15. Jahrgang | Nummer 15 | 23. Juli 2012

Was Sie über die Bundeswehr wissen wollten

von Lutz Unterseher

Vor wenigen Monaten gab der Verteidigungsminister de Maizière ein Interview, in dem er von der großen Herausforderung sprach, das Personal für die angestrebte Bundeswehr „170.000 Plus“ zu gewinnen (170.000 Berufs- und Zeitsoldaten sowie einige Tausend freiwillige Wehrdienstler). Um diesen Umfang zu halten, müssten pro Jahr circa 15.000 Bewerber eingestellt werden. Da man nach Qualitätskriterien auswählen wolle, müsste es aber jeweils 45.000 Interessenten geben.
Er rechne mittelfristig mit einem jährlichen Aufkommen an 350.000 jungen Männern als Rekrutierungsbasis. Damit wäre, bei ausschließlicher Anwerbung von Männern, etwa jeder Achte zur Kontaktaufnahme zu motivieren. Der Minister gab sich sachlich, wofür ihn manche Medien zunehmend verklären, sowie verhalten optimistisch. Die Herausforderung sei durchaus zu meistern – vor allem auch deswegen, weil die Anwerbung von Frauen, sie sollen zehn Prozent der Streitkräfte ausmachen, von der Rekrutierung des anderen Geschlechts etwas entlaste. Allerdings sei das alles nicht zum Nulltarif zu haben. Die von Herrn Schäuble – auch – der Bundeswehr im Frühjahr 2010 aufgebrummten Sparvorgaben sind ihm offenbar Makulatur.
Doch dieser Optimismus ist alles andere als begründet und die Sachlichkeit nichts als  Selbstdarstellungskunst. Also zur Sache! Wenn eine Streitmacht von 170.000 mit 15.000 jährlichen Neu-Einstellungen auf ihrem quantitativen Niveau gehalten werden soll, bedeutet dies nach den Regeln der Personalstatistik, dass die Soldatinnen und Soldaten durchschnittlich recht lange in den Streitkräften verweilen müssen. Wir sehen also eine Armee der alten Säcke, das weibliche Pendant fällt mir nicht ein, was zu militärischen Einsatzerfordernissen – gleich welcher Art – nicht so recht passen will.
Doch die 15.000 jährlich Einzustellenden sind ein Hirngespinst. Fast (wir berücksichtigen die Frauen) jeden achten jungen Mann interessieren zu können, ist in einer zivilkulturell geprägten Gesellschaft illusorisch. Auch wenn das Gewicht der Rekruten in Gold aufgewogen würde, was sich aber bei allgemeiner Konkurrenz um knappe öffentliche Ressourcen und festgeschriebenen Einkommensstrukturen schwerlich machen ließe.
Doch es ist noch schlimmer: Der Minister hat sich zu seinen Gunsten verrechnet. Er hat vergessen, von seiner Rekrutierungsbasis die Untauglichen und die prinzipiell Unabkömmlichen abzuziehen, womit wir statt mit 350.000 mit etwa 270.000 rechnen müssen. Damit hätte die Armee der alten Säcke etwa jeden sechsten (!) letztlich in Frage kommenden jungen Mann zu ernsthaftem Interesse zu bewegen. Wenn wir nicht auf die aus dem Kalten Krieg stammende Idee verfallen wollen, türkische Divisionen zu mieten, bleibt nur eine drastische Schrumpfung des Aktivumfanges der Bundeswehr. In diesem Sinne hat der Deutsche Bundeswehrverband das Modell 140.000 Plus ventiliert. Eine kritische Rechnung lässt allerdings auch für diese – realistischere – Option erhebliche demografische und fiskalische Probleme erkennen. In wirklich trockenen Tüchern wäre die Rekrutierungspolitik erst, wenn sie sich der 100.000-Personen-Marke näherte.
Wer hätte das gedacht? Die PDS seligen Andenkens lässt grüßen: und zwar mit einem ihrer alten, einst belächelten Vorschläge. Der sicherheitspolitischen Elite unseres Landes, mit ihrer ungebrochen männlich-chauvinistischen Prägung, welche übrigens auch die beteiligten Damen erfasst hat, wäre eine solche Schrumpfung ausgesprochen peinlich. Warum? Es ist eine rationalistische Illusion anzunehmen, dass in der realen Welt, selbst auf den elysischen Feldern Europas, die Armeen in erster Linie Zwecken dienen, die aus einer nüchternen Analyse außenpolitischer Stabilitätserfordernisse abgeleitet sind. Dass sie gleichsam maßgeschneidert werden, um auf bestimmte Krisenlagen so wohldosiert einwirken zu können, dass die Situation hinterher nicht schlimmer ist als zuvor und sich veritable Friedenschancen ergeben.
Nein, die Armeen sind zuallererst Instrumente der Statuskonkurrenz zwischen Nationen, die sich irgendwie als gleichrangig ansehen. Offenbar verheißt den sicherheitspolitischen Eliten militärisches Potenzial immer noch politischen Einfluss – in NATO, EU oder sonstwo. Für Herrn de Maizière sind Frankreich und Großbritannien die relevanten Vergleichsgrößen (wobei er deren Atompotentiale generös ausblendet). Beider Streitkräfte werden der gegenwärtigen Planung nach ihre Aktivumfänge nicht auf Größenordnungen unter 170.000 absenken. Also müssen auch wir in dieser Liga bleiben.
Es gibt allerdings – in unserer schönen Welt des Neoimperialismus und der Interventionitis – noch einen weiteren Statusbeweis: nämlich die Befähigung, militärische Schlagkraft möglichst weltweit projizieren zu können. Auf diesem Felde tobt bereits ein Wettbewerb, der manchmal so groteske Züge annimmt, dass wir versucht sind, an jene Jungmännerkonkurrenz zu denken, bei der es – angeblich – darum gehen soll, wer den „Längsten“ hat. Diese Tendenz zur Machtprojektion, und zwar mit Hochtechnologie für das intensive Gefecht, dürfte sich dann wesentlich verstärken, wenn die Schrumpfung der Bundeswehr tatsächlich bevorsteht, was mittelfristig der Fall sein wird. Dann wird der Chor jener noch lauter klingen, die fehlende manpower durch „Technik“ ersetzen wollen. Die Bundeswehr stünde dann am Scheideweg. Es wäre zwischen zwei Entwicklungslinien zu entscheiden, die sich als Szenarien darstellen lassen:
Nummer 1: Die Technik-lastigen, kapitalintensiven Teilstreitkräfte – vor allem die Luftwaffe, aber auch die Marine – verlieren relativ weniger an Personal und und vor allem Investitionsmitteln als das Heer (was übrigens einen bereits etablierten Trend fortsetzt). Damit werden die Profitinteressen des dominierenden Teils der Rüstungsindustrie gewahrt, und es kann die internationale Statuskonkurrenz zumindest teilweise bedient werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen seit Ende des Kalten Krieges mit einem nur marginalen Bedarf an deutschen Luftstreitkräften und eher eng begrenzten Aufgaben für die Marine wäre ein solcher Kurs hoch problematisch: Die für Friedensmissionen hauptsächlich zuständigen Landstreitkräfte wären personell und finanziell ausgeblutet. Die Bundeswehr würde zur Armee des l’art pour l’art (unsa Joethe hätte jesacht: zum Masturbationsvorwurf) verkommen: unplausible Einsatzszenarien, die keinerlei Unterstützung im Wahlvolk hätten.
Nummer 2: Die Bundeswehr orientiert sich an Friedensmissionen der Vereinten Nationen (und nicht etwa an NATO-legitimierter Verwendung). Es geht also wesentlich um die guten, alten Blauhelme, deren Tätigkeit – etwa der Überwachung von Waffenstillstandsabkommen – nach wie vor sehr gefragt ist, die aber in der Öffentlichkeit angesichts der Großinterventionen im Irak und in Afghanistan fast in Vergessenheit geriet. Das damit in den Mittelpunkt rückende Heer bekommt einen generell leichteren Zuschnitt: optimierte Patrouillenkapazität, ohne allerdings begrenzte Durchsetzungsfähigkeit ganz aufzugeben (um nämlich Ereignisse wie die in Srebrenica vermeidbar zu machen). Entsprechend sind die Marine und vor allem die Luftwaffe in Mittel- und Personalzuweisung stark, also deutlich überproportional, zu schrumpfen. Das Geheul von Seiten der Rüstungslobby in und außerhalb des Parlamentes wäre allerdings gewiss.
Wie aber die Dinge zum Besseren wenden? Wieder einmal ist es an der Zeit, den „kritischen, öffentlichen Diskurs“ einzufordern. Aber warum sollte der etwas bringen? Da sind die Pazifisten, die unter dem Motto „Mein Gewissen ist rein, ich habe es nie benutzt“ der ganzen Chose den Rücken kehren. Und da gibt es die Bildungsbürger, die meinen für Rimbaud und gegen Rambo optiert zu haben und für die jede eingehende Befassung mit Militärischem etwas plebejisch Schnödes hat. Wenn wir dann noch die Rüstungslobby mit ihrer Entourage in den Medien und – nicht zu vergessen – das Heer der hartnäckig Desinteressierten abziehen, bleibt für den ach so dringlichen Diskurs kaum jemand übrig.