von Helmut Donat
Als Sonja Sonnenfeld ihren 96. Geburtstag feierte, sagte sie: „Das ist doch kein Alter.“ Dabei sein, „sich einmischen“ wollte sie mindestens bis zum 100. Lebensjahr. Es war ihr zuzutrauen, aber ihr Körper machte nicht mit. Im Sommer 2010 musste sie aufgeben.
„Sonja“, wie sie sich gern anreden ließ, war weit mehr als nur eine außergewöhnliche Frau. Vor allem gab sie anderen Menschen Kraft. Wer ihr begegnete, spürte ihre Authentizität und Lebenslust, ihre Wachheit und ihre unerschöpfliche Bereitschaft, auf andere zuzugehen und ihnen zuzuhören. Kaum einer, der nicht durch ihre offene, frische und zugewandte Art etwas von ihrer Zuversicht und Lebensfreude mitgenommen hat. Noch mit 97 Jahren reiste sie von Stockholm nach Bremen und in andere Städten, absolvierte an Schulen und anderen Orten ein immenses Programm, erzählte Kindern und Jugendlichen von ihren Erlebnissen im Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik und im Dritten Reich oder setzte sich für die Erinnerung an Raoul Wallenberg ein – und fühlte sich dabei pudelwohl.
Sonja ist am 23. September 1912 im südschwedischen Malmö geboren worden. Ihr Vater war Architekt, entstammte einer russisch-polnisch-jüdischen Familie. Ihre Mutter hatte deutsche und brasilianische Vorfahren. Wenige Wochen vor Beginn des Ersten Weltkrieges siedelten sich die Eltern mit ihren vier Kindern in Berlin an. Der Vater fand keine Arbeit. Sonja dazu später: „Im Krieg braucht man keine Architekten, man baut nicht auf, sondern zerstört!“
Die Familie litt Hunger. Zwar gelang es dem Vater, im Berliner „8 Uhr-Abendblatt“ und anderen Zeitungen von ihm verfasste Artikel unterzubringen, aber leben konnte man davon nicht. Dafür erhielten die Kinder von den Eltern umso mehr Liebe. Nicht zu vergessen, den nie versiegenden Humor der Mutter und die Courage des Vaters.
Als Sonja 1918 in die Fürstin-Bismarck-Schule kam, bestand ihr Pausenbrot aus trockenem Brot. Dazu ihr Aussehen: Mager, schwarzblaues Haar, brauner Teint, eine Mischung aus – wie sie es nannte – „Neger und Zigeuner“. Ihre Klassenkameradinnen, zumeist blond und blauäugig, wollten nichts mit ihr zu tun haben, mieden sie wie eine Aussätzige. Selbst die Lehrerin, die schon Sonjas nicht so „aus der Art geschlagene“ ältere Schwester Eva kannte, hielt sie für ein Adoptivkind und fragte sie, ob sie denn wisse, in welchem Land sie geboren sei, und meinte wohl Afrika. Sonja rannte von der Schule weg nach Hause zu ihrer Mutter. Mit Tränen in den Augen, fragte sie nach ihrer Herkunft. Die Mutter: „Aber mein Kind, Du weißt doch, dass Du unsere Tochter bist. Was ist denn das für ein Blödsinn? Pass‘ mal auf, Du gehst jetzt zurück in Deine Klasse und sagst zu Fräulein Klenzke: ‚Ich soll Sie bitte schön von meiner Mutti grüßen und Ihnen ausrichten: Mich hat der Reiter im Galopp verlor’n!’ Und dann sagst Du ihr noch: ‚Meine Mutti kommt später vorbei und möchte mit Ihnen sprechen!’“ So geschah es. Sonjas Mutter fragte die Lehrerin, ob sie noch nie gehört habe, dass Geschwister ganz unterschiedlich aussehen können. Sie musste das zugeben und sich bei Sonja und ihr entschuldigen.
Sonjas Vater, Sohn eines Rabbiners, war ein gebildeter, politisch engagierter Mann, hielt es aber nicht für tunlich, sich als schwedischer Staatsbürger in deutsche Angelegenheiten einzumischen. Getan hat er es doch. Er schrieb für die Weltbühne und wohl auch für andere linksrepublikanische Organe Artikel unter einem Pseudonym. Er war mit politischen Größen wie Friedrich Ebert und Walther Rathenau befreundet. Als Rathenau ihn einmal in der Wohnung der Krenziskys in der Gervinusstraße 6 aufsuchte, wollte die wissbegierige Sonja dabei sein. Der Vater mochte aber das vorlaute Mädchen lieber nicht an dem Gespräch teilhaben lassen. Rathenau jedoch nahm Sonja auf seinen Schoß und sagte: „Ach, lassen Sie doch die Kleine. Es kann ihr ja nicht schaden.“ Dagegen war der Vater machtlos – und später überrascht, wie still seine Tochter, wenn es darauf ankam, doch sein konnte. Sonja hat es Rathenau nie vergessen, wie er sie gegen den Willen ihres Vaters dabei sein ließ – und als Rathenau im Juni 1922 von Angehörigen der „Organisation Consul“ ermordet wurde, war das der erste politische Mord in der Weimarer Republik, der sie, noch nicht zehn Jahre alt, beschäftigte.
Als 1925 Hitlers „Mein Kampf“ erschien, machte ihr Vater das Machwerk zur Pflichtlektüre der Familie. Die Schularbeiten wurden beiseite geschoben. Jeder hatte ein Kapitel zu lesen und mit eigenen Worten wiederzugeben. Die noch nicht 14jährige Sonja haderte mit dem Begriff „judenrein“. Der Vater erklärte ihr, dass er nichts mit schmutzig, sondern mit von „Juden gesäubert“, also „Juden raus“, zu tun habe. Sonja verstand. „So, nun wissen wir, was geschieht“, erklärte er, „wenn Hitler das Sagen in Deutschland haben wird. Ich schlage vor: Wir packen die Koffer und gehen zurück nach Schweden!“ Doch seine Frau und die Kinder wollten von Berlin nicht lassen, und so blieb die Familie. Als Hitler 1933 an die Macht kam, verließ der Vater als erster der Familie die deutsche Metropole mit den Worten: „In diesem Mörderland kann ich nicht leben!“
Von ihrer älteren Schwester hatte Sonja das Tanzen gelernt und sich inzwischen zu einer hübschen, aufgeweckten und charmanten jungen Frau entwickelt. Die Zwillingsbrüder förderten ihre Sprachbegabung. Die Mutter ging als beste Freundin mit ihrem „Nesthäkchen“ in Varietés, begleitete Sonja in Konzerte und Cafés, Filmvorführungen und andere Veranstaltungen. Nicht um ihre Tochter zu kontrollieren, sondern um einfach selbst dabei zu sein. So sog Sonja die so genannten „Goldenen Zwanziger Jahre“ geradezu in sich auf. Sie schloss Freundschaft mit Josephine Baker sowie mit der noch jungen Caterina Valente, der sie nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeitlang im Management half. Plötzlich eröffneten ihr „Stepptanz“, ihr ungezwungenes Auftreten sowie ihr „exotisches Aussehen“ eine neue Perspektive. „Colgate“ entdeckte Sonjas strahlend weiße Zähne. Fortan hing ihr Konterfei werbewirksam an Litfaßsäulen und erschien in Zeitschriften. Die Mutter achtete derweil darauf, dass ihre jüngste Tochter nicht abhob, verhinderte es, dass Jean Gabin sie nach Paris mitnahm, und sorgte dafür, dass sie einen Beruf als Sekretärin und Fremdsprachenkorrespondentin erlernte.
Es ist kein Zufall, dass Sonja mit dreizehn Jahren 1925 in dem Film „Metropolis“ von Fritz Lang als Komparsin mitwirkte. Irgendwie war sie dank ihres besonderen Elternhauses stets am „Puls der Zeit“, verkehrte in Film- und Schauspielerkreisen. Sie spielte Rollen als Tänzerin, so die der „Bumbawa“ in dem Film „Der Lockvogel“ mit Victor de Kowa und Hilde Weissner im Jahre 1934. Weil sie sich während der Dreharbeiten weigerte, bei einem Essen als „Tischdame“ neben Sepp Dietrich, dem Kommandeur der SS-Leibstandarte Hitlers, zu sitzen, erhielt sie Auftrittsverbot. Doch Hans Albers setzte sich darüber hinweg und sorgte dafür, dass Sonja noch im selben Jahr unter dem Pseudonym Zehra Achmed in der Ibsen-Verfilmung von „Peer Gynt“ mitspielte und den berühmten Tanz Anitra‘s nach der „Peer Gynt-Suite Nr. 1“ von Edvard Grieg, auch bekannt unter dem Titel „In der Halle des Bergkönigs“, aufführte – ein Herzstück des Filmes.
Bei all ihren Erfolgen übersah Sonja nicht den Rassenhass und das Elend um sie herum: die Mietskasernen, das „Zille-Milljö“, die Bettler und Verkrüppelten des Ersten Weltkrieges, die Arbeitslosen und ihre Nöte. Bei den Krenziskys gehörte die Beschäftigung mit Politik zum Alltag. Sonja lernte: „Selbst der Brotpreis ist Politik!“ Mit wachen Augen beobachtete sie nach 1933, wie die Juden immer mehr ausgegrenzt und verfolgt wurden, wie sich allzu viele Deutsche dem NS-System bereitwillig anpassten und wie der Zivilisationsbruch lange vor Auschwitz begann. Nach der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, die sie in Berlin auf den Straßen mitverfolgte, hatte sie genug. Nun ging auch sie nach Schweden zurück. Nur ihre Mutter, die zwei Jüdinnen in ihrer Wohnung versteckte und zur Flucht nach England verhalf, harrte noch bis zu Sonjas Heirat im Mai 1940 mit Wolfgang Sonnenfeld, einem aus Berlin nach Schweden geretteten Mathematiker und Schüler Albert Einsteins, aus. Mit ihrem Ehemann kümmerte Sonja sich um nach Schweden exilierte Flüchtlinge.
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