15. Jahrgang | Nummer 20 | 1. Oktober 2012

Über Linke und DIE LINKE

Nachfolgend dokumentieren wir je einen Beitrag von Oskar Lafontaine und von Hans-Dieter Schütt, wobei zweiterer den ersteren zum Anlass nimmt – wenn auch nicht, um sich inhaltlich mit ihm auseinanderzusetzen.
Beide Beiträge weisen die Autoren nach Meinung der Redaktion als Meister der analytischen Bestandsaufnahme aus, was nicht heißt, dass die Redaktion jede vorgetragene Einschätzung oder Wertung samt den jeweiligen Begründungszusammenhängen teilt. Die Veranlassung der Dokumentation an dieser Stelle ist vielmehr: Wenn denn die gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse so sind, wie sie Lafontaine konstatiert, und wenn der Zustand der Partei DIE LINKE so ist, wie Schütt meint, – aus Sicht der Redaktion bestehen vom Grundsatz her keine Zweifel an der Richtigkeit beider Befunde –, dann lautet die entscheidende Frage,
w i e ein gesellschaftlicher Wandel hin zu einer Abschaffung des Finanzkapitalismus und zu einer Vergesellschaftung der großen Wirtschaftsvermögen (Lafontaine) samt aller sich damit ergebenden Möglichkeiten für eine humanere, solidarische und nachhaltige Gesellschaft denn je vollzogen werden könnte bzw. d u r c h  w e n? Vor dieser Frage drücken sich beide Autoren, wobei der Vorwurf stärker an die Adresse Lafontaines geht, da die ganze Anlage des Schüttschen Beitrages nicht klar erkennen lässt, ob er sich diese Frage überhaupt stellt.
Am Beginn der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise hatte das Leib- und Magenblatt der Hochfinanz,
The Economist, im Oktober 2008 vermerkt: „Der Kapitalismus ist das beste Wirtschaftssystem, das die Menschen bisher erfunden haben. Aber auf lange Sicht hängt sehr viel davon ab, wem die Schuld für die gegenwärtige Katastrophe zugeschrieben wird.“ Zwei Jahre später, im September 2010, gab das Blatt eine Antwort, die das System exkulpierte und somit ganz nach dem Geschmack der Hochfinanz sein dürfte: „Schuld sind die Leute, die das System betreiben, und nicht das System selbst.“ Ob The Economist und seinesgleichen mit dieser Antwort auf lange Sicht (wieder einmal) durchkommen, wird maßgeblich davon abhängen, ob die beiden im vorangegangenen Absatz formulierten Fragen „Wie?“ und „Durch wen?“ beantwortet werden. Und nochmal: Keine Antwort in den nachfolgenden Beiträgen geben beide Autoren. Das muss aber nicht zwangsläufig heißen, dass es grundsätzlich oder auch nur zurzeit keine gäbe. Hierzu wären Diskussionsbeiträge daher mindestens so spannend wie – mehr noch: notwendiger als weitere Bestandsaufnahmen.

Die Redaktion

Warum die Linke oft recht hat, es aber nur selten bekommt

von Oskar Lafontaine

Als Charles Moore und Frank Schirrmacher vor einem Jahr ihre Artikel „I’m starting to think that the Left might actually be right“ und „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ veröffentlichten, keimte bei manchem die Hoffnung auf, dass die politische Linke in Europa erstarken würde. Häufig wurde die Frage gestellt, warum die europäische Linke bei Wahlen von der Finanzkrise nicht stärker profitiere. Zur Linken zählte Charles Moore in seinem Aufsatz ausdrücklich nicht die Labour Party Tony Blairs und Gordon Browns.
Und sicher wäre es ihm ebenso wenig in den Sinn gekommen, die SPD Gerhard Schröders und Sigmar Gabriels zur Linken zu zählen. Er dachte überhaupt nicht an linke Parteien. Vielmehr wollte er linke Ideen bürgerlichen Ideen gegenüberstellen, ohne dass er in seinem Artikel näher erläuterte, welche Ideen er als links bezeichnen würde. Aus seinem Essay ist aber eindeutig abzuleiten, dass zur Linken, nach seinem Verständnis, nur jemand gehört, der das heutige System grundsätzlich in Frage stellt.
Ein System, das nur der Minderheit der Reichen dient, kann auch nicht Demokratie genannt werden, wie Perikles schon vor mehr als zweitausend Jahren feststellte: „Der Name, mit dem wir unsere politische Ordnung bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern der Mehrheit gehandhabt werden.“ Wenn die etablierten europäischen Parteien trotz der Diktatur der Finanzmärkte, trotz sinkender Löhne, Renten und sozialer Leistungen immer noch von Demokratie sprechen, müssen sie ein anderes Verständnis von Demokratie haben.

Eigentum entsteht durch eigenes Tun

Der Aufklärer Rousseau verbreitete zu seiner Zeit einen weiteren Grundsatz, der heute zum Kernbestand linker Ideen gehört: „Entre le fort et le faible, c’est la liberté qui opprime et c’est la loi qui libère“ (Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit). Jahrzehnte der Deregulierung haben der Welt die Diktatur der Finanzmärkte beschert. Doch obwohl der Ruf nach Regeln und Gesetzen, die die Finanzmärkte in die Schranken weisen und der Demokratie wieder Raum verschaffen sollen, immer lauter wird, sind die Starken – sprich die Banken – so mächtig geworden, dass die Regierungen und Parlamente Gesetze zum Schutze der Schwachen, also der Mehrheit der Bevölkerung, nicht mehr durchsetzen können.
Vor Rousseau hatte sich der englische Philosoph und Aufklärer John Locke mit der zentralen Frage gesellschaftlicher Ordnungen befasst. Was ist und wie entsteht Eigentum? Auf diese Frage beispielsweise suchen wir in unserem Grundgesetz, das das Eigentum garantiert, vergeblich eine Antwort. Locke schrieb: „Eigentum an materiellen Dingen wird durch Arbeit des Körpers und der Hände erschaffen, somit wird auch geistiges Eigentum durch geistiges Arbeiten erschaffen.“ Auch wenn Locke später, aus seiner Zeit heraus verständlich, die Ansammlung großer Vermögen, also eine kapitalistische Eigentumsverteilung, rechtfertigte, so formulierte er doch den zentralen Gedanken der linken Gesellschaftstheorie: Eigentum entsteht durch eigenes Tun, durch eigene Arbeit und nicht dadurch, dass man andere für sich arbeiten lässt.
Selbst wenn man bei der Einkommensverteilung und damit der Vermögensverteilung leistungsgerechte Unternehmer- und Erfinderlöhne befürwortet, so bleibt die Linke dabei: Was gemeinsam erarbeitet wurde, muss wieder gemeinsames Eigentum werden. Große Wirtschaftsvermögen können daher nicht Privateigentum, sondern nur Gemeinschafts-, das heißt öffentliches oder Belegschaftseigentum sein.

Wer Vermögen hat, vermag etwas

Perikles, Rousseau und Locke formulierten drei zentrale Grundsätze der politischen Linken: In einer demokratischen Gesellschaft müssen sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen; der Schwache braucht Gesetze, um frei sein zu können; Eigentum entsteht durch eigene Arbeit und nicht dadurch, dass man andere für sich arbeiten lässt. Warum sind diese Ideen in unserer heutigen Gesellschaft immer noch nicht verwirklicht? Drei große Hindernisse stehen dem entgegen. Sind ungerechte Eigentums- und Vermögensstrukturen erst einmal aufgebaut, dann führen sie dazu, dass sich auch die daraus resultierende undemokratische Machtverteilung immer weiter verstärkt. Wer Vermögen hat, vermag etwas.
Und wer ein großes Vermögen hat, kann viel bewegen und großen politischen und gesellschaftlichen Einfluss geltend machen. Er kann auch die öffentliche Meinung manipulieren, wie der von Charles Moore in seinem Artikel erwähnte Fall des Verlegers Murdoch zeigt. Wenn dieser sich brüstete, dass er mit seiner Medienmacht Wahlen entscheiden könne, dann wurde er zum unfreiwilligen Kronzeugen dafür, dass große Vermögen mit einem demokratischen Gesellschaftsaufbau nicht zu vereinbaren sind. Der Gründungsherausgeber der F.A.Z., Paul Sethe, schrieb schon vor Jahren: „Pressefreiheit ist in Deutschland die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ Heute würde er eher von zwanzig reichen Leuten sprechen.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass große Vermögen die Demokratie untergraben, ist der Einfluss der Geldhäuser auf Politik und Gesellschaft. Auch das ist nicht neu. In seinem Roman „Früchte des Zorns“ schildert John Steinbeck 1939 das Schicksal überschuldeter Farmer, die im Auftrag der Banken von ihrem Land vertrieben werden. Zur Rolle der Geldhäuser heißt es dort: „Die Bank ist etwas ganz anderes als Menschen. Jeder Mensch in der Bank hasst das, was die Bank tut, und doch tut die Bank es. Die Bank ist mehr als Menschen sind…Sie ist ein Ungeheuer. Menschen haben sie zwar gemacht, aber sie können sie nun nicht mehr kontrollieren.“

Wall Street finanziert Präsidenten-Wahlkampf

Das klingt erstaunlich aktuell. Hier finden wir die erste Antwort auf die Frage, warum linke Ideen sich in einer Gesellschaft nur schwer durchsetzen. Vermögens- und Machtstrukturen erneuern und verstärken sich und stehen den als notwendig erkannten gesellschaftlichen Veränderungen wie ein scheinbar unüberwindliches Hindernis gegenüber. Heute rennt nicht nur die Linke gegen diese Mauer an. Auch die Staats- und Regierungschefs der großen Industriestaaten erfahren, dass ihre 2008 nach der Lehman-Pleite bekundete Absicht, die Finanzmärkte zu regulieren, an der wirklichen Machtverteilung in der Gesellschaft scheitert.
Immer noch bestätigt sich, was ich als deutscher Finanzminister erfuhr, als ich Ende der neunziger Jahre vorschlug, die Finanzmärkte zu regulieren. Mitglieder der Clinton-Regierung erklärten mir lapidar, dass solche Überlegungen keine Chance hätten, da die Wall Street den Wahlkampf des Präsidenten finanziere. Vielmehr bestehe die Absicht, die in den Vereinigten Staaten seit 1932 festgeschriebene Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken aufzuheben. An dieser Abhängigkeit von der Wall Street hat sich bis heute nichts geändert. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Wort systemrelevante Bank eine ganz andere Bedeutung.
Nicht nur die realen Machtstrukturen verhindern die Umsetzung linker Reformen in den Industriegesellschaften. Entscheidender ist, dass die Denk- und Urteilsstrukturen, denen wir unterworfen sind, der geistige Überbau dieser Machtverhältnisse sind. Man muss nicht auf das Kommunistische Manifest zurückgreifen: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse“, sondern man muss nur seinen Goethe kennen: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, dass ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Der herrschende Zeitgeist wird täglich durch die Sprache erneuert und befestigt.

Sprache verstärkt Macht des Bestehenden

Wer die Begriffe prägt, bestimmt das Denken. Genau an dieser Stelle muss der vieldiskutierte Aufsatz von Charles Moore ergänzt und vertieft werden. Er schrieb: „Die Stärke der Analyse der Linken liegt darin, dass sie verstanden haben, wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern.“ Dem ist zuzustimmen. Stets im Hinterkopf aber muss man haben, was Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ über die Bedeutung der Sprache für die gesellschaftliche Entwicklung geschrieben haben: „Es gehört zum heillosen Zustand, dass auch der ehrlichste Reformer, der in abgegriffener Sprache die Neuerung empfiehlt, durch Übernahme des eingeschliffenen Kategorienapparats und der dahinter stehenden schlechten Philosophie die Macht des Bestehenden verstärkt, die er brechen möchte.“
Es gibt unzählige Beispiele für eine abgegriffene Sprache, die die Macht des Bestehenden verstärkt. Wenn die Gewerkschaften die Arbeitgeber auffordern, den Arbeitnehmern bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen einzuräumen, sprechen sie schon die Sprache der Unterwerfung. Man kann es drehen und wenden, wie man will. Der Arbeitgeber ist eben kein Arbeitgeber, sondern ein Arbeitnehmer, der die Arbeit der Beschäftigten nimmt und sie zur Gewinnerzielung verwertet.
Ein Beispiel unserer Tage für die Macht der Begriffe ist, dass das Wort Bankenkrise aus dem öffentlichen Diskurs über die sogenannte Euro-Krise verschwunden ist. Stattdessen wird nur noch von der Staatsschuldenkrise gesprochen. Der Bankenlobby ist es wieder einmal gelungen, die Politik auf die falsche Spur zu setzen. Die Folge ist, dass statt einer Zerschlagung der Großbanken und einer strengen öffentlich-rechtlichen Regulierung der Geldhäuser eine Demokratie zerstörende und ökonomisch kontraproduktive Austeritätspolitik zur Lösung der vermeintlichen Staatsschuldenkrise verordnet wird. Zeitgeist, Sprache, Begriffsapparat und die realen Machtstrukturen stehen also der Durchsetzung linker Reformen im Wege.

Linke wirkt wie aus der Zeit gefallen

Einen weiteren entscheidenden Hinweis zur Beantwortung der Frage, warum linke Ideen sich nicht durchsetzen, gibt Frank Schirrmacher in seinen Überlegungen. Er spricht von der Verhunzung und Zertrümmerung christlicher Ideale und der Zerstörung bürgerlicher Werte. Schon vor Jahren schrieb der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Rolf E. Breuer: „Die gegenwärtige Struktur der globalen Finanzmärkte spiegelt den Wertekanon der westlichen Industriegesellschaft wider.“ Verantwortungslosigkeit, Maßlosigkeit, Untreue, Betrug und Selbstsucht gehören demnach zum Wertekanon unserer Zeit.
In besonderem Maße ist die Linke von diesem Werteverfall betroffen. Hat sie sich doch von Anfang an als Widerstandsbewegung gegen die Zerstörung von Zusammenhalt, Gemeinsinn, Solidarität und Nächstenliebe in der Gesellschaft verstanden. In einer Gegenwart, die von den „Werten der Finanzmärkte“ bestimmt ist, wirkt die Linke mit ihrem Eintreten für mehr Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität wie aus der Zeit gefallen. Ist damit die Frage, warum linke Ideen sich in den Gesellschaften nicht durchsetzen und warum linke Parteien in der heutigen Finanzkrise nicht stärker profitieren, abschließend beantwortet?
Zu früh freuen sollten sich die Jünger des Zeitgeistes nicht. Bekanntlich entsteht eine revolutionäre Situation dann, wenn die da unten nicht mehr wollen und die da oben nicht mehr können. In Griechenland erklärt sich so der Wahlerfolg der Linken. Bei uns spricht sich immer mehr herum, dass die da oben schon lange nicht mehr können. Zu viele aber, die in Deutschland nicht mehr wollen, gehen einfach nicht mehr zur Wahl. Würden diese Nichtwähler stattdessen Parteien, die linke Ideen vertreten, zur Mehrheit verhelfen, dann müsste eine linke Regierung systemüberwindende Reformen in Angriff nehmen, die die heutigen Machtstrukturen verändern.
Voraussetzung dafür wäre, dass die Linke weit mehr als bisher ihre eigenen Begriffe und ihre eigene Sprache entwickelt, um den Boden für wirkliche Reformen zu bereiten. Und der Verhöhnung und Zerstörung ihrer Ideale muss sie die Überzeugung entgegensetzen, dass es Werte gibt, die man nicht kaufen kann, und dass genau diese Werte dem menschlichen Leben die Würde geben.

Aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.09.2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.

 

LINKS

von Hans-Dieter Schütt

Vor Tagen veröffentlichte Oskar Lafontaine in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einen Essay zur Frage, warum linke Ideen sehr oft recht haben, aber im Betriebsfluss der Politik so selten recht bekommen, woher demnach der Umstand rührt, dass die Linke produktive Vorschläge zur Verbesserung der Gesellschaft präsentiert, aber fortwährend unterlaufen wird von Techniken der Arroganz.
Der Text benutzt auf gelingende Weise die allgemeine, grobe Kennung Links so, dass sich unterschwellig, unausgesprochen, aber unweigerlich auch Assoziationen zur LINKEN ergeben, und so darf wohl gesagt werden: Lafontaine führt viele wahre Gründe an, warum der Linkspartei im öffentlichen Konfliktstreit der nötige Respekt verweigert wird – es sind stichhaltige Schuldzuweisungen in Richtung einer manipulativ gesteuerten Herrschaft des Kapitals, das Sein und Bewusstsein der Gesellschaft panzerstark besetzt und kontrolliert.
Es findet sich im Aufsatz freilich kein Verweis auf Probleme, die auf die Beschwerde führende Stimme selbst zurückzuführen wären. Kritik wird ausgeteilt, nicht geteilt. Keine Frage: So würde das jeder Politiker jeder anderen Partei ebenfalls tun. Immer die anderen! Immer die Verachtensstruktur der Übrigen! Möglicherweise liegt genau hier ein Grund, warum linke Politik – ausgerechnet in Krisenzeiten, die doch zu schreien scheinen nach radikalem Einspruch – es so schwer hat.
Denn: Man ist zwar links, im Grunde jedoch nicht anders als andere. Man feilscht in der Partei, man reibt sich personell gern auf, man palavert, man ringt um Pfründe, man kämpft um Macht, man betont Bevölkerungsnähe und ist mitunter weit entfernt. Man ist nach Kräften alternativ – innerhalb einer Fabrik für Mehrheitswerbung, die man oft genug ablehnt, aber doch dringend benötigt, um Ablehnung überhaupt betreiben zu können.
Es ist verflucht schwer, am entschiedensten gegen den Kapitalismus zu sein, wenn man doch grundlegend an ihm partizipiert. Es ist verflucht schwer, irgendwo drin und gleichzeitig darauf bedacht zu sein, draußen zu bleiben. Es ist verflucht schwer, prinzipiell gegen eine interessengesteuerte Mediengesellschaft zu argumentieren und zugleich darauf zu pochen, in gerechten Anteilen in ihr vorzukommen. Es ist verflucht schwer, Volk zu erreichen, wo nurmehr Publikum ist. Verflucht schwer, sich nicht anzupassen, aber zugleich demokratisch sein zu wollen, und demokratisch zu sein bedeutet zuallererst: Anerkennung der Tatsache, dass Politik auf ständiger Suche nach möglichst populärer Zustimmung ist.
Verflucht schwer, die Regeln dieses wetterwendischen Wettbewerbs mit zu tragen, wenn man gleichzeitig den Eindruck kultiviert, die Position des a priori Guten, Gerechten, Sozialen, Richtigen zu besitzen. Verflucht schwer, mitten auf einem Markt auf Gewinne zu setzen, die nur auf Nicht-Märkten zu erringen wären. Verflucht schwer also, den Ausnahmezustand der besseren Ethik (vor den Menschen ist kein Preis gesetzt!) so zu bewahren, dass man doch auch förderlich in die Konvention des Geschachers um Konsens und Koalitionen passt.
Dass dies Massen nicht gerade anzieht – liegt es wirklich nur an der permanent antikommunistischen, antisozialistischen Attacke jenes Lagers, das bestimmte Mitglieder der Linkspartei sanft-distanziert zwar als bürgerlich bezeichnen, obwohl sie Feindeslager meinen? Noch immer vermeint man in manchen linken Entschiedenheiten eine Grundfremdheit im System zu spüren, die das Ressentiment bedient, man berausche sich an all dem, was Krisen befördert, mehr als an allem, was sie überwindet. Man produziert Vorurteile und wundert sich, dass man Vorurteilen zum Opfer fällt?
Ein Problem des Modernen ist die wachsende Verschwommenheit des Begriffs. Wenn FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher über die Linke schreibt, meint er Urkräfte jenes gestaltend Bürgerlichen, das den prosperierenden, kontrollierten und sozialen Kapitalismus zusammendenkt. Wenn Jeanskönig „Levi’s“ mit Krawall-Demo- und Occupy-Clips wirbt, nennt er das „Radical Chic“ – so wird jede Kaufentscheidung zu einem „linken Akt des Nonkorformismus“ („Financial Times“), und überhaupt gehen Rebellion und Unterhaltung gut zusammen – wie schon in den sechziger Jahren, als bei der linksintellektuellen High Society New Yorks die Mitglieder der Black Panther-Bewegung zu Special guests jeder besseren Party wurden. Die Sozialdemokratie nennt sich ebenso selbstbewusst links, wie die Linkspartei ihr dieses Etikett absprechen will und selber Raum bietet für unterschiedlichste Links-Strömungen. Philosoph Peter Sloterdijk träumt von einer neuen „Linken aus Generosität“ – von einem Linksbegriff also, der just den konkurrierend Erfolgreichen in die freiwillige Pflicht des Teilens nimmt; Fürstenerziehung heute. „Für die ganze Skala der gebenden Tugenden haben wir praktisch kein Empfinden mehr.“
Von hier ist es nicht weit zu einer Dissidenz, die das Bestehende nicht mehr nach dem alten Kampfmuster Unten gegen Oben, Markt gegen Moral kritisiert, sondern eher aus der Eingemeindung aller in ein gemeinsames Schicksal, das auf absehbare Zeit Schrecken und Hoffnung zugleich bleibt: Der Kapitalismus ist dem Augenschein nach nicht darauf angewiesen, in gegenwärtiger Form konserviert zu bleiben, er lebt zäh im Wandel, „kein Wesen ist er, sondern mächtiger als alle Wesen“ („Süddeutsche Zeitung“). Der Kapitalismus reizt das Linke zum Aufbegehren, das sich aber dann, arbeitend, „nur“ als Produktivkraft für eine stabile Mitte erweist.
Der Kapitalismus kann sogar, wie ein Blick nach China verrät, mit enormem Risiko testen, wie weit er seine Funktionstüchtigkeit zu treiben vermag, ausbeuterisch, ohne dabei Freiheit und Rechtsstaat, ohne Demokratie und Öffentlichkeit zu etablieren. (Soeben war in der FAZ zu lesen, der Chef von Pekings Parteihochschule, Xi Jinping, habe gegenüber Angela Merkel angekündigt, „die Stabilität der Parteiherrschaft mit der Selbstartikulation der Gesellschaft zu verbinden“; dies ist der gordische Knoten jeder Einparteienherrschaft, sie war bislang die einzige praktische Methode, mit der linkes Denken sich im 20. Jahrhundert, gewaltsam stets, zum Staat aufschwang – und dann freilich im Beton erstarrte).
Es ist genau die Geschmeidigkeit des Kapitalismus, die es allem Linken offenkundig so schwer macht. Denn mit Dehnbarkeit hat er alle Feindschaften gegen sich noch immer ertragen, alle linken Schattierungen dieser Feindschaft aufgesogen und sämtliche Zornesformen letztlich immer wieder besänftigt. Ob bürgerliche Demonstrationen gegen einen Bahnhofsbau, Occupy, andauernde Castor-Transport-Proteste oder sogar jener noch unsichtbare Linksterrorismus, der in Abständen in Frankreich und anderswo als Botschafter eines „Kommenden Aufstandes“ randaliert: Es sind Zeichen eines gewachsenen allgemeinen Unbehagens – das aber nicht automatisch, etwa in Deutschland, jene Linkspartei stärkt, die doch viele Forderungen nach sozialeren Verhältnissen (wie es Lafontaine in seinem Essay nachweist) lauter und rechtzeitiger als andere Parteien formuliert.
Nein, je größer die Krise des Systems, desto größer offenbar die Sorge Vieler, es könne zusammenbrechen. Menschen teilen jeden aufrührerischen Zorn, möchten aber nicht das Beben der Grundfeste erleben. Stephané Hessel, diesem grandiosen Methusalem des aktiven Unmuts, schien es geraten, seinem Pamphlet „Empört euch!“ (aufgrund der unberechenbaren Wirkung, die es hervorrufen könnte) rasch ein einbindungsbittendes „Engagiert euch!“ nachzuschicken. Wäre es wirklich nötig gewesen? Verdämmern nicht immer wieder alle Impulse, die eben noch an einen politischen Dammbruch denken ließen? Ins überspitzte Deutsche übersetzt: Man goutiert Linksentschiedenheit, wählt aber sicherheitshalber CDU. Die linke Notlüge, man vertrete zwar die Interessen der Mehrheit, müsse das aber besser „rüberbringen“ und werde allzu sehr ausgegrenzt, sie wirkt immer ungelenker: Die Interessen der Mehrheit folgen offenkundig einer Gemütstruktur, die links unbegriffen bleibt. Oder man scheitert am eigenen Defizit an Aura.
Ein Problem bleibt auch: Einerseits ist die LINKE eine Partei wie jede andere, sie diskutiert also bundespolitisch müde und mittelmäßig wie alle über Haushalt, Mindestlohn und Rentensysteme, übers Konkrete also (worin im Kommunalen freilich ihre große Stärke liegt!), andererseits aber steht sie in speziellen Gesinnungspflichten, die über die aktuelle Politik hinausgehen. Wo andere bürgerliche Parteien an der möglichst besten Verwaltung eines als gediegen und gelungen empfundenen Status quo der Gesellschaftsentwicklung arbeiten, schauen demokratische Sozialisten fortwährend auch auf neue Horizonte. Sind also Sänger eines offenen Ausgangs, der aber just in ungewissen Zeiten nur wenige Unerschütterliche zu berühren scheint. Gesinnung, stabile Weltanschauung, Klassenbewusstsein gar – das hat zudem in nachwachsenden Generationen, die das Leben als wechselhaftes, unbestimmt haltbares Projekt ansehen (müssen), kaum noch Basis; Lebenshaltung bildet sich am wenigsten in Parteien aus, die nur noch Hauswarte von Rahmenbedingungen für wachsende Formen der freien Existenzgestaltung oder der möglichst komfortablen Duldung des allgemeinen Missstandes geworden sind.
Utopietreue ist eine reizvolle und ehrenreiche Monstranz ganz Linker. Aber alles wünschenswert Bessere dieser Welt wird mittelfristig von der doch sehr pragmatischen Frage belastet bleiben, wie es gelingt, Weisheit und Einsicht auf soziale Institutionen zu übertragen und in technische Systeme einzubauen. Individuen können klug sein, Institutionen sind im günstigsten Falle gut konzipiert – an solchen Übertragungsproblemen wird sich auch die linkest vorstellbare politische Kraft abarbeiten müssen.
Der Grüne Daniel Cohn-Bendit sagte: „Nur die Kombination aus Existenzsicherung und Transformation bietet eine nachhaltige Lösung.“ Der bereits erwähnte Peter Sloterdijk in seinem jüngst veröffentlichten Tagebuch: „Das Kollektiv sollte wandlungsoffen sein wie am Vorabend einer Revolution und zugleich ruhighalten wie ein saturiertes Bürgertum.“ Der Philosoph nennt das eine nahezu tragische Situation für jede linke Kraft. Mit einer Vorstellung, das Linke sei eine Wagenburg, die sich schützend um die einzig wahre Idee vom richtigen Leben gruppiert, scheint es jedenfalls endgültig vorbei zu sein.

Aus neues deutschland, 18.09.2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.