handhabt, nicht nur zu Kurztrips – morgens hin, abends zurück – nach Moskau reisen. Diese öffentliche Form ist Anmaßung, Besserwisserei, Moralapostelei! Zumal auch die deutsche Innenpolitik selbst zu fragwürdigen Mitteln greift: Vorratsdatenspeicherung, großer Lauschangriff, elektronischer Reisepass, der Steuer-ID, dem Elektronischen Entgeltnachweis und so weiter. Manches scheiterte am Bundesverfassungsgericht. Weniger zu moralisieren stünde unserer Politik also nicht schlecht an.
Oder nehmen wir den leidigen Streit über die religiöse Beschneidung von Knaben; denn auch dabei treibt das deutsche Moralisieren schönste Blüten. Zeitweilig vermochte die Debatte in Feuilletons, Blogs und Leserbriefen sogar die Eurokrise zu verdrängen. Da singt der Beschneidungsgegner, der Chirurg Maximilian Stehr – und mit ihm viele andere – das Hohelied „ärztlicher Ethik“ vom „primum nihil nocere“ und folgert: „Die Behandlung des Patienten muss zu seinem Wohle sein und wird damit vor andere Interessen wie Wissenschaft, Einkommen oder Gewinn gestellt“. Wo lebt der Mann? Der Faktencheck Gesundheit der Bertelsmann-Stiftung stellt fest: In Bremerhaven ist die Wahrscheinlichkeit, bis zum 19. Lebensjahr die Mandeln entfernt zu bekommen, sechsmal höher als in Rosenheim. Die Häufigkeit im Landkreis mit der höchsten Rate an Bypass-Operationen am Herzen unterscheidet sich vom Kreis mit der niedrigsten Rate um den Faktor acht. Alles medizinisch indiziert? Wo die „Interessen“ der Zunft liegen, dürfte so klar sein. Damit sind die Argumente von „unzumutbaren Schmerzen“, vom „Kindeswohl“ nicht widerlegt, aber aus dem Munde dieser scheinheiligen Moralisten, die selber derart ungehemmt schnippeln und schneiden, sind sie hohl und unglaubwürdig!
Die Beispiele ließen sich häufen. 2003 geriet das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas mit der so genannten „Degussa-Affäre“ in die Schlagzeilen: Degussa sollte eine Chemikalie zum Schutz der Stelen gegen Graffitis liefern, wogegen sich viele mit dem Hinweis wandten, Degussa könne als Lieferantin von Giftgas für die Naziverbrechen nicht an dem Projekt beteiligt werden. Der Jude Peter Eisenman, Architekt des Mahnmals, bezog in der ZEIT Stellung: „Man könnte sagen, dass die Kontroverse um die Beteiligung der Degussa am Mahnmal etwas Positives hat. … Würde man Degussa die Beteiligung an diesem Projekt verweigern, hieße das, die Aufarbeitung der Schuld als Privileg zu behandeln“. Lea Rosh, auf deren Beharren das Projekt letztlich zurückging, kommentierte wie folgt: „Wären Eisenmanns Eltern in Auschwitz mit Zyklon B ermordet worden, was hätte er dann gesagt?“ Der Geist dieser Einlassung Roshs: Wenn schon der Jude Eisenman keine Moral hat, dann wenigstens habe ich sie! Wolfgang Thierse nannte das eine „moralische Scharfrichterposition“.
Das Franz Joseph Strauß zugeschriebenen Wort vom „ökonomischen Riesen und politischen Zwerg“ war auf die alte Bundesrepublik gemünzt. Das geeinte Deutschland kann nicht in dieser Zwergenrolle verharren, mehr noch – Deutschland kann nicht immer wieder „Sonderwege“ gehen: Entweder überzieht es die Welt mit Krieg und Verwüstung oder aber es generiert sich als letztendliches moralisches Gewissen der Welt nach dem Motto „Nie wieder Krieg!“ Es muss endlich Schluss sein mit dem fatalen Diktum: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ – im Guten wie im Schlechten, wobei die historische Abfolge eher nahe legt, im Schlechten wie im vermeintlich Guten.