von Heerke Hummel
Nach John Reed waren es vor allem zehn Tage, die vor nunmehr 95 Jahren die Welt erschütterten. Dieser Aussage des amerikanischen Journalisten und Arbeiterführers, der die Oktoberrevolution in Russland – Beginn am 7. November, nach dem Gregorianischen Kalender – hautnah miterlebte und auch Lenin kennen lernte, ist auch heute, in Kenntnis des dann folgenden Verlaufs der Weltgeschichte, nicht zu widersprechen. Aber was würde ihm und den führenden Akteuren der großen Welterschütterung alles durch den Kopf gehen, könnten sie aus dem Grabe steigen und erfahren, was aus ihrem damaligen Werk der „zehn Tage“ geworden ist? Sie fühlten sich als Erben und Vollstrecker des philosophisch-politischen Werkes von Karl Marx. Der hatte 1845 in seinen „Thesen über Feuerbach“ angemahnt, die Philosophie möge die Wirklichkeit nicht nur anschauend, betrachtend erfassen, sondern sie – wie er es in seiner neuen, dialektisch-materialistischen Weltanschauung tat – praktisch tätig werdend zu ihrem Betätigungsfeld machen. Prägnant formuliert wird das in der berühmten 11. These: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.“
Karl Marx, dessen Standpunkt „die menschliche Gesellschaft, oder die gesellschaftliche Menschheit“ (These 10) war, schlussfolgerte aus seiner ökonomischen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ auf die historische Mission des Proletariats, seine Klassendiktatur zu errichten und im Ergebnis einer revolutionären Umwälzung der Produktionsverhältnisse, insbesondere der Eigentumsverhältnisse, eine neue Gesellschaftsordnung mit einer neuen, gesellschaftlichen Produktionsweise – im Unterschied zur alten, privat-kapitalistischen – zu schaffen. Für die Erfüllung dieser Mission schien Lenin der Zeitpunkt gekommen zu sein, nachdem die Völker Europas in dem schlimmsten aller bisherigen Kriege dem Kapital einen dreijährigen Blutzoll geleistet hatten und russische Soldaten kriegsmüde die Schlachtfelder verließen.
Heute, fast hundert Jahre danach, scheint der dann folgende sieben Jahrzehnte lange Kampf der Völker des ehemaligen Zarenreiches gegen eine ungeheure kapitalistisch-imperialistische Übermacht, scheinen alle Not und das ganze Elend, alle Entbehrungen einer verzweifelten ökonomischen und militärischen Aufholjagd vergeblich gewesen zu sein. Denn die da in Russland immer schon gelitten hatten und nach der Oktoberrevolution weiter gelitten haben, sie sehen sich nun, nach jener nochmaligen Umwälzung vor rund zwanzig Jahren, in der gleichen sozialen Situation wie ihre „Klassenbrüder“ in der westlichen Welt – als Diener und Ausbeutungsopfer einer herrschenden Oberschicht von Reichen.
Deren Charakterisierung als Kapitalisten allerdings wäre in Eurasien wie in Amerika gleichermaßen irreführend, weil sie auf gesellschaftliche Bedingungen hinwiese, wie sie zu Zeiten von Marx und Engels gegeben waren. Heute aber leben wir in einer gründlich veränderten Welt, die auf eine neue Art und Weise produziert und kommuniziert. Die heutige Gesellschaft verfügt über völlig neue Produktivkräfte, die die Kooperation auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, bis hin zu den Eigentumsbeziehungen, internationalisiert und so „ganz nebenbei“ zu einer grundlegenden Umgestaltung des weltweiten Geld- und Finanzsystems geführt haben, das seinerseits eine Wesensänderung erfahren hat. Das Geld selbst ist keine Ware, kein Wertgegenstand mehr, sondern drückt, egal ob als Banknote oder elektronisches Medium, Recht auf Teilhabe am realen, sachlichen Reichtum der Gesellschaft aus. Verändert hat sich somit auch das Wesen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse.
Das Proletariat hat, entgegen der Erwartung von Karl Marx, diese Veränderung in der Ökonomik nicht herbeigeführt. Zurückzuführen ist der Wandel vor allem auf die Leistungen einer seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen, ganz neuen gesellschaftlichen Kraft, deren Bedeutung von den kommunistischen Führungen des Ostens völlig ungenügend erkannt und gewürdigt wurde, weil man bis zum Ende des so genannten Sozialismus vor rund zwei Jahrzehnten nicht bereit war, Theoreme des „Wissenschaftlichen Sozialismus“ infrage zu stellen. Die verändernde Kraft war die wissenschaftlich-technische Intelligenz. Sie fand in den bürgerlichen Verhältnissen mit ihrem eigenverantwortlichen, hoch flexiblen Unternehmertum optimale Wirkungsbedingungen.
Die späten Reformen im Osten waren die Folge eines Umdenkens in den Partei- und Staatsführungen zunächst Chinas und dann der UdSSR, eines Lossagens von bisherigen realitätsfernen Dogmen. Sie orientierten sich nicht mehr an philosophischer Theorie, sondern an ganz praktischen Erfordernissen, und dienten ihrem Wesen nach dazu, im Osten die im Westen bestehenden ökonomischen Verhältnisse weitestgehend zu kopieren; wobei allerdings die staatliche Zentralmacht erhalten wurde, die gewillt und in der Lage ist, gravierende ökonomische Prozesse wirtschafts- und finanzpolitisch im nationalen Interesse zu steuern. Ihr Ziel ist offensichtlich nicht mehr die Gestaltung einer „besseren“ Gesellschaftsordnung (mit weitgehender kollektiver Gleichheit), sondern die Erreichung einer globalen ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit im nationalen beziehungsweise regionalen Interesse.
In der westlichen Hemisphäre hatte schon 20 Jahre vor dem Zusammenbruch des Ostblocks ebenfalls ein Staatsmann eine Reform mit weltweiten Folgen ausgelöst, die allerdings nur als kurzes Gewitter an den Finanzmärkten wahrgenommen wurde, schnell wieder vergessen war und in ihrer theoretischen wie praktischen Bedeutung bisher offenbar unverstanden blieb. Es war US-Präsident Richard Nixon. 1971 kündigte er das Abkommen von Bretton Woods aus dem Jahre 1944, indem er die Konvertibilität des US-Dollars in Gold aufhob und damit das internationale Währungs- und Finanzsystem revolutionierte, respektive ihm seinen privaten Charakter nahm. Sein Entschluss entfesselte den Finanzmarkt, dessen Irrsinn die Welt seit nunmehr vier Jahren ununterbrochen in Atem hält, ohne Aussicht darauf, dass es den derzeit amtierenden Regierungen gelänge, das Chaos zu beherrschen.
Als Nixon 1971 seine Entscheidung traf, tat auch er es weder aus philosophischer noch aus geldtheoretischer Einsicht, sondern auf Anraten seines Beraters Paul Volcker und einzig und allein der äußersten Not gehorchend mit dem Ziel, die immensen Goldreserven seines hoch überschuldeten Staates vor dem Zugriff der Gläubiger in aller Welt zu schützen. Weder er noch sein Berater und die Welt verstanden, was er da tat und was da eigentlich geschah, welche Konsequenzen die Maßnahme haben musste. Hätten sie es gewusst, so hätte das Finanz- und Wirtschaftsrecht, hätten eigentlich sogar die Verfassung, der USA und ihrer damaligen Verbündeten neu geschrieben werden müssen, um das Funktionieren des in seinem Wesen neu gestalteten Wirtschaftssystems zu gewährleisten.
Doch ohne Kenntnis und tiefes Verstehen der Marxschen Theorie vom Warenaustausch und vom Geld, ohne ein Weiterdenken auf dieser Grundlage, sind theoretische Einsicht und praktische Beherrschung des ökonomischen Systems der Gegenwart kaum möglich und schon gar nicht zu erwarten. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble brachte es erst kürzlich zu wiederholtem Male mit der Feststellung auf den Punkt, man arbeite nach der Methode „Versuch und Irrtum“.
Schlagwörter: Bretton Woods, Heerke Hummel, Kapitalismus, Karl Marx, Richard Nixon, Sozialismus