von Sem Pflaumenfeld
Manchmal möchte ich gar nicht mehr erzählen, wohin ich reise oder womit ich mich beschäftige. Bei sogenannten gesellschaftlichen Anlässen bekomme ich nämlich meist zwei Reaktionen, die auch nacheinander auftreten können. Welche dabei den Gesprächsverlauf bestimmt, hängt sehr davon ab, womit ich mich als vermeintlich Japaninteressierte zuerst geoutet habe.
Beginne ich in einem eher akademischen Kontext mit meinen Forschungsinteressen für Reiseliteratur vor allem von japanischen Frauen, bekomme ich gern die gesamte moderne Literatur Japans aufgezählt, die die Menschen mir gegenüber in der Übersetzung gelesen haben. Das ist erst einmal ein wunderbarer Einstieg. Meine ehrliche und erwachsene Reaktion darauf wäre das Eingeständnis, dass ich von all dem nur gehört habe. Damit könnten wir es auch bewenden lassen, wenn nicht beide Seiten miteinander an der Illusion arbeiten würden, dass unsere Textauswahl unserem Verständnis eines gesamten Landes mit seiner langen Geschichte und wechselhaften Kulturen auf irgendeine Weise weiterhelfen würde. Dies trifft übrigens auch auf die zweite Herangehensweise an ein Gespräch über Japan zu. Wenn ich mich als Japanforscherin und -reisende zu erkennen gebe, komme ich ebenso schnell in die Bredouille, ein Land mit tausenden von Inseln und über hundertdreißig Millionen Menschen einfach einmal in wenigen Minuten erklären zu müssen. Dass dieses Unterfangen scheitern muss, liegt auf der Hand. Und das macht mich wahnsinnig.
Ich habe über das Land nichts zu sagen, weil es da nichts zu wissen gibt. Genauer gesagt, gibt es nichts zu wissen, was ich als Fragende nicht wirklich erfahren will. Es hängt doch von meinen Fragen ab, welche Antworten ich bekomme. Und bei mir führt eine Frage, was die gegenwärtige Literatur über die Gesellschaft zu sagen hat, in die Sackgasse, weil ich moderne Literatur nicht lese. Die Gründe sind ganz irdisch: ich habe dafür keine Zeit, denn ich muss die Zeit vor der Moderne abgrasen. Die Strömungen der Freeter- und Prekariatsliteratur um die Jahrtausendwende sind so spannend wie sie deprimierend sind, jedoch habe ich sie nicht gelesen. Ich persönlich habe auch SchriftstellerInnen, deren Namen ich in einem Gespräch mittlerweile nicht mehr hören kann. Es ist, als würden die bekanntesten Popliteraten der letzten dreißig Jahre für die Literatur von Gesamtdeutschland stehen. Natürlich liegt es an der Zugänglichkeit von Übersetzungen, ob ich die fantastischen Romane von Murakami Haruki oder die gesellschaftskritischen Krimis von Kirino Natuo lese. Die Ausgaben der sogenannten japanischen Klassiker sind nicht immer in wirklich guten deutschen Übersetzungen zu finden. Und japanische Literatur begann nicht erst mit Kawabata Yasunari (1899-1972). Doch ich gebe zu, dass ich in solchen Gesprächen eher genervt bin, weil ich einen Großteil der Bücher wirklich nicht gelesen habe. Die Erklärung, dass ich Besseres als Murakamis Bücher zur Hand habe, scheint ungenügend. Ich werde dann gelegentlich mürrisch; warum sollte ich mich ausgerechnet mit japanischen Popliteraten auseinandersetzen. Dass er für den Literaturnobelpreis im Gespräch war, spricht dabei eher für die Blindheit des Komitees gegenüber der Variation und Schönheit von Texten auf der gesamten Welt als für ein qualitatives Alleinstellungsmerkmal japanischer postmoderner Literatur.
Eine Freundin machte ihrer Frustration bei einem Essen und einer Zigarette in Shibuya Luft. Sie fragte mich, wie ich damit umgehe, pars pro toto für Japan sprechen zu müssen. Meine Antwort war, dass ich manchmal auf meine persona als frustrierte Feministin zurückgreife, um Gespräche einfach abzuwürgen. Denn wenn von mir verlangt wird, dass ich die Welt erkläre, nehme ich gelegentlich die Herausforderung nicht an. Ich habe keine Lust, Stereotype von einem Land mysteriöser Frauen, mafiöser Wirtschafts- und Politikstrukturen sowie einer Kultur der Geisha, Kirschblüte und Pagoden zu widerlegen. Das liegt einerseits daran, dass ich das auch gar nicht kann. Denn wie in jedem Märchen liegt in all diesen Vorstellungen ein Körnchen Wahrheit. Aber dieses zu finden, ist nicht Zweck solcher Partygespräche. Deswegen lasse ich es. Außerdem kann ich mich nicht zu allem äußern. Weiß ich denn zu diesen Themen für Deutschland oder nur für meine Stadt etwas zu sagen? Warum sollte ich das für eine gesamtes Land können müssen oder dürfen?
Der Weg vom Flughafen Narita nach Tokyo zeigt mehr als meine Worte über Japan sagen könnten. Ich bevorzuge den teureren Narita-Express (N’EX) der staatlichen JR, der mich für circa 3.000 Yen entweder nach Tokyo, Shinjuku oder Yokohama bringt. Es gibt neben den Regionalbahnen noch den privaten Narita-Skyliner nach Ueno, ebenso an der Kreislinie Yamanote. Der Weg durch die Präfektur Chiba führt an Reisfeldern vorbei schnell in die Akkumulation von Einfamilien- und größeren Wohnhäusern, letztere mit den sogenannten Mansions (qualitativ hochwertige Wohnungen, meist gekauft) und Appartements (kleine Wohnungen, meist gemietet). Dazwischen mögen sich zwar Tempel und Schreine befinden, aber das moderne Japan sind diese Zusammenwürfelungen von Häusern, Straßen und gelegentlichen Feldern. Je näher sie an der Bahnstrecke stehen, desto schmutziger und abgenutzter sehen sie aus. Wer genau hinsieht an den großen Verkehrsknotenpunkten wie Shinjuku oder Tokyo, aber auch in Osaka, Hiroshima, Sendai, Sapporo erblickt Japan mit seinen hässlichen, abgewetzten, schmalen hochgeschossenen Riesen an Häusern. Dazwischen befinden sich die Ladenstraßen, in denen sich selbst in Tokyo die Menschen schnell kennenlernen, wenn sie denn miteinander sprechen. Das Ländliche ist in die Stadt gezogen. Auch wenn die Japaner selbst gern die Symbole der Kultur aufzählen – es sind nicht die Tempelanlagen, die Japan ausmachen. Abgesehen von der Figur der Geisha, die Japan wohl eher peinlich zu sein scheint, weil ihr mittlerweile auch hier der Geruch der Halbseidenen anhängt, sind es die Dinge, die das kollektive Bewusstsein bestimmen, die das angeblich Japanische sind.
Von außen darin bestärkt, entfaltet sich hier auch ein Alltagsrassismus, der in seiner liebevoll unbewussten Art nicht weniger schlimm wirkt. Die Reisende braucht sich in Japan nicht zu fürchten, denn ihr wird überall gern und zuvorkommend geholfen. Ich werde dabei auf Englisch angesprochen. Was lieb und als Hilfe gemeint ist, spricht aber nach einigen ausgetauschten Worten für das Verständnis, dass niemand Japanisch wirklich erlernen kann. Wie Menschen in Japan erworbene Sprachen aufzählen, halten sie die Muttersprache auch für eine, die hart und stetig erlernt werden muss. Dahinter liegt wohl der Glauben, dass der Mensch grundsätzlich in der Lage ist, alles zu lernen, wenn er sich bemüht. Das ist das Löbliche daran. Was aber auch zu der gesamten Sprachdebatte dazugehört ist, dass niemand, der so aussieht wie ich jemals Japanerin sein oder werden kann. Denn japanische Menschen sehen nicht so aus wie ich. Das bezieht sich weniger auf meine Maße als auf meine Haut-, Haar- und Augenfarbe. Menschen, die schon lange hier leben oder sogar hier geboren worden sind, aber nicht in die Vorstellung von ostasiatisch (das meint vor allem China, Korea, Japan) aussehenden Menschen passen, sehen sich ähnlichen (positiven) Vorurteilen gegenüber wie die gelegentlich in Japan Reisende. Mich muss das weniger stören, weil ich nicht lange genug im Land bin, aber wenn ich hier leben würde, würde mich das irre machen. Unter anderem.
Schlagwörter: Japan, Literatur, Sem Pflaumenfeld