von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Bücher von Politikern, besonders zu Wahlkampf-Zeiten, zeichnen sich selten durch Ausgewogenheit und analytischen Scharfsinn aus. Mitt Romneys No Apology – The Case For American Greatness macht da keine Ausnahme. Allerdings ist schon der Titel ein derart aggressives Plädoyer für jenen ebenso infantilen wie gefährlichen Hurrah-Patriotismus, mit dem die herrschenden Kreise der USA seit dem Kollaps der Sowjetunion die Welt nach ihrem Selbst-Bild – oft genug unilateral und mit Waffengewalt – zu transformieren trachten.
Der Schreck-Effekt des katastrophalen geo-strategischen sowie auch sozial-ökonomischen Erbes von George W. Bush und seiner kriminellen Spiessgesellen verblasst zunehmend – zumal Obama sich gerade in der Außenpolitik nur unzureichend von seinem Amtsvorgänger unterscheidet. In Romneys speziellem Fall kommt nun hinzu, dass dessen Nationalismus durch seine mormonische Religion aufgeladen und intensiviert wird. Daher empfiehlt es sich, dieses durchaus komplexe und vielschichtige Beziehungsgeflecht von Wirtschafts- und Klasseninteressen, Nationalismus, Religion sowie Geschichtspropaganda näher zu beleuchten. Was aus dieser Analyse potentiell zu lernen ist, reicht über das besondere Milieu der amerikanischen Mormonenkirche hinaus und wirft Licht auch auf umfassendere Entwicklungen und Pathologien im amerikanischen Kapitalismus.
Wie in den meisten kirchlichen und politischen Organisationen gibt es auch unter den Mormonen verschiedene Lager und Schattierungen – obgleich die in den Führungsetagen streng hierarchisch-autoritär gesteuerte und offiziell Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage genannte Religionsgemeinschaft anders denkenden Mitgliedern weniger Freiraum bietet als viele andere christliche Kirchen. Pikanterweise nennt sich der tonangebende Führungs- und Verwaltungsapparat selbst die „Generalautoritäten“. Zwölf Apostel genannte Herren in Maßanzügen sowie eine dreiköpfige Erste Präsidentschaft regieren die weltweit inzwischen fast 14 Millionen Mormonen in bekannter Politbüro-Manier, mit dem amtierenden Mormonen-Präsidenten/Propheten als Generalsektretär-Pendant. Romneys Familie gehört seit den Gründungjahren der Mormonenkirche im neunzehnten Jahrhundert zum gesellschaftlichen Kern dieser Organisation und gilt als ebenso konform und wie machtbewusst.
Kulturelle und theologische Konformität sowie ein ausgeprägtes Macht- und Sendungsbewusstsein sind Schlüsselbegriffe, mit denen Mitt Romney von Freunden und Gegnern gleichermaßen assoziiert wird. Denn im Gegensatz zu seinem moderateren Vater George Romney, wie Mitt ebenfalls Republikaner und ehemals Governor des US-Bundesstaates Michigan sowie Bau- und Entwicklungsminister in der Nixon-Administration von 1969-73 , sind die politischen Prinzipien des gegenwärtigen Obama-Herausforderers, um es diplomatisch zusagen, ziemlich flexibel. Als Governor im liberalen Massachusetts gab sich Romney relativ moderat, während seine jetzigen Verlautbarungen deutlich rechts von der Mitte liegen. Vater George hingegen opferte seine Chancen auf die Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten für die Wahl von 1968, weil die Anforderungen dafür mit seinen Vorstellungen von Anstand und Prinzipienfestigkeit kollidierten. Trotz anfänglich sehr guter Aussichten, sich gegen den schließlichen Sieger Richard Nixon durchzusetzen, verlor George Romney das Rennen unter anderem deshalb, weil er sich offen gegen den Vietnam-Krieg aussprach. Ursprünglich ein Befürworter dieses Krieges wurde George Romney nach einem Besuch der Kriegsschauplätze in Vietnam nicht nur zum Kriegsgegner, sondern geißelte auch die verlogene Kriegs-Propaganda des amerikanischen Militärs und der amerikanischen Diplomatie. Damit war er für die Strippenzieher der konservativen Republikaner erledigt. Sohn Mitt nun scheint aus der durchaus ehrenwerten Haltung seines Vaters hauptsächlich nur gelernt zu haben, dass man bei der Wahl zwischen Macht und Moral nicht allzu zimperlich sein darf, wenn man wirklich die Präsidentschaft anstrebt.
Mitt Romneys Wahlkampfteam überlässt nichts dem Zufall. Alles ist bis ins kleinste Detail geplant, jedes Lächeln des Spitzenkandidaten sorgsam einstudiert und all seine politischen Rede-Manuskripte sind von Fokusgruppen auf Maximal-Effekt getrimmt. Spontaneität, Originalität und kreatives Denken außerhalb der vorgegebenen Muster werden in erster Linie als Bedrohung wahrgenommen.
Neben persönlichen Gründen gibt es für Mitt Romneys Wahlkampfstrategie auch weiter reichender kultursoziologische und historische Erklärungen, die sich auf Romneys Verwurzelung im kollektiven Gedächtnis der Mormonen. Denn obgleich sich die übergroße Mehrheit der amerikanischen Mormonen heute enthusiastisch und unkritisch mit den offiziellen nationalen Mythen der USA (Amerika als Hort der Freiheit und der Menschenrechte) identifiziert, so war das historische Verhältnis zwischen Mainstream-Amerika und den Mormonen alles andere als einfach.
Pünktlich zum US-Wahlkampf und der zunehmend prominenten Rolle von Mormonen im politischen und wirtschaftlichen Leben der USA sind in letzter Zeit zahllose Bücher über den Glauben, die Machtstrukturen und die Geschichte der Mormonen erschienen. Besonders empfehlenswert für mit dieser Materie unvertraute Leser ist Matthew Bowmans The Mormon People: The Making of an American Faith. Bowman, ein ausgewiesener Experte für amerikanische Kirchen- und Religionsgeschichte, beschreibt in diesem angenehm jargonfreien und zugleich anspruchsvollen Buch mit kritischer Sympathie den Werdegang dieser Kirche. Zwar ist Bowman selbst Mormone, jedoch als Professor für Religionswissenschaft am Hamden-Sidney College in Virginia auch mit der Notwendigkeit analytischer und kritischer Distanz vertraut. Zu den Stärken seines Buches gehören ein ausgezeichnetes Essay zur historischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachliteratur über die Mormonen sowie ein ausgewogener Überblick über mormonische Geschichte und Gegenwart, eingebettet in die Geschichte und Gegenwart der amerikanischen Gesellschaft.
Zwar ist die Mormonenkirche im 20. Jahrhundert zum Sinnbild für das Milieu und die Ästhetik des amerikanischen Kapitalismus geworden, doch im neunzehnten Jahrhundert bildete die von Joseph Smith 1830 gegründete Religionsgemeinschaft eine verfolgte und marginalisierte Minderheit. Sicherlich haben die exotischeren Praktiken der Mormonen, wie beispielsweise ihre Polygynie, sowie ihre theokratischen Strukturen und ihr manichäischer Anspruch auf göttliche Alleinvertretung viel mit dem nicht immer unprovozierten tiefen Hass zu tun, der ihnen seitens der amerikanischen Gesellschaft entgegenschlug. Allerdings waren die USA des 19. Jahrhunderts eine besonders gewalttätige, rassistische und intolerante Gesellschaft. Neben den Mormonen zählten Katholiken, Afro-Amerikaner, Ureinwohner, Freimaurer und später Anarchisten, Sozialisten und Gewerkschaftler zu den zum Teil grausam verfolgten Gruppierungen. Da floss viel Blut.
Vor diesem Hintergrund ist Mitt Romneys weiß-wässerischer Sonntagsschul-Nationalismus besonders fragwürdig. Interessanterweise war es Romneys eigener Ur-Urgroßvater, der mormonische Apostel Parley P. Pratt, der den Topos von Viktimisierung und Ausgrenzung im kollektiven Gedächtnis der Mormonen verankerte. Die 2011 von der angesehenen Oxford University Press publizierte Pratt-Biografie (Parley P. Pratt: The Apostle Paul of Mormonism) aus der Feder von Terryl Givens (Professor an der University of Richmond/Virginia) und Matthew Grow (Professor an der University of Southern Indiana) zeigt auf, wie neben Joseph Smith und dessen Nachfolger Brigham Young nur die Pratt-Brüder Parley und Orson einen derartigen Einfluss auf Identität und Selbstverständnis der frühen Mormonenkirche ausübten. Bevor Parley P. Pratt – gleichzeitig mit zwölf Frauen verheiratet und Vater von 30 Kindern – 1857 vom Ex-Gatten einer seiner Frauen ermordet wurde, schrieb dieser nimmermüde Mormonen-Apostel zahlreiche Bücher und Broschüren über die Leiden der Mormonen in den USA. Prägend war bereits seine History of the Late Persecution von 1839. Dieser nur 84 Seiten schmalen Schrift folgte bereits ein Jahr später ein 260-seitiges, sich ausschließlich mit amerikanischen Verbrechen an den Mormonen befassendes Buch. Pratt war sich in seinen zahlreichen apologetischen Veröffentlichungen bewusst, dass die mormonischen Lehren und Praktiken gefährlicher Sprengstoff für die enge und geschlossene Welt der ebenso biederen wie blutrünstigen traditionellen Protestanten im amerikanischen Grenzland waren. Sinnigergerweise nannte Pratt eines seiner Pamphlete A World Turned Upside Down. In der Tat, im sozialen und wirtschaftlichen Bereich stellten die Mormonen die Wertvorstellungen und Gepflogenheiten des sich entwickelnden amerikanischen Kapitalismus auf den Kopf oder aber verkehrten Unten und Oben mit ihrer United Order genannten Version eines utopischen Sozialismus.
Vor über 20 Jahren untersuchte Marvin Hill, damals Professor an der mormonischen Brigham Young University in Utah, das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen der sich entwickelnden Mormonengemeinschaft und der früh-kapitalistischen amerikanischen Gesellschaft im Zeitalter von Präsident Andrew Jackson. Hill interpretierte in seinem Buch Quest for Refuge: The Mormon Flight from American Pluralism den sozialistischen Kommunalismus der Mormonen um 1830 als anti-kapitalistische Reaktion auf die tief greifende sozial-ökonomische und kulturelle Zäsur dieser Jacksonian America genannten Periode. Neben diversen anderen Arbeiten zu den sozial-ökonomischen Experimenten der Mormonen ist nicht zuletzt auf das 2011 von der Utah State University Press herausgebrachte Buch A History of Utah Radicalism: Startling, Socialistic, and Decidedly Revolutionary. Die angesehenen Historiker John S. McCormick und John R. Sillito zeigen in dieser hochinteressanten Untersuchung auf, wie es neben der erzkapitalistischen Gegenwart auch eine sozialrevolutionäre Traditionslinie unter den Mormonen gibt. Diese ist allerdings größtenteils verschüttet – auch und gerade von marktradikalen Wohlfühl-Propaganda-Schriften vom Schlage von Mitt Romneys The Case for American Greatness.
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, Kapitalismus, Mitt Romney, Mormonen, Sozialismus, USA