von Herbert Bertsch
Jede halbwegs gute Geschichte hat eine Vorgeschichte. Die kann ihrerseits – rein zeitlich, wie im vorliegenden Falle – auch eine Nachgeschichte sein, die selbst wiederum mit weiteren Geschichten, respektive Vorgeschichten verwoben ist. Ergo mal wieder: Alles hängt mit allem zusammen.
Es war im März dieses Jahres, dass sich im Forum des Blättchens ein Disput ergab, in dem unter anderem die Auffassung vertreten wurde, dass es im kalten Krieg „aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zum 3. Weltkrieg gekommen“ wäre, weil selbst in der Kuba-Krise vom Oktober 1962, „der wohl gefährlichsten Situation im Verlauf des kalten Krieges, […] die Spitzenpolitiker der beiden Weltmächte doch recht vorsichtig agierten, wenn es einmal richtig brenzlig wurde“. So kann man die Geschichte im Nachhinein sehen, gemäß dem dritten Gebot der zehn kölschen Grundregeln: „Et hätt noch immer joot jejange“. Zu bezweifeln bleibt dennoch, ob die beiden Weltmächte USA und UdSSR als „Herren der Lage“ während der Krise die Dinge tatsächlich hinreichend unter Kontrolle hatten, um sie jederzeit lenken zu können, oder ob es die Welt nicht vielmehr einer Verkettung günstiger Umstände verdankt, dass sie zwar am Abgrund stand, aber nicht darin versank. Schließlich liegt inzwischen ja eine Fülle von Unterlagen und Äußerungen, auch von damaligen Akteuren, vor, die ziemlich eindeutig die Glücksvariante bestätigen, nicht selten mit Grauen vor der Alternative.
Mir zuckte es in allen Tippfingern, in den Forum-Disput selbst ein Zitat von Gewicht einzustreuen, aber ich hatte nur eine Hören-Sagen-Quelle, der ich zwar traute, nämlich mich, aber das musste ja nicht jeder. Deshalb unterließ ich es lieber.
Doch „plötzlich und unerwartet“ kam jetzt der Zufall ins Spiel und lässt mich die Zurückhaltung aufgeben. Am 9. Oktober zeigte das ZDF eine Dokumentation mit dem Thema „Am Rande des Atomkriegs – Kampf um Kuba und Berlin“*. Der Film stammte, wie dem Abspann zu entnehmen war, zwar bereits aus dem Jahre 2002, aber ich sah ihn jetzt zum ersten Mal. Er war, nach bestem History-Wirkmuster, mit in Szene gesetzten Zeitzeugen angereichert. Besonders gewichtig dabei: der Sohn Chruschtschows, Sergej. Dieser – geboren 1935, seit 1991 Professor für Politische Wissenschaften in den USA und seit 1999 deren Staatsbürger – ist inzwischen ein Hauptzeuge für Innersowjetisches. Bei der in solchen Dokumentationen üblichen Machart könnte man hier den Eindruck gewinnen, Vater Nikita habe alle wichtigen Staatsaktionen eigentlich zu Hause beraten – mit Sohn Sergej und Tochter Rada, ihrerseits dann Frau des Iswestija-Chefredakteurs Alexej Adschubej, seinerzeit häufig Emissär des Schwiegervaters nach Bonn und – wichtiger als möglicherweise vermutet – zum Vatikan. Das war vielleicht nicht ganz unbedeutend für die Auflösung der Kubakrise, wegen möglicher Beihilfe seitens Papst Johannis XXIII.
In der ZDF-Dokumentation tritt ein illusteres Aufgebot ihrer Position nach wirklicher Akteure auf der US-amerikanischen Gegenseite hinzu. Und in diesem Reigen der Ereigniszeugen erschien nun auf dem Bildschirm jener Mann und sprach aus, was ich im Forum zitieren wollte, aber ohne belegbare Authentizität nicht wagte: „Wir standen so nah am nuklearen Abgrund. Wir haben den Atomkrieg nicht durch kluges Management verhindert, wir hatten Glück.
Der Zeitzeuge: Robert McNamara, seinerzeit – als liberaler Republikaner beim Demokratischen Präsidenten Kennedy – Verteidigungsminister der USA. Er brachte hier die gleiche Wertung zum Ausdruck, die er mir gegenüber bereits 27 Jahre zuvor in einem persönlichen Gespräch geäußert hatte, anlässlich einer Pugwash-Tagung in Genf. Das Datum ist mir in Erinnerung geblieben: Es war der 15. Mai 1985. McNamara empfahl bei dieser Gelegenheit nachdrücklich, den Vormächten der Blöcke nicht die von ihnen als selbstverständlich wahrgenommene Alleinvertretung zu überlassen, wenn andere Staaten durch deren nukleare Planungen und reale Vorbereitungen des Einsatzes nuklearer Waffen in Mega-Größenordnungen zunächst in Haftung genommen und im Falle des Falles zu Opfern gemacht würden. So hielt er es nachträglich auch für einen wesentlichen Fehler, dass seine Administration in der Kubakrise die Verbündeten nicht konsultiert hätte, was allerdings auch Zeitgründen und zusätzlich dem allgemeinen Durcheinander in Washington geschuldet gewesen sei. Aus strategischer Sicht plädiere er zwar grundsätzlich für zentrale Entscheidungsstrukturen, aber im Vorfeld einer heftigen Krisensituation bedürfe es schon nicht nur formeller Abstimmung mit den Partnern.
Die letztere Äußerung erfolgte auf meine Nachfrage, ob ein Zwei-Schlüssel-System nicht zumindest die Lösung für auf fremden Territorien stationierte Kernwaffen sein könne; das beträfe, „rein theoretisch“ natürlich, auch das Verhältnis UdSSR-DDR. McNamara setzte dagegen, dass sein Land und die Sowjetunion gerade aus der Kubakrise die Folgerung gezogen hätten, so etwas ernstlich nicht zu praktizieren, was ethisch allerdings problematisch bliebe. Ergo, so schloss er, solche Situationen zu verhindern, sei die eigentliche Aufgabe, zu der wir uns ja auch hier im Rahmen von Pugwash zusammengefunden hätten.
Der Kern unseres Gesprächs, das sich zufällig entwickelt hatte, weil McNamara zunächst wohl nur wissen wollte, woher ich kam, drehte sich übrigens um das Hauptanliegen der Pugwash-Bewegung: Abrüstung – 1985 stand die Verhinderung von weiterer nuklearer Aufrüstung im Fokus – ist nicht die übergeordnete Lösung für grundlegende politische Probleme; umgekehrt wird ein Schuh daraus – die Lösung politischer Grundprobleme eröffnet die Wege zu effektiver Abrüstung, wodurch zugleich politische Lösungen fundiert und dauerhafter würden. Dahinter stand auch die vor allem im Westen gängige Auffassung von Nuklearwaffen als „politischen Waffen“ in dem Sinne, dass sie Abschreckung erzeugen und damit nach verbreiteter Auffassung kriegsverhindernd wirkten. Meinen Hinweis auf die damalige aktuelle DDR-Position: „Das Teufelszeug muss weg“ billigte McNamara, verwies aber zugleich darauf, dass die DDR selbst ja „nichts hat“ und in keine strategische Entscheidung eingebunden sei; dass sie also in der Konsequenz nur auf die Sowjetunion einwirken könne und müsse, damit die Atommächte ihr Potenzial reduzieren und zumindest ihre Stationierungsstandorte weniger aktionsdrohend wählten. Deutschland als Territorium sei in Kerneuropa dafür ein aktuelles „theatre“. Er benutzte dabei aber weder den Zusatz „of war“ noch „of operations“.
Zu uns gesellte sich ein weiterer Teilnehmer. Wie sich herausstellte, waren die beiden anderen miteinander bekannt und schon des Öfteren bei solchen Konferenzen zugegen. Für mich war das neues Terrain: erwartet anspruchsvoll, von hoher gegenseitiger persönlicher Achtung und Nähe geprägt, nichts und niemand wirkte elitär. Um eine Einladung konnte man sich übrigens nicht selbst bewerben; es bedurfte dafür der Empfehlung von ständigen Teilnehmern. Dann aber war man in diese Begegnungen voll integriert – immer als Person, nicht als Vertreter seines Staates und schon gar nicht seiner Regierung.
McNamara verließ uns mit der Bemerkung, nun könnten wir deutsch miteinander weiterreden. (Einer Auflistung von Max Klein in einem Blättchen-Beitrag in der Ausgabe 21/2011 ist zu entnehmen, dass es zwischen 1958 bis 1990 insgesamt 37 Teilnehmer aus der DDR und 148 aus der Bundesrepublik gab.)
Zwischen meinem neuen Gesprächspartner und mir ging es zunächst weiter um das damals aktuellste Thema der sich zwischen Ost und West aufschaukelnden nuklearen Rüstungen in Zentraleuropa. Dabei kamen wir auch auf den speziellen Aspekt der nuklearen Gefechtsfeldwaffen mit kurzer Reichweite, die sich auf folgenden Nenner bringen ließen: „Je kürzer die Reichweiten, desto deutscher die Toten.“ Dazu hatten wir keinen Dissens. (Der Spiegel – 13/1985 – schriebt die Urheberschaft an diesem Satz Erich Honecker zu. Gebraucht wurde er dem Magazin zufolge – 19/1985 – aber auch von SED-Politbüro-Mitglied Hermann Axen bei seinem USA-Besuch Anfang Mai 1988.)
Wir machten uns namentlich bekannt und bekundeten Interesse, miteinander gelegentlich weiter zu reden. Doch wo und wie? Selbst eine Einladung dafür auszusprechen, fiel meinem Gesprächspartner sichtlich schwer. Ich versuchte, der Sache mit einem Angebot meinerseits zum Besuch bei mir in „Ostberlin“ eine Perspektive zu geben. Da „enthüllte“ mein Gesprächspartner in soldatischer Offenheit, er unterliege einem absoluten Verbot, auch nur einen Schritt über die Grenze nach Osten zu machen. Als ich ihn fragend ansah, erklärte er sich: Er sei zeitweilig Chef des MAD gewesen und jetzt Leiter des Amtes für Studien und Übungen der Bundeswehr, beides Positionen der höchsten Sicherheitsstufe.
So begann und endete – zusätzlich zum Gespräch mit Robert McNamara (wir tauschten später noch handschriftlich Anschrift nebst mündlicher Einladung, falls …) – seinerzeit meine Begegnung mit dem ehedem jüngsten Flottillenadmiral der Bundeswehr, Elmar Schmähling, auf neutralem Boden und vermittels Pugwash. Schmähling sollte sich wenig später einen Namen prinzipieller Kritiker der „Falken“ und in der westdeutschen Friedensbewegung machen, und einige Jahre hernach war „Ostberlin“ auch für ihn kein „No-go-Area“ mehr.
Und so endet auch die Geschichte eines Zitates, das nach 27 Jahre für mich zitierfähig wurde, ohne künftig umständlich die Geschichte drumherum erzählen zu müssen. Nur dies noch: McNamara starb am 6. Juli 2009. Wikepedia würdigt ihn so: „War McNamara früher ein Buhmann für die Linke der Vereinigten Staaten, so wandelte er sich in seinen letzten Lebensjahren zu einem pazifistischen Vorbild.“
* – In der Mediathek des ZDF zu finden unter: www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1749396/Am-Rande-des-Atomkriegs#/beitrag/video/1749396/Am-Rande-des-Atomkriegs.
Schlagwörter: Elmar Schmähling, Erich Honecker, Herbert Bertsch, Kuba-Krise, Max Klein, Pugwash, Robert McNamara