Herr Rahr, die deutsche Presse schreibt immer kritischer über Russland. Stehen wir vor einem neuen Kalten Krieg?
Alexander Rahr: Vielleicht war der Kalte Krieg nie richtig vorbei. Vielleicht haben wir in den Jahren der Perestroika und unter Jelzin nur eine temporäre Unterbrechung des Kalten Krieges gehabt. Doch worum geht es heute? Früher stritt man sich um die Kontrolle über Territorien und wer das bessere Gesellschaftssystem hatte. Heute gibt es in der Sicherheitspolitik keine territorialen Konflikte mehr. Wirtschaftlich entwickeln sich die Beziehungen zwischen Ost und West besser denn je. Was Deutschland bemängelt ist, dass Russland von der Demokratie, die es nach dem Ende des Kalten Krieges versprach aufzubauen, wieder abrückt. Ein nichtdemokratisches Russland flößt Deutschland für die Zukunft Europas Angst ein. Also haben wir einen Weltanschauungskonflikt. Er ist aber nicht so gefährlich, wie der alte Kalte Krieg.
Sie haben gerade die Jahrestagung des Valdai Klubs mit Präsident Vladimir Putin in Moskau moderiert, haben den scharfen Meinungsaustausch zwischen Putin und Kanzlerin Angela Merkel beim Petersburger Dialog aus nächster Nähe erlebt – was läuft so falsch in Russland?
Rahr: Die gängigen westlichen Zeitungsartikel zu Russland sind einseitig und ideologisch. Doch unsere Politiker lesen bedauerlicherweise nichts anderes, weil die deutsche Ostforschung inzwischen finanziell ausgetrocknet ist. Die russische Wirtschaftsentwicklung wird schlechtgeschrieben, der erfolgreiche Aufbau eines funktionierenden Sozialsystems ignoriert, das erfolgreiche Management der Regierung in der Finanzkrise nicht gewürdigt und insgesamt werden die Schwierigkeiten des Transformationsprozesses aus dem Kommunismus nicht verstanden. Bei der Analyse der russischen Außenpolitik wird kaum Verständnis für die nationalen Interessen Russlands gezeigt. Für viele im Westen hat Russlands Zukunft nur im Lernen vom Westen Bestand. Vielleicht soll Russland in dieselbe Verliererecke gedrängt werden, wie Deutschland nach 1945. Dagegen wehren sich die Russen.
Aber es ist doch nicht zu leugnen, dass seit Putins Rückkehr in den Kreml, nach einer kurzen Tauwetterperiode unter Präsident Dmitrij Medwedew, die Schrauben im System wieder angezogen werden und Kritik am Putin-System unterdrückt wird.
Rahr: Die Stärkung des Staatsmonopolismus in Russland geschieht – man kann das durchaus mit Bedauern sehen – unter großer Zustimmung der Bevölkerung. Im Westen versteht man nicht, dass der Verlust des Sowjetimperiums in der Bevölkerungsmentalität eine klaffende Wunde hinterlassen hat. Viele Russen sehnen sich stärker nach Ordnung als nach Freiheit. Schuld daran ist nicht das generelle Leugnen der Demokratie durch die Russen. Schuld daran sind die katastrophalen Erfahrungen, die das russische Volk mit der Demokratie in den 90er Jahren gemacht hat. Der Westen hat die Einführung von Demokratie und Kapitalismus bejubelt, aber geschwiegen, als das Land immer mehr verarmte. Ich verstehe nicht, warum Deutschland ständig diesen Wertekonflikt mit Russland führt. Wollen wir den Russen Demokratie mit Gewalt einimpfen? Die Russen reagieren zunehmend aggressiver auf Belehrungen vom Westen.
Russland hat immerhin in den 90er Jahren die Menschenrechtscharta unterschrieben, versprochen, alle liberalen Richtlinien des Europarates und der OSZE zu achten. Jetzt erinnert der Westen Russland an diese Verpflichtungen …
Rahr: Was kümmert uns, angesichts immer größerer Probleme in der Weltpolitik, des möglichen Zerfalls der Eurozone, der wachsenden Ohnmacht der USA, dem Aufkommen neuer globaler Krisen, dem Erstarken eines nichtdemokratischen Chinas und des islamischen Extremismus, ob Russland eine westliche Demokratie wird oder nicht? Sollen wir nicht lieber froh darüber sein, dass Putin dieses große Land wieder stabilisiert hat und es dort keine vagabundierenden Atomwaffen gibt? Darüber hinaus eignet sich der Westen nicht als ehrlicher Makler in Sachen Demokratie. Was entgegnen wir den Russen, die dem Westen vorwerfen, Kosovo, Afghanistan, den Irak, Libyen bombardiert zu haben, ohne dass in diesen Staaten als Folge westlicher Kriegsführung Demokratie eingekehrt sei? Russische Nahostexperten sind heute über die westliche Falscheinschätzung des arabischen Frühlings schier entsetzt.
Im UN Sicherheitsrat unterstützt Moskau „Schurkenstaaten“ wie den Iran und Syrien. Warum hilft Putin nicht dem Westen, die Weltordnung humaner und gerechter zu gestalten?
Rahr: Die Welt ordnet sich vor unseren Augen neu. Aus der uns nach dem Kalten Krieg so lieb gewonnenen monopolaren Weltordnung, deren Regeln die transatlantische Gemeinschaft schrieb, entsteht immer mehr eine multipolare Weltordnung, mit mehreren Machtzentren. Die Konturen der neuen Weltordnung sehen folgendermaßen aus: Die EU wird wirtschaftlich von China und der ASEAN überholt. Die USA denken vermehrt transpazifisch und abnehmend transatlantisch. Russland ist es leid, von der EU ständig mit Vorwürfen konfrontiert zu werden, und orientiert sich von Europa nach Asien um. Nach dem Rückzug der NATO aus Afghanistan gerät der Mittlere und Nahe Osten immer stärker unter die Kontrolle von Staaten, die von innen heraus vom islamischen Extremismus ausgehöhlt werden.
Russland wird im Westen generell nicht mehr als wichtiger Akteur betrachtet. Kann man Moskau also einfach ignorieren?
Rahr: Ohne die Rohstoffe Russlands wird die EU ihre Wirtschaft nicht in Ordnung bringen können. Ohne ein Sicherheitsbündnis mit Russland kann Europa nicht stabil bleiben. Die heutigen Versuche des Westens, die Welt von bösen Diktatoren zu reinigen, könnte das letzte Aufbäumen der NATO vor dem Gang in die Bedeutungslosigkeit sein. In Syrien oder Iran unterstützt der Kreml nicht die lokalen Diktatoren. Russlands Hauptintention ist es zu verhindern, dass der Westen neue Kriege führt, um den Übergang der Welt von einer unipolaren zu einer multipolaren Weltordnung zu behindern. Russland sieht keine Zukunft in der G8-Weltregierung. Es unterstützt deshalb die G20. Moskau steht auch Pate bei der Umwandlung der losen Formation der BRICS-Staaten – bestehend aus den wirtschaftsstarken Schwellenländern Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – in eine tatkräftige internationale Organisation. Die Schanghai Organisation für Zusammenarbeit könnte durchaus in wenigen Jahren zur einflussreichsten Sicherheitsarchitektur Asiens werden. Russland zu ignorieren wäre die falsche Strategie.
Moskau versucht gerade, die postsowjetischen Staaten in ein neues Bündnis – die so genannte Eurasische Union – zu pressen. Sie meinten, die Russen trauerten ihrem alten Zarenreich hinterher. Entsteht hier ein neues russisches Imperium?
Rahr: Nein, ich sehe die Eurasische Union eher als letzten Versuch der ehemaligen Sowjetrepubliken an, an Europa anzudocken. Russland mag in der Eurasischen Union ein Land wie Belarus dominieren, bei Kasachstan wird Russland die Rolle des Großen Bruders nicht mehr spielen können. Die Eurasische Union ist als eine EU-Ost konzipiert, deren Ziel die Integration mit der EU ist. Zunächst müssen alle postsowjetischen Staaten in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen werden, danach soll zwischen der EU und der Eurasischen Union eine Freihandelszone entstehen, die schließlich zu einer Art „Habitation“ (Zusammenleben) zwischen West- und Osteuropa führen soll. Die EU wird diesen Andockversuch entweder ignorieren – dann wird sich die Eurasische Union nach Asien abwenden, oder Westeuropa gewinnt seine traditionelle Vorstellung von einem gemeinsamen Europa vom Atlantik bis zum Ural wieder zurück. Momentan entsteht der Eindruck, als ob nicht nur die vernünftige Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses tot sei, sondern das der Westen Europas seinen Osten „verloren“ hat.
Michael Stürmer schrieb einmal in Der Welt von zwei unterschiedlichen deutschen außenpolitischen Strategien zu Russland. Er meinte damit die „Russland-Versteher“, zu denen die Wirtschaftsführer gehören, und die so genannten Gutmenschen, für die eine EU-Außenpolitik ausschließlich auf liberalen Werten basieren müsse. Wie können beide Parteien einen Konsens erzielen?
Rahr: Im Vorfeld des jüngsten Petersburger Dialogs gab es eine äußerst kritische Resolution des Deutschen Bundestages gegen Russland. Das zeigte sich dann in der offenen Diskussion zwischen Putin und Merkel beim Dialog. Als die Kanzlerin die „Menschenrechtskeule“ herausholte, fuhr Putin ihr sofort mit einem platten Antisemitismusvorwurf gegen Pussy Riot in die Parade. Ich persönlich, der vor zwanzig Jahren in den „Schützengräben“ des Kalten Krieges noch bei Radio Liberty in München saß, möchte keine Rückkehr in eine neue Frostperiode. Die Voraussetzungen dafür, dies zu vermeiden, waren nie besser: Zwischen Deutschland und Russland existieren hervorragende Wirtschaftsbeziehungen. Das Handelsvolumen liegt bei fast 80 Milliarden Euro – so hoch wie noch nie. Der wissenschaftliche und kulturelle Austausch funktioniert. Deutschland hat, anderes als die EU als Ganzes, die von Russland angebotene Energiepartnerschaft mit Moskau realisiert. Die humanitären Verflechtungen zwischen beiden Ländern sind so gut wie nie zuvor in der Geschichte. Nicht nur die Oligarchen, sondern auch der neue russische Mittelstand expandiert auf den deutschen Markt. Aus dieser Perspektive gesehen ist Deutschland eindeutig ein wichtiger Anwalt Russlands im Westen. Demnächst werden auch die strengen Visa-Bestimmungen aufgelockert, die letzte „Mauer“ im Osten Europas wird dann fallen.
Welche Perspektiven hat Russland? Sie klingen optimistisch, wenngleich ihre permanente Kritik am wertepolitischen Ansatz viele deutsche Russlandbeobachter äußerst irritiert. Ihnen wird vorgeworfen, mehr die russischen als die deutschen Interessen zu vertreten.
Rahr: Für einen Regionalwissenschaftler ist es Pflicht, auch die Interessen der Gegenseite zu verstehen. Deutschland ist keine Weltmacht wie die USA, die es sich leisten kann, auf andere herunterzuschauen und nur die eigene Interessenspolitik zu verfolgen. In der neuen Welt von heute, die über neue Informationstechnologien ganz anderes vernetzt ist, agiert man nur über intensive Verflechtungen, starkes Einfühlungsvermögen und Verständnis für das Gegenüber. Wer diesen Weg geht, versteht mehr als andere. Russlandexperten, die kein Russisch lesen, sind unbrauchbar. Ja, ich kennen Putin persönlich und er kennt mich auch. Würde ich die gleiche Beziehung zu Barack Obama besitzen, wäre ich der Star der USA-Forschung in Deutschland. Aber Putin ist bedauerlicherweise hier nur der Buhmann, obwohl er alles daran gesetzt hat, gerade mit Deutschland eine funktionierende Energieallianz aufzubauen, um die uns viele Nachbarn beneiden. Nachdem Nord-Stream- und SouthStream-Pipeline fertiggestellt sind, wird Deutschland zur Drehscheibe für russisches Gas in Europa werden.
Ein positives Schlussplädoyer…
Rahr: Russland steht vor einem historischen Generationswechsel. Im Land ist eine neue Mittelschicht entstanden; sie besteht aus jungen Menschen, die den Kommunismus nie gekannt haben. Sie fürchten nicht die Staatsmacht, haben gelernt, Eigeninitiative zu entwickeln, können Fremdsprachen und reisen ständig ins Ausland. Ich sehe in der Mentalität der neuen Mittelklasse Russlands und Deutschlands kaum noch große Unterschiede. Diese Menschen, und nicht die Altkommunisten, sind das Rückgrat Russlands im 21. Jahrhundert. Putins strategischer Fehler ist, dass er – anders als sein Vorgänger Medwedew – auf diese Mittelschicht politisch nicht zugeht.
Das Gespräch für Das Blättchen führte Alfons Markuske.
Alexander Rahr war langjähriger Leiter des Programms Russland/Eurasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und arbeitet heute als Senior Advisor der Wintershall Holding GmbH. Rahr berät den Präsidenten der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer und ist Ehrenprofessor des Moskauer Staatsinstituts für Internationale Beziehungen und der High School of Economics, Moskau.
Schlagwörter: Alexander Rahr, Asien, Europa, kalter Krieg, Multipolarität, Russland, Vladimir Putin