von Erhard Crome
Als Giorgios Papandreou mitgeteilt hatte, ein Referendum über das Brüsseler Kürzungspaket durchzuführen, läutete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (2. November 2011) im Wirtschaftsteil die Alarmglocke: „Wirtschaft besorgt über Athener Euro-Manöver“ und im Finanzteil: „Griechenland löst an Börsen Kursrutsch aus“. Im Feuilleton dagegen überschrieb FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher seinen Kommentar mit: „Demokratie ist Ramsch“ und betonte: „Entsetzen in Deutschland, Finnland, Frankreich, sogar in England, Entsetzen bei den Finanzmärkten und Banken, Entsetzen, weil der griechische Premierminister Georgios Papandreou eine Volksabstimmung zu einer Schicksalsfrage seines Landes plant.“ Sein Befund lautete: „Sieht man denn nicht, dass wir jetzt Ratingagenturen, Analysten oder irgendwelchen Bankenverbänden die Bewertung demokratischer Prozesse überlassen? Sie alle wurden in den letzten 24 Stunden befragt und bestürmt, als hätten sie irgendwas dazu zu sagen, dass die Griechen über ihre Zukunft selbst abstimmen wollen.“ Den Kern der Sache beschrieb er so: „Es wird immer klarer, dass das, was Europa im Augenblick erlebt, keine Episode ist, sondern ein Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen.“ Sein Fazit: „Papandreou tut nicht nur das Richtige, indem er das Volk in die Pflicht nimmt. Er zeigt auch Europa einen Weg.“
Nun muss man die FAZ nicht notwendig als Leitmedium für die eigene Weltanschauung ansehen, um zu der Folgerung zu kommen, dass das der Kern der derzeitigen Auseinandersetzungen ist: Beherrschen die Finanzgewaltigen ungestört die Gesellschaften (und nicht nur die Wirtschaft) oder gelingt es, über politische Kämpfe deren Gewalt zurückzudrängen, die Demokratie gegen die Finanzspekulanten zu verteidigen? Obwohl das damalige Referendum auf Druck aus Berlin und Brüssel abgeblasen wurde und der dritte Papandreou (schon der Vater und der Großvater waren griechische Ministerpräsidenten) in die Geschichtsbücher entschwunden ist, bleibt am Ende, dass das griechische Volk mit den Wahlen im Mai und Juni 2012 seinen Anspruch erneuert hat, über sein Schicksal selbst zu entscheiden. Insofern ist die Alternative zur neoliberalen Kürzungspolitik zunächst und zuallererst der politische Prozess, der seine Eigensinnigkeit gegenüber den Zumutungen des Neoliberalismus bekräftigt hat. Was letztlich für konkrete Entscheidungen getroffen werden, um die Krise zu bewältigen und die unbezahlbaren Schulden Griechenlands und der anderen Länder so oder so auszubuchen, Zahlungsfristen zu prolongieren und so weiter, hängt von der weiteren Entwicklung der Kräfteverhältnisse, den weiteren Kämpfen ab. Dass die Positionen der Finanzmächte in Gestalt der Banken, Versicherungen und Spekulationsfonds, in der Brüsseler Bureaukratie und ihren nationalen Geschwistern, in den Medien und an den Universitäten nach wie vor stark sind, ist unstrittig. Aber sie haben erheblich an Glanz verloren.
Die griechische Linke, die Linkspartei Synaspismos, das Bündnis Syriza und nun die vereinigte Partei Syriza, hat sich ganz bewusst der historischen Auseinandersetzung gestellt. Sie ging davon aus: Die Krise der demokratischen Institutionen, wie sie in der jahrzehntelangen Herrschaft von abwechselnd Sozialdemokraten (PASOK) und Konservativen (ND – Nea Dimokratia) zum Ausdruck kam, hat zur ökonomischen Krise beigetragen (Förderung der Kapitalfreiheiten, Kreditaufnahmen, Korruption), wie umgekehrt die ökonomische Krise die Krise der Demokratie vertieft hat. Wenn die Globalisierung im Kern nichts anderes ist, als ein Krieg zur Intensivierung der Kapitalisierung von allem und jedem, dann haben wir es jetzt mit einem „totalen Krieg“ zu tun, weil die Betroffenen nicht mehr nur die Finanzen und die Volkswirtschaften sind, sondern die ganzen Gesellschaften, die jetzt unter den Kürzungen leiden. Die Finanzkrise hat die demokratischen Institutionen in einen „Ausnahmezustand“ versetzt, mit weitreichenden Folgen für die verfassungsmäßigen Rechte und Institutionen. Der ständige „Ausnahmezustand“ aber zerstört die Demokratie. Deshalb war es aus Sicht von Syriza die wichtigste Aufgabe, im Wahlkampf eine wirkliche Mobilisierung der Menschen zu erreichen. Zugleich galt es, die traditionelle Spaltung unter den linken Intellektuellen – in „werte-orientierte“ und „politik-orientierte“ (mit Max Weber müsste man sagen: gesinnungsethisch und verantwortungsethisch argumentierende, was dann politisch auf die Trennung zwischen „Fundamentalisten“ und „Realos“ hinausläuft) – zu überwinden. Diese Mobilisierung ging davon aus, es gelte (1) nicht in alter Manier von Sozialismus und Kommunismus zu reden, sondern ein zeitgemäßes linkes Programm zu entwickeln; (2) die Institutionen des demokratischen Staates, in dem schließlich die Regierung übernommen werden soll, sowie die Wahlen ernst zu nehmen; (3) nicht in „Gouvernementalismus“ zu verfallen, also etwa zu meinen, mit dem Regieren ließe sich schon alles regeln; (4) realistische Ziele zu formulieren; (5) eine breite Einheit der Linken zu schaffen, um die Regierung bilden zu können.
Syriza hatte im Grunde alle Strömungen, die diesseits der Sozialdemokratie und jenseits der alten Kommunistischen Partei liegen, zusammengeführt, mindestens zwölf verschiedene Komponenten, darunter ehemalige Kommunisten, die für und die gegen den Stalinismus waren, ehemalige linke Euro-Kommunisten, ehemalige rechte Euro-Kommunisten, ehemalige Trotzkisten, ehemalige Maoisten, frühere Vergötterer der sozialen Bewegungen, frühere Verächter der sozialen Bewegungen, wichtige Einzelpersönlichkeiten, Karrieristen und so weiter. Verschiedene Gruppen werden immer wieder bestrebt sein, ihre Gruppenpositionen zu den dominanten von Syriza zu machen. Das wird sich im jetzigen Parteibildungsprozess noch weiter verstärken. Dennoch kann Syriza seinen Erfolg nur erhalten und ausbauen, wenn es gelingt, die Pluralität der Linken zu erhalten.
Der totale Kapitalismus hat dazu geführt, dass es keine Spielräume mehr für auch nur bescheidene Reformen (im Sinne der Menschen) gibt; deshalb ist PASOK abgestürzt, auf im Juni noch 33 Parlamentssitze (12, 3 Prozent der Stimmen), im Vergleich zu Syriza mit 71 (26,9 Prozent). Aber auch der traditionelle, sektiererische Kommunismus ist gescheitert, die KP erhielt noch zwölf Sitze (4,5 Prozent der Wählerstimmen). Syriza hatte im Wahlkampf nie gesagt, die Schulden nicht zu bezahlen; es war auch nicht die Absicht, die Euro-Zone zu verlassen. Die Position war, dass die Schulden mit der EU neu verhandelt werden müssen. Sie sind ohnehin nicht zu bezahlen, so dass eine Verhandlungslösung gefunden werden muss, und zwar auf europäischer Ebene, nicht nur eine für Griechenland. Deshalb war auch die Position der KP völlig verfehlt, einfach aus der EU auszutreten und einen nationalen Weg zu gehen.
Auf der Sommerakademie der Europäischen Linken im Juli in Portaria (Griechenland) wurde in einer der Diskussionen gefragt, ob Syriza nicht insgeheim froh sei, nicht regieren zu müssen. Das wurde lautstark verneint: „Wir hatten zwei Gefühle: erstens die Bombe explodiert uns unter den Händen, und zweitens wir müssen uns der historischen Herausforderung stellen.“ Syriza war bereit zu regieren und hatte ein ernsthaftes Regierungsprogramm für die Wahlen 2012. Da die rechte Regierung die Probleme nicht lösen können wird, bleibt die Alternative im Raum. Alexis Tsipras, Vorsitzender der Syriza, sagte in Portaria: „Wir sind inmitten einer Veränderung von historischem Ausmaß: Nach dem Kollaps des sozialistischen Systems entwickelt die Linke – die Linke, die links von der Sozialdemokratie steht – wieder eine neue Machtperspektive.“
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