15. Jahrgang | Nummer 18 | 3. September 2012

Landverschiebung

von Holger Politt, Warschau

Still ist es um ihn geworden. Außer am 13. Dezember, wenn der immer wiederkehrenden Jahrestage von 1981 gedacht wird. Jetzt hat Wojciech Jaruzelski sich im linksliberalen Wochenblatt „Przeglad“ zu Wort gemeldet. In dem Interview bekräftigt er nachdrücklich den Gedanken, dass die Zeit der Volksrepublik keineswegs ein Loch in der Geschichte Polens sei: „… hätte Polen 1944/45 ein vollständig souveräner und demokratischer Staat werden können, so nur auf einem eingeschränkten Territorium und in verstümmelter Gestalt. Lwów und Wilno hätten wir nicht zurück-, Wroclaw und Szczecin, den breiten Zugang zum Meer nicht dazubekommen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach unseren Beziehungen zu den Nachbarn – zu den großen Nationen und Staaten Russland und Deutschland.“ Das will erklärt sein.
Der siegreiche Stalin gab frühzeitig und unmissverständlich zu verstehen, nach Beendigung des Krieges jene Gebiete fest in die Sowjetunion einzubinden, die bereits vor dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion Staatsgebiet waren. Ein Großteil davon gehörte bis September 1939 zu Polen. An dem Prinzip der territorialen Integrität Polens hielt die Londoner Exilregierung fest, die im Zweiten Weltkrieg zu einem der treuesten Verbündeten der westlichen Hitlergegner wurde. Daran änderte sich wenig, nachdem London und Washington im Sommer 1941 die Sowjetunion als festen strategischen Bündnispartner gewannen. Das gemeinsame Ziel, der Sieg über Deutschland, überdeckte einstweilen fast alle größeren und kleineren Unstimmigkeiten zwischen den großen Alliierten. Nach hinten rückte auf der Agenda die polnische Frage, sie wurde immer mehr zu einem Attribut des sich abzeichnenden neuen Kräfteverhältnisses in den östlichen Teilen des Kontinents.
Dabei spielten die inneren Verhältnisse in Polen keine kleine Rolle. Das Londoner Lager war zwar führend im Widerstand und der entscheidende politische Faktor beim Aufbau eines Untergrundstaates, aber auf der internationalen Bühne sahen viele Verfechter der Rückkehr zu den Landesgrenzen vom September 1939 ab 1943/1944 ihre Felle davon schwimmen. Hauptgrund war die heranrückende Rote Armee, mit der völlig andere Vorstellungen über eine territoriale Neuordnung des ostmitteleuropäischen Raums gestützt wurden. Im August 1944 spielte das Londoner Lager seinen vermeintlich entscheidenden Trumpf aus – die militärische Selbstbefreiung Warschaus. Der Warschauer Aufstand geriet allerdings zum Fiasko, weil die deutschen Okkupanten noch einmal mit äußerster Härte und Konzentration ihrer Kräfte das aufständische Warschau blutig niederringen konnten. Auf der östlichen Weichselseite stand im Herbst 1944 bereits die Rote Armee, in ihrem Hinterland die Lubliner Regierung, die künftig in Polen das Heft des Handelns in die Hände gelegt bekam und schließlich zur Volksrepublik wurde.
Polens neue Ostgrenze zur Sowjetunion war frühzeitig, lange vor Kriegsende festgelegt. Damit verlor das Land gegenüber der Vorkriegssituation fast die Hälfte seines Territoriums. Doch das, sagen wir mal, neu ins Spiel gebrachte Prinzip Volksrepublik hatte in den entscheidenden Tagen des ausgehenden Krieges zwei entscheidende Vorzüge. Es wurde für die Rote Armee auf fremdem, polnischem Territorium zu einer dringend benötigten Ordnungskraft. Und es verfügte über eine bereits kampferprobte Armee, die polnische Volksarmee, die beim Sturm auf Berlin zu einem politisch und militärisch verlässlichen Bündnispartner emporwuchs. In der Volksarmee kämpfte, als junger Offizier und aus Sibirien kommend, Wojciech Jaruzelski.
Ein diplomatisches Spiel auf Messers Schneide begann, in dem zum Schluss eine verblüffende Grenze zwischen dem neuen Polen und dem besiegten Deutschland als Ergebnis übrig blieb – die kürzestmögliche Landlinie trennte nun beide fast schnurgerade entlang von Oder und Neiße. Während die Westmächte, Polens eigentliche Verbündete, auffallende Schwierigkeiten hatten, Polens Landgewinne im Westen zu akzeptieren, beschnitt Stalin mit dieser gewaltigen Geste zugunsten seines im Verlaufe des Kriegs neu gewonnenen Verbündeten die eigene Besatzungszone in Deutschland empfindlich: Berlin verlor mit Stettin und Swinemünde seine Häfen, Breslau ging verloren.
Und zur Geschichte der Volksrepublik gehört, aus dieser dramatischen Grenzziehung einen durch und durch geglückten Fall für die europäische Nachkriegsgeschichte gemacht zu haben. Zu dieser Geschichte gehört über Jahrzehnte das Bündnis mit der Sowjetunion. Dazu gehört ohne Wenn und Aber das Nachbarschaftsverhältnis mit der DDR. Dazu gehört aber auch das Menetekel der begrenzten Souveränität, von welchem Jaruzelski immer wusste – Katyn.