15. Jahrgang | Sonderausgabe | 22. Oktober 2012

Groß’ Feind, wenig Ehr’

von Erhard Crome

Unter den vielen Büchern über den Islam und die westliche Perspektive darauf, ist dies sicher eines der kundigsten. Werner Ruf, der als Nahost-Wissenschaftler aus seinem linken Herzen nie eine Mördergrube machte, hat hier ein sehr lesbares Buch vorgelegt, das jeder zur Kenntnis nehmen sollte, der die derzeitige internationale Politik des Westens für fragwürdig hält.
Gerade hier steht das Vorurteil dem Urteil über die Wirklichkeit im Wege, zumindest wenn es um das Handeln der staatstragenden Kräfte geht. Der Massenmord des Norwegers Anders Breivik wurde von den Medien zunächst umstandslos „den Islamisten“ zugeordnet, bevor man wusste, wer es wirklich war. Im deutschen Verfassungsschutz bespitzelt die Hälfte der 6.000 Mitarbeiter die „islamistische Szene“. Da konnten sie natürlich für die faschistischen Morde des „NSU“ kein Auge haben – die Morde wurden „Döner-Morde“ geheißen, obwohl nur eines der Opfer an einem Döner-Stand umgebracht wurde. Die Sonderkommission der Ermittler hieß „Bosporus“, und die Medien redeten von „Halbmond-Connection“ und meinten eine Verbindung von organisiertem Verbrechen und Islam. Am Ende waren es deutsche Faschisten, deren Untaten zu ermitteln waren.
Gewiss, es gibt eine „Tradition“ des abendländischen Kampfes, Geschichten, wie die von der Abwehr der Sarazenen durch die Franken bei Poitiers im Jahre 732, der Türken vor Wien 1529 und 1683, dazwischen die Kreuzzüge, die wenig mit Ritterlichkeit und sehr viel mit Kriegsverbrechen der Europäer im Vorderen Orient zu tun hatten. Gleichzeitig waren es arabische Gelehrte, über die das Erbe der alten Griechen in das christliche Europa kam, woraus dann Renaissance und Aufklärung wurden. Nach der französischen Revolution wurden die Ideen von liberté, égalité und fraternité in der arabischen Welt euphorisch aufgenommen, man erhoffte sich eine Befreiung vom osmanischen Joch, Modernisierung und nationale Entwicklung. Die Kolonialisierung etwa Nordafrikas durch Frankreich zielte jedoch nicht auf Befreiung, sondern auf Unterdrückung. Die Menschen- und Bürgerrechte waren nicht für Muslime gedacht. Insofern wurde die Herrschaft der Europäer auch zu einer religiösen Herausforderung, die Religion der Ort, an dem die Unterdrückten Zuflucht suchen konnten.
Zugleich haben die westlichen Mächte den Islamismus sehr bewusst als Instrument ihrer Herrschaftspraktiken benutzt. Im Kontext des Ost-West-Konflikts wurde der Islam als ideologische Gegenkraft im Nahen Osten gegen den „gottlosen Kommunismus“ eingesetzt wie auch gegen die national oder gar sozialistisch orientierten Kräfte in Ägypten unter Nasser, in Algerien sowie gegen die Baath-Parteien in Syrien und Irak. Die USA unterstützten die Muslimbrüder gegen den fortschrittsorientierten Nationalismus, Israel förderte die Hamas zwecks Unterminierung der palästinensischen PLO Arafats, die Gotteskrieger der Mudjahedin waren willkommene Verbündete gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde daraus der neue große Feind gemacht.
Der Vorteil des Buches von Werner Ruf ist, dass auch der politisch interessierte Leser, der nicht zu den Fachleuten in Sachen Nahost und Islam gehört, den Argumentationslinien sehr gut folgen kann. Das „Feindbild Islam“ ist Teil der Konstruktion des „Wir“ des heutigen Westens. Der NATO war mit dem Abtreten der Sowjetunion von der Bühne der Weltgeschichte der altböse Feind abhanden gekommen. Eigentlich hätte sie sich auflösen müssen. Nun schuf sie sich mit dem Islamismus den neuen großen Feind, der zugleich den Vorwand abgab zum „Krieg gegen den Terrorismus“, den der vormalige US-Präsident George W. Bush ausgerufen hatte, um seine völkerrechtswidrigen Kriege zu führen.
Der US-Politologe Samuel P. Huntington hatte mit dem „Kampf der Kulturen“ die ideologische Folie geliefert, auf der die Feindbilder entwickelt werden konnten, die heute bis in unsere Bespitzelung im Alltag reichen. Da der Rassismus biologistischer Prägung mit dem deutschen Nationalsozialismus verunmöglicht war, lieferte Huntingtons kulturalistische Unvereinbarkeits-Theorie die Grundlage für die dauerhafte Abwertung der anderen, nicht-westlichen Kulturen und der in ihnen lebenden Menschen, vor allem des Islam und der Muslime. Der anhaltende Streit darum, ob sie denn nun „zu Deutschland“ gehören, oder nicht, ist ein Kennzeichen dessen.
Der Islam steht im „Kampf der Kulturen“ stellvertretend für die Bedrohung „des Westens“ durch „die Anderen“. Tatsächlich verbraucht „der Westen“ mit nur zwölf Prozent der Weltbevölkerung über 80 Prozent der weltweiten Ressourcen, ihm steht „der Rest“ – Originalton Huntington – der Menschheit unversöhnlich gegenüber. Dazu Ruf: „Genau dies dürfte der Grund sein, warum die großartigen Errungenschaften des Westens, Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, für diesen Rest nicht gelten dürfen. Damit dies funktionieren kann, muss aber dieser Rest entmenschlicht werden.“ Das ist die nicht nur ideologische, sondern politische Funktion des „Feindbildes Islam“. Da die globalen Ressourcen nicht für alle reichen, wenn sich die derzeitige Lebensweise des Westens ausdehnt, muss diese Lebensweise eben gegen „die Anderen“ verteidigt werden. Allerdings nennt es Ruf „grotesk“, dass „im Zeitalter der Globalisierung […] der Internationalisierung des Kapitals die Ethnisierung und damit letztlich die Fragmentierung der Gesellschaft als Gegenstrategie entgegengesetzt wird“. Das ist nicht grotesk, sondern Moment der Herrschaftsstrategie des Kapitals: Wenn es selbst weltweit vernetzt ist, die Gegenkräfte aber kulturalistisch fragmentiert sind, herrscht es sich umso besser.
Zu den besonderen Vorzügen des Bandes gehört, dass Werner Ruf die Akteure der Islamhetze in Deutschland detailliert namhaft macht. Dazu gehören Thilo Sarrazin, Henryk M. Broder, Ralph Giordano, CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt, Alice Schwarzer, die „Antideutschen“ und die extreme Rechte. Gerade letztere hat „ihre enorme Chance erkannt“, die darin besteht, „demonstrativ Freundschaft und Solidarität mit Israel zu zeigen, um sich einerseits gegen den Vorwurf des Faschismus zu verwahren und andererseits umso vehementer den Hass auf den Islam predigen zu können“. Das hat zu dem Phänomen geführt, dass die Islamhetze, die sich „inzwischen in die Poren der Gesellschaft eingenistet“ hat, heute das gesamte Spektrum der alten antisemitischen Vorurteile abdeckt, „die da reichen von ,kultureller Fremdheit’, oder der ,Nicht-Integrierbarkeit’ bis zum ,Sozialschmarotzertum’.“
Das Fazit bei Werner Ruf lautet: „In der globalisierten und daher multikulturellen Welt sind Frieden und Sicherheit im innerstaatlichen wie im internationalen Bereich nur dann zu gewährleisten, wenn […] im globalen Haus Gerechtigkeit herrscht“.

Werner Ruf: Der Islam – Schrecken des Abendlands. Wie sich der Westen sein Feindbild konstruiert. PapyRossa Verlag Köln 2012, 129 Seiten, 9,90 Euro