15. Jahrgang | Nummer 21 | 15. Oktober 2012

Madame Chrysanthèmes Gewerbe

von Sem Pflaumenfeld

Brecht war wohl nie auf Izu. Das hielt ihn natürlich nicht ab, die Legende von Shimoda für ein unvollendetes Theaterstück zu nutzen.
Erste Berichte aus Japan im 19. Jahrhundert sprudelten über von der Unmoral jenes Inselvolkes, bei dem Mann und Frau unbekleidet miteinander badeten und nichts Verwerfliches daran fanden. Dass gleichzeitig verheiratete Männer und Frauen kaum außerhalb des Hauses Umgang miteinander pflegten, fiel den europäischen Augen nicht auf. Die ersten Reisenden wussten nicht, wie sie mit ihrer Faszination umgehen sollten. Die Männer waren den schwarzen Schiffen gefolgt, und auch wenn sie häufig keine Waffen trugen, benutzten sie ihre Worte, um über das Unerhörte dieses barbarischen Landes zu berichten.
Auch die arme japanische Frau, die aus ihrem Käfig der feudalen Familie befreit werden musste, wollte nicht so richtig zum Bild der offenherzigen und sexuell verfügbaren Geisha passen. Dass sich die Reisenden das Bild der Japanerin nach eigenen Wünschen zurechtlegten, muss uns nicht sonderlich verwundern. Die unterwürfige junge Schöne war so lange gut genug, so lange sie den Europäern und Amerikanern als Ehefraueersatz zu nutze war. Pierre Loti (1850-1923) wird oft vorgeworfen, dass er mit seiner Japan-Trilogie (Madame Chrysanthème, Japoneries de l’automne und La troisième jeunesse de Mme Prune, 1887-1905) das Zerrbild der verfügbaren Japanerin geprägt habe. Dabei war gerade seine Heldin, Madame Chrysanthème, diejenige, die die Natur des Handels sehr gut verstanden hat.
Die Legende der Saitô O-Kichi spricht dagegen eine andere Sprache. In Japan gilt sie über hundert Jahre nach ihrem Tod als Bauernopfer für die Diplomatie. Für Brecht wurde sie die „Judith von Shimoda“ (Uraufführung 1997 am Berliner Ensemble). So soll der Unterhändler der US-amerikanischen Regierung, Townsend Harris (1804-1878), 1856 die 17-jährige gesehen und für seinen Haushalt im Tempel Ryôsen-ji beansprucht haben. Ein Magenleiden wegen der aufreibenden Verhandlungen ließ ihn nach einer Krankenschwester suchen. Ihren Verlobten mit ein bisschen Geld vom Shogunat bestochen und aus der Beziehung gedrängt, fand sich die Arme erst in der Küche und dann angeblich im Bett des Diplomaten wieder. Letzteres war ein Gerücht schon zu ihren Lebzeiten. Das Verwerfliche daran war nicht die sexuelle Beziehung, denn es war für einen Mann in Harris’ Alter nach japanischem Verständnis überhaupt nicht unschicklich, sich seines Personals zu bedienen. Was ihr von japanischer Seite übel genommen wurde, war die Herkunft des Bettgenossen. Verkaufen sollten und durften sich die Frauen, doch nicht an einen barbarischen Ausländer. Sie wurde „Tôjin O-Kichi“ („Barbaren-O-Kichi“) genannt. Sie wird als Wäscherin und als Geisha bezeichnet. Das eine ist ein armer, aber ehrenwerter Berufsstand, das andere eine Berufung, die zwar reich machen konnte, aber als nicht standesgemäß galt.
Die mögliche Anstellung zu sexuellen Diensten beim puritanischen Harris war wohl eher ein persönliches Geschäft und hatte damit nichts in der Öffentlichkeit zu suchen. Jedoch war Diplomatie, vor allem mit den militärisch überlegenen Barbaren von jenseits des Meeres, sehr wohl eine öffentliche Angelegenheit. Und O-Kichi fand sich als verkaufte Frau wieder, die ihrem Land einen Dienst erweisen sollte, diesen aber nicht bezahlt bekam. Deswegen gilt sie im Westen als eine der ersten armen, verkauften Japanerinnen, über die einfach entschieden wurde und die nichts gegen ihr Schicksal tun konnten. Bei Brecht wird sie gar zur biblischen Judith, die jedoch wegen ihrer Sanftheit den amerikanischen Holofernes nicht töten kann.
Wir wissen nicht, wie O-Kichizu ihre Aufgabe in der Diplomatie sah. Der Tempel, der ihr Grab pflegt und ein Kuriositätenkabinett ihr Museum nennt, ist wie die gesamte Kleinstadt Shimoda auf der Halbinsel Izu, Shizuoka-Präfektur, eine Reise wert. Auch das Bordell, das sie nach ihrer Entlassung betrieben haben soll und das in der Forschung seltsam verschämt als Restaurant dargestellt wird, ist noch an seinem ursprünglichen Ort zu finden. Denn sie tat das, was sie der Legende nach am besten konnte, und machte ihre Künste zu Geld. Auch wenn weibliche Leitungen von Bordellen nichts Ungewöhnliches waren, wurde ihr (trotz übler Nachrede) ein besonderes Geschick für das Gewerbe nachgesagt. Und doch erzählt ihre Legende sie nicht als Geschäftsfrau, sondern als Trinkerin, die auf die Meinung ihrer Mitmenschen viel gab und die mit ihrem schlechten Ruf nicht leben konnte. Dass ihr florierendes Geschäft doch einging, lag auch an der unglücklichen Geschäftspraxis, Männern zu vertrauen. Ihr Geliebter soll mit ihr das Geld durchgebracht haben, so dass sie sich 1892 in den kleinen Fluss von Shimoda stürzte. Ihre Familie wollte sie nicht begraben lassen, so dass der Tempel Hôfuku-ji sich ihrer annahm.
Sie hat nach ihrem Tod das gleiche Problem wie zu Lebzeiten. Ihr Ruhm wird auch jetzt noch von einem Mann überschattet, da die Stadt auch des Besuches durch Sakamoto Ryôma (geboren 1836) gedenken muss. Dessen Statue steht am Hafen von Shimoda und übersieht wie zur Ankunft der schwarzen Schiffe das Meer. Auch sein Besuch im Tempel ist bedeutend genug, um daran gleich am Eingang zu erinnern. Sakamoto war ein großer Verfechter der Erneuerung durch Öffnung zum Westen, um nicht als Kolonie zu enden. Wegen seiner Loyalität zum Kaiserhaus und der Gegnerschaft zum Shogunat wurde er 1867 in Kyôto ermordet. Wie O-Kichi arbeitete Sakamoto für ein anderes Japan, auch er tat es weniger auf der Straße, mit Worten und Ideen. Und doch gilt der körperliche Einsatz einer jungen Frau im schlimmsten Fall als verwerflich, im besten Fall als tragisch, während ein niederer herrenloser Samurai (Rônin) Geschichte schreiben durfte. Wir wissen nichts über O-Kichis Verständnis von Geschichte, denn ihr wird nicht zugestanden, verstanden zu haben, welche Rolle sie im Weltgeschehen um die Bedürfnisse eines durchaus selbstverliebten Diplomaten spielte. Sie gilt als Spielball großer Männer, die sie auf dem sprichwörtlichen Go-Brett herumschoben.
Das Mitleid ist genau aus diesem Grund scheinheilig, selbst wenn ich dem Tempel zugestehen muss, das er sich bemüht, O-Kichi gerecht zu werden. Doch es ist die sexuelle Leistung, um die sich der Mythos dreht. Die neue Regierung in Tokyo hatte sie nach ihrer Entlassung nicht unterstützt, weil sie nur eine Hausangestellte war. Ihren Mitmenschen war sie suspekt, weil sie sich mit einem Fremden eingelassen hatte. Im Gegensatz zu den Madames Chrysanthème, die ihr folgen sollten, war sie kein Ehefrauersatz gewesen und damit auch nicht von Harris ausbezahlt worden. Er hatte sie im Gegenteil aus seinen Diensten entlassen, weil sie an einem Hautausschlag litt. Nach der Heilung hatte er sie wieder einstellen wollen, doch er verließ vorher das das Land. Im Gegensatz zu George Bernhard Shaws Mrs. Kitty Warren und ihrem „Gewerbe“(Theaterstück, 1893) ging es bei der anschließenden sozialen Ächtung nicht um öffentlich verkaufte Sexualität, sondern um eine Frau, die diesen Handel des weiblichen Körpers in die eigenen Hände nahm. Dass sie sich dabei auf Männer verließ, wurde ihr zum Verhängnis. Denn Liebe und Unterstützung konnte sie nicht erwarten.