16. Jahrgang | Nummer 2 | 21. Januar 2013

Gramsci und die linken Intellektuellen

von Bernhard Mankwald

Ein zentrales Thema von Gramscis Aufzeichnungen im Gefängnis ist die Rolle der Intellektuellen. Lenin hatte der „Intelligenz“ die Aufgabe zugedacht, die Arbeiter zu erziehen und ihnen ein sozialistisches Bewusstsein zu bringen. Gramsci dagegen fand, dass auch die einfachste Arbeit ein gewisses Minimum an intellektuellen Fähigkeiten erfordert. Für ihn ist daher jeder Mensch ein Intellektueller, auch wenn in der Gesellschaft nicht alle die Funktion von Intellektuellen haben.
Bei den Intellektuellen im engeren Sinne unterschied Gramsci zwei wichtige Kategorien. Die traditionellen Vertreter dieser Berufsgruppe üben in der Gesellschaft historisch gewachsene Funktionen etwa im Bildungswesen, kulturellen und religiösen Bereich aus und genießen dabei eine relativ unabhängige Stellung. Die organischen Intellektuellen dagegen sind stärker mit bestimmten Teilinteressen verbunden.
Ganz offensichtlich ging es Gramsci bei diesen Überlegungen vor allem um die Intellektuellen der Arbeiterklasse. So betont er deren Bedeutung, wenn es darum geht, die traditionellen Intellektuellen auf die eigene Seite zu ziehen. Den Begriff des organischen Intellektuellen aber führt er am Beispiel des kapitalistischen Unternehmers ein: dieser „schafft mit sich den Techniker der Industrie, den Wissenschaftler der politischen Ökonomie, den Organisator einer neuen Kultur, eines neuen Rechts usw.“ Damit dies gelingt, muss ein Teil der Unternehmer zumindest die intellektuellen Fähigkeiten besitzen, um die spezialisierten Angestellten für solche Aufgaben auszuwählen.
Diese Gruppe von organischen Intellektuellen gehört also nicht zu den Kapitalisten, sondern steht in einem Lohnarbeitsverhältnis zu ihnen und hat daher auch eigene Interessen. Die authentischen Vertreter der Kapitalinteressen dagegen müssen Intellektuelle nur im bereits erwähnten weiteren Sinne sein. Sie leisten nicht unbedingt selbst die Arbeit von Intellektuellen, sondern leiten diese und eignen sich die Ergebnisse an. Sie werden sich dabei gewiss von geeigneten Untergebenen helfen lassen und deren Dienste entsprechend honorieren. Die organischen Intellektuellen des Kapitals können sich daher Hoffnungen machen, irgendwann einmal selbst in die Reihen der Bourgeoisie aufzurücken.
Überträgt man diese Unterscheidung nun auf die Arbeiterklasse, so entstehen völlig andere Kräfte- und Zahlenverhältnisse. Ihre authentischen Vertreter sind zahlreich, waren aber lange vom Erwerb intellektueller Fähigkeiten ausgeschlossen. Ihre organischen Intellektuellen stammten daher meist aus dem Bürgertum; in Russland waren es oft Angehörige der nationalen und konfessionellen Minderheiten, die diese Funktionen ausübten. Materiell brachte diese Tätigkeit statt der Chance zum Aufstieg die Gefahr des Abstiegs mit sich; die permanente Finanznot, in der Karl Marx sich befand, ist dafür bezeichnend. Anders wurde das als Parteien entstanden, die Beiträge erhoben und andere Geldquellen erschlossen. Karl Kautsky konnte so seine theoretischen Beiträge gewissermaßen als „Parteibeamter“ liefern; und auch Lenins „Berufsrevolutionäre“ waren ja nichts anderes als besoldete Funktionäre einer solchen Partei. Völlig neue Verhältnisse aber entstanden, als eine derartig professionalisierte Partei die Macht eroberte, und damit auch die Verfügung über die materiellen Güter ihrer Gesellschaft.
Lenin hielt demokratische Kontrolle unter den Bedingungen Russlands für unmöglich und setzte statt dessen auf hierarchische Kontrolle von oben. Die authentischen Vertreter der Arbeiterklasse hatten daher kaum Möglichkeiten, die Tätigkeit der Intellektuellen zu überwachen. Das Recht zu politischen Initiativen wurde immer weiter eingegrenzt und blieb schließlich dem Politbüro vorbehalten. Als eigentliches Machtzentrum etablierte sich aber schließlich, vor allem durch seine Personalpolitik, das Sekretariat des ZK. (Ich habe diese „Diktatur der Sekretäre“ in einem Buch ausführlicher behandelt und beschreibe dort die weitere Entwicklung als Klassenkampf besonders gegen große Teile der ländlichen Bevölkerung, der innerhalb der Partei die Form eines Kampfs der Bürokraten gegen die Theoretiker annahm.)
Während Gramscis Zeit als aktiver Politiker war diese Entwicklung noch nicht abzusehen. In der Haft konnte er diese Fragen nicht vertiefen: er hätte damit riskiert, seinen Feinden propagandistisches Material an die Hand zu liefern – und die Chance vermindert, dass seine Überlegungen seine Freunde erreichten. Es ist auch kaum eine Wendung denkbar, die es ihm ermöglicht hätte, seine Ideen in Frieden und Sicherheit weiter auszuarbeiten. So konzentrierte er seine Folgerungen auf Nutzanwendungen für das Bildungswesen. Auch hier drängt es sich daher geradezu auf, weiter zu denken.
Wer übte etwa unter der neu entstandenen Hegemonie „der Partei“ (siehe Blättchen 25/2012) die Aufsichtsfunktion über die organischen Intellektuellen aus? Der Sozialwissenschaftler Leo Kofler beschrieb diese „Geistesbürokratie“ aus eigener Erfahrung als „Inquisition des Stalinismus“, die ihre Widersacher zur „Selbstkritik“ zwingt oder als „Agenten“ überführt. Diese Mentalität brachte wohl Kurt Tucholsky am besten auf einen kurzen Nenner: „Schade, daß Sie nicht in der Partei sind – dann könnte man Sie jetzt ausschließen!“
Die Geistesbürokratie blieb den Intellektuellen der DDR in milderer Form bis zum Ende dieses Staates erhalten. Aber auch wer diese Klippen umschiffte, ohne dass entweder die eigene Laufbahn oder die Wahrheit zu argen Schaden nahmen, fand sich eines Tages unter der bürgerlichen Hegemonie wieder, von der schon im Blättchen 23/2012 die Rede war. Geistige Güter wurden jetzt den Gesetzen des Marktes unterworfen; und der zieht leichtverdauliche Ware vor, die vor allem den Appetit auf weiteren Konsum anregt.
Den Linken im Westen war dieses Phänomen längst vertraut. Zwar zeigten auch ihre Gruppen, Grüppchen und Parteien – gleich, ob eher traditioneller, maoistischer oder auch trotzkistischer Ausrichtung – ein beachtliches Talent zur „Inquisition“ und vermutlich sehnen sich immer noch einige altgediente Funktionäre im Stillen nach der Zeit, als ihresgleichen ein Weltreich regierte. Ansonsten galt es für linke Intellektuelle im Westen, sich an schwierigen Kunststücken zu versuchen: an Universitäten im Dienste des Staats Rezepte zu dessen Abschaffung zu ersinnen, in profitorientierten Medien gegen das Kapital zu schreiben, als linker Buchautor einen Verlag und ein Publikum zu finden. Die Verdienste, die dabei erworben wurden, dürfen auf keinen Fall unterschätzt werden – ebenso wenig aber die Anpassungsleistungen, die dazu erforderlich waren. Dass diese Umstände für die Gewinnung von Erkenntnissen und vor allem für deren praktische Umsetzung nicht gerade förderlich sind, liegt auf der Hand.
Unterdessen fanden auch Bildungsgüter weitere Verbreitung. Ingenieure, Ärztinnen, Informatikerinnen, Lehrer, Psychologen müssen heute mehr lernen als je zuvor – und haben, da es auch immer mehr von ihnen gibt, immer größere Schwierigkeiten, ihre Arbeitskraft zum vollen Wert zu verkaufen. Das Wissen, theoretische Konzepte zu erarbeiten, die technischen Fertigkeiten, sie zu verbreiten, besitzen heute mehr Menschen denn je. Viele von ihnen kennen Dinge aus eigener Erfahrung, die den traditionellen Intellektuellen höchstens aus Büchern geläufig sind – und Probleme, die diese besorgt aus der Ferne betrachten, brennen ihnen auf den Nägeln.
Das begründet wohl auch den Reiz, den die „Piraten“ auf die Wählerschaft ausübten. Ihre recht naiven Vorstellungen scheinen darauf hinauszulaufen, das Problem der Demokratie mit Hilfe der Softwaretechnik zu lösen. Aber wenigstens von Technik verstehen sie wohl etwas – und auch in puncto Demokratie trauen ihnen wohl nicht wenige mehr zu als etwa der Partei „Die Linke“.
Gramscis Konzepte zeigen also, vor welchen Schwierigkeiten linke Intellektuelle heute stehen, sie erklären damit den merkwürdig leblosen Zustand, in dem sich große Teile der Linken befinden – und sie sind sicher hilfreich,bei der Suche nach einem Ausweg aus dieser Misere.