Hintergrund. Verrat der Intellektuellen – über die kritische Intelligenz in Israel
von Moshe Zuckermann
Der von Karl Mannheim verwendete – wie immer problematische – Begriff der „sozial freischwebenden Intelligenz“ hatte zumindest eines für sich: Er ging von der Annahme aus, daß die relative gesellschaftliche Ungebundenheit der Intelligenz es ihr ermöglicht, sich die kritische Verve zu bewahren, derer sie als intellektueller Seismograph und geistige Reflexionsinstanz sozialer Strukturen und Dynamiken bedarf. Bei aller an diesem Begriff (etwa durch Adorno) geübten Kritik war damit angezeigt, daß trotz unhintergehbarer Vorgaben von Kulturkontext und Klassengebundenheit nicht nur auf den Wahrheitsgehalt von Wissen und Erkenntnis insistiert werden kann, sondern auch die emphatische Bestrebung, falsches Bestehendes und ideologisch Normiertes gegen den Strich zu bürsten, ungebrochen fortdauert.
Der aus der Zeit der Dreifus-Affäre stammende Begriff des Intellektuellen erfuhr von verschiedenen Seiten (der politischen Sphäre) unterschiedliche Wertungen. Den Nazis etwa verband sich der pejorativ besetzte „Intellektualismus“ primär mit der von ihnen als solche apostrophierten „jüdisch-zersetzenden Intelligenz“. Aber auch die positive, kritische Reflexion als emanzipatives Postulat begreifende Konnotierung des Begriffs sah sich – je nach historisch-politischer Konstellation – immer wieder gebeutelt und herausgefordert. Berühmt geworden ist Julien Bendas Essay von 1927 „Verrat der Intellektuellen“, in welchem er die Lossagung der Intelligenz von ihren zentralen Postulaten des Universalismus und des Strebens nach sozialer (demokratisch ausgerichteter) Gerechtigkeit zugunsten eines nationalistischen Partikularismus, mithin auch rassistischer Parteinahme beklagte. Benda wies damit auf etwas wichtiges hin: eine oft genug sich auswirkende Kontextgebundenheit der Intellektuellen, welche ihm deshalb als Verrat galt, weil diese sich durch eine solche Gebundenheit vom „sozialen Freischweben“, also von der strukturellen Voraussetzung Reflexions- und Kritikfähigkeit, abkehrten. Die essentielle Forderung, der Intellektuelle möge sich keinen konjunkturellen Einflüssen beugen, fand sich somit im strukturellen Spannungsverhältnis zur doppelten Stellung des Intellektuellen: als Subjekt eines Kontexts, dessen objektiver Kritiker er zu sein hat.
„Rückkehr in die Geschichte“
Im Zionismus der prästaatlichen Ära zeichnete sich die jüdische Intelligenz von Anbeginn durch eine prästabilisierte Janusköpfigkeit aus. Der Intellektuelle sah sich ins Pathos der nationalen Mission eingesogen, stellte seine geistigen Kräfte in den Dienst der kollektiven Konsolidierung und nationalstaatlichen Selbstbestimmung sowie der zionistisch propagierten kulturellen Erneuerung des jüdischen Volkes, welche primär durch die Negation alles diasporischen jüdischen Seins angetrieben war. Topoi der intellektuellen Auseinandersetzung waren dabei zum einen innerzionistische Richtungskämpfe, zum anderen aber die unabdingbare Legitimation eines neuen Judentums, das sich als „Rückkehr in die Geschichte“ und als historisches Veto gegen das von einer Verfolgungschronik geprägte „degenerierte“ Exildasein verstand.
Die kulturelle Leistung jener Phase kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn nicht nur entwickelte sich in ihr das Hebräische und stabilisierte sich in rasanter Geschwindigkeit zur Nationalsprache des anvisierten zionistischen Staates, sondern die in diesem Sinne betriebene emphatische Förderung des Hebräischen entfesselte auch einen schier unübersehbaren Strom von neuen literarischen, publizistischen und wissenschaftlichen Werken sowie die massive Übertragung bestehender (vor allem europäischer) Kulturgüter in die neue Nationalsprache. Was aber nahezu alle Geistes- und Kulturschaffenden jener Phase der infrastrukturellen Vorbereitung des zionistischen Staates und der programmatisch vorgenommenen Etablierung seiner nationalen Kultur kennzeichnete, war die unabdingbare Einbindung ins historische Projekt der Schaffung einer „nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“, mithin seine (wie immer reflektierte) legitimierende Unterstützung.
Von selbst versteht sich, daß der Holocaust diesem Verbundenheitsgefühl mit dem angehenden jüdischen Nationalstaat eine ganz neue Dimension der geschichtlichen Notwendigkeit und Dringlichkeit verlieh. Artikuliert wurde dies vor allem von der politischen Klasse, für die der Kausalzusammenhang von Shoah und nationalstaatlicher Auferstehung der Juden schnell genug zum staatstragenden Narrativ gerinnen sollte. Aber auch die Intelligenz des neuen Staates war von der dieser Sicht zugrunde liegenden ideologischen Matrix nicht ausgenommen. Konnte noch im Jahre 1925 die jüdische Brit-Schalom-Bewegung ins Leben gerufen werden, eine Bewegung, die einer binationalen Autonomie unter britischem Mandat mit der Aussicht auf die spätere Errichtung eines binationalen Staates von gleichberechtigten jüdischen und arabischen Bürgern das Wort redete – und der immerhin bedeutende jüdische Intellektuelle wie Martin Buber, Gershom Scholem, Hans Kohn und Ernst Simon angehörten –, so war dies nach 1945 innerhalb des zionistischen Diskurses undenkbar geworden. Israels Intellektuelle konnten fortan nur als Zionisten den Anspruch erheben, im jüngst gegründeten Judenstaat mitreden bzw. kritische politische wie geistige Zeichen setzen zu wollen. Hinterfragt werden konnte nur, was nicht an der Staatsräson rüttelte; kritisiert werden durfte einzig, was die selbstauferlegten Tabugrenzen des nationalen Konsenses nicht durchbrach.
Blütezeit in den 1990ern
Dies besagt mitnichten, daß es an radikalen kritischen Stimmen gefehlt hätte; und zwar weder im dezidiert politischen Bereich (etwa die linksradikale, der Idee des binationalen Staates weiterhin anhängenden Matzpen-Gruppe in den 1960er Jahren oder die zionismuskritische Kommunistische Partei Israels), noch auch in der minder randständigen Sphäre von Kunst und Kultur. Man denke da an die Aufführung des satirischen Kabaretts „Du und ich und der nächste Krieg“ („At we’ani we’a’milchama ha’baa“) von Hanoch Levin, die im Jahre 1968, ein Jahr nach dem fast die gesamte jüdisch-israelische Bevölkerung euphorisierenden Sieg im sogenannten Sechs-Tage-Krieg, für einen Rieseneklat sorgte, als große Teile des Publikums (sowie des politischen Establishments) sich über die sarkastische Kritik am Krieg, an seinen Werten und Auswirkungen wütend erregten und empörten. Man kann die damalige intellektuelle Leistung Levins nicht hoch genug schätzen und würdigen, zugleich aber auch an der Reaktion des Publikums bemessen, wie weit man in Israels politischer Sphäre mit tabubrechender Kritik gehen durfte – und letztlich bis zum heutigen Tag gehen darf.
Das Ereignis von 1968 kann für paradigmatisch erachtet werden. Das dialektische Verhältnis zwischen dem kritischen Intellektuellen und seinen Rezipienten, deren Reaktion der Kritik die Anerkennung verleiht, zugleich aber auch die Grenzen des konsensuell Zugelassenen, also auch die Brandbreite der jeweiligen Wirkmächtigkeit, anzeigen, hat sich in Israel trotz allen historischen Wandels strukturell kaum verändert. Zwar hat die intellektuelle Kritik an Intensität immer mehr zugenommen; zugenommen hat aber auch das Ausmaß ihrer institutionellen Zurückweisung und Disziplinierung.
Zur Hochblüte gelangte die Praxis der kritischen Intelligenz Israels in den 1990er Jahren. Zweierlei spielte dabei eine gravierende Rolle: Zum einen die Entfaltung der kritischen Theorie Frankfurter bzw. poststruktureller Provenienz an den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten israelischer Universitäten, eine Entwicklung, die sich sehr bald auch auf diverse Bereiche des Feuilletons und der Edelpublizistik ausweiten sollte. Zum anderen aber die Legitimierung der kritisch ausgerichteten (Forschungs-)Ansätze, die Israels Geschichte, Soziologie, Politik und ideologische Kultur zu durchforsten begannen – eine Tendenz, die sich in erster Linie den sich in jenem Jahrzehnt öffnenden Friedensperspektiven verdankte. Der durch Israels Premierminister Yitzhak Rabin und Palästinenserführer Yassir Arafat in Gang gebrachte Oslo-Prozeß nahm dem Primat der in Israel über alles gestellten (und über Jahrzehnte fetischisierten) „Sicherheitsfrage“ so viel Wind aus den Segeln, daß sich die „nach innen“ wirkende Kohäsivfunktion, welche die ideologisierte „Bedrohung von außen“ erfüllte, radikal abschwächte; das ließ die unterdrückten bzw. beschwiegenen inneren Konfliktachsen der israelischen Gesellschaft deutlicher zutage treten, vor allem aber auch deren diskursiven Konfrontation, Erforschung und Erörterung eine zuvor stets verweigerte Akzeptanz verschaffte.
Tabugrenzen wurden dabei mit bemerkenswerter Verve überschritten, eine heilige Kuh des ideologischen Diskurses nach der anderen geschlachtet. Ins Visier genommen wurde alles, was zuvor dem hegemonialen Staatsnarrativ affirmativ untergeordnet worden war, wobei ausgewiesene Historiker, Soziologen, Politik-, Kultur- und Literaturwissenschaftler gewichtige, nicht nur im akademischen Bereich diskutierte Untersuchungen und Monographien vorlegten. Hinterfragt, erforscht und kontrovers erörtert wurden etwa der 1948er Krieg und die in seiner historiographischen Rekonstruktion stets ignorierten Massaker (Benny Morris) und ethnischen Säuberungen (Ilan Pappe); der Stellenwert der Shoah und ihre ideologische Instrumentalisierung in der israelischen politischen Kultur (Tom Segev, Moshe Zuckermann); ethnische Spannungsverhältnisse und die systemimmanente Diskriminierung orientalischer Juden in der israelischen Gesellschaft (Yehouda Shenhav, Yossi Yonah); das Verhältnis von Staat und Religion, insbesondere die pejorativ eingefärbte Wahrnehmung der jüdischen Orthodoxie durch den Zionismus (Amnon Raz-Krakotzkin); Struktur und Mythen der illegalen Einwanderung in der prästaatlichen Ära und am Vorabend der Staatsgründung (Idith Zertal); die affirmative Ideologiefunktion dominanter literarischer Praktiken (Yitzhak Laor, Hanan Hever). Auch generelle Fragen der Geschichtsschreibung wurden zum Thema: etwa das Problem der Deutung des Zionismus als kolonialistisches Projekt (Ilan Pappe), die aktuelle Neuordnung der Gesellschaft im sogenannten Postzionismus (Uri Ram) sowie – immer wieder und mit steigender Emphase – die Infragestellung der Selbstwahrnehmung des Zionismus angesichts der Auswüchse des Okkupationsregimes und der Unterdrückung der Palästinenser (Akiva Eldar und Idith Zertal; Ariella Azoulay und Adi Ophir).
Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen, nicht zuletzt im Hinblick auf Dekonstruktion und Kritik geographischer Praktiken des israelischen Establishments (Oren Yiftachel), repressiver Strukturen des israelischen Erziehungssystems (Ilan Gur-Zeev) und lebensweltlicher wie politischer Ambivalenzen der in Israel lebenden, chronisch unterprivilegierten Araber (Jamal Amal).
Postzionismus?
Man hat die Protagonisten dieser kritischen Bewegung als „die neuen Historiker“ Israels apostrophiert. Die Bezeichnung war nicht gut gewählt. Denn nicht nur waren Vertreter anderer Disziplinen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften an diesem intellektuellen Umbruch beteiligt, sondern auch in Methodik und begrifflicher Fragestellung blieben die Ansätze bei vielen von ihnen durchaus konventionellen Charakters. Benny Morris’ Forschungserträge zur Genese des palästinensischen Flüchtlingsproblems z.B. verdankten sich nicht etwa neuer Forschungsprozeduren, sondern der simplen Tatsache, daß er offenbar in den „richtigen“ Archiven nach den „adäquaten“ Quellen suchte bzw. an diese (ohne vorab feststehenden Plan) geriet.
Ebenfalls defizitär war die pauschale Einstufung der kritischen Intellektuellen als Vertreter eines Postzionismus. Im Jahre 2001 griff das Wochenendmagazin der Tageszeitung Haaretz diesen Begriff auf. In einem Artikel der Publizistin Neri Livneh („Aufstieg und Fall des Postzionismus“) distanzierten sich die meisten der von ihr als Postzionisten interviewten Intellektuellen von dieser Bezeichnung. Amnon Raz-Krakotzkin etwa meinte, Postzionismus sei ein erfundener Name, „um – in pauschal verurteilender Absicht – jeden in einen Topf zu werfen, der sich nicht ganz mit dem Establishment identifiziert, oder kritisch darüber denkt, wie Geschichte gelehrt wird, oder die riesigen Schäden sieht, die der Zionismus den Palästinensern oder den orientalischen Juden zugefügt hat“.
Ähnlich stellte auch Yehouda Shenhav fest, der Postzionismus sei ein leeres Label: „Ich glaube, es ist falsch, weiterhin die Kategorie des Postzionismus zu gebrauchen, weil man sie in verworrener Weise verwendet. Nicht alle, die einer Beendigung der Okkupation das Wort reden, sind notwendig Postzionisten. Wer zu den Grenzen von 1967 zurückkehren möchte, kann ein ausgesprochener Zionist sein, weil er überzeugt ist, daß Nationalismus nicht ohne Grenzen bestehen kann. Andererseits kann man auch behaupten, daß gerade die Siedler Postzionisten seien, weil ihre schiere Existenz (als Siedler) den Bestand eines Nationalismus in klaren Grenzen unterwandert.“
Kehrtwende
Nicht von ungefähr führte Neri Livneh ihre journalistische Umfrage im Jahre 2001 durch. Denn zu diesem Zeitpunkt war bereits etwas in Israels öffentlicher Sphäre geschehen, das man als Untergang der großen kritischen Emphase der 1990er Jahre deuten kann. Zwar blieben die meisten hier namentlich aufgeführten Intellektuellen und ihre akademischen/publizistischen Gesinnungsgenossen ihrem kritischen Blick auf Israel und seine Geschichte treu, aber Akzeptanz und Zulassung ihrer kritischen Äußerungen und Publikationen waren damals in der Öffentlichkeit bereits dermaßen deterioriert, daß man sich fragen mochte (wie es eben Livneh tat), was es mit dem Aufblühen der kritischen Intelligenz im Jahrzehnt zuvor auf sich gehabt hatte. Auslöser dieser Wende war der Zusammenbruch des Oslo-Prozesses und der Ausbruch der zweiten palästinensischen Intifada. Die Militarisierung dieser Intifada (im Gegensatz zur ersten von 1987/88) und die damit einhergehende palästinensische Gewalteskalation erschreckten die israelische Bevölkerung, die sich der Steigerung brutaler Gewalt gegen die Palästinenser auch auf israelischer Seite ausgesetzt sah, in einem solchen Maße, daß man sich bereitwillig dem von seiten Ehud Baraks und seiner politischen Partner verbreiteten Ideologem verschrieb, nun habe sich endgültig erwiesen, daß es keinen Partner für Friedensverhandlungen auf palästinensischer Seite gebe.
Das verlogen Manipulative dieser Behauptung, die weitreichende Folgen für Israels politische Praxis im nachfolgenden Jahrzehnt haben sollte, kann im hier anvisierten Kontext unerörtert bleiben. Von größter Bedeutung für diesen Kontext war aber, daß nicht nur die radikal zionismuskritische Linke Israels nach und nach aus dem Blickfeld des öffentlichen Diskurses geriet, sondern vor allem, daß ein Großteil der zionistischen Linken eine von der No-Partner-Ideologie beseelte Gesinnungswende vollzog, mithin die intellektuelle Affirmation des politisch wie sozial Bestehenden mitzutragen und mit bemerkenswertem neuen Elan dezidiert zu fördern begann.
Für nachgerade paradigmatisch darf in diesem Zusammenhang die ideologische Kehrtwende eines Benny Morris erachtet werden. Nicht, daß er seine Befunde über den 1948er Krieg zurückgezogen hätte (zu positivistisch war er stets ausgerichtet gewesen, als daß er sich hätte leisten können, die von ihm zuvor publizierten Fakten zu widerrufen); aber ihre normative Evaluation ließ sich günstig umschreiben: Von der Argumentationsmatrix der Huntingtonschen Kampf-der-Kulturen-These offenbar inspiriert, stellte er die im besagten Krieg an den Palästinensern verübten ethnischen Säuberungen nicht infrage, sondern bedauerte lediglich, daß sie nicht konsequent genug durchgeführt worden waren. Dem umgeschlagenen Zeitgeist willfahrte er bereitwillig, indem er die Deutung des zuvor Angeprangerten normativ umbog. Darin konnte er sich vielen zionistischen Intellektuellen verschwistert sehen, die sich damals in der Rationalisierung des Umbruchs ihrer ehemaligen Postulate ergingen, wenn sie schon nicht eine lauthals proklamierte Absage an vormalige Positionen vom Stapel ließen. Man konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, daß viele von ihnen nur auf die politisch-historische Gelegenheit gewartet hatten, die Gesinnungswende – gleichsam als Selbsterlösung von der Last der intellektuell-kritischen Verantwortung – endlich vollziehen zu dürfen: Die Rückkehr zum kollektiven Konsens, von dem man vermeintlich ausgeschert war, die behagliche Versammlung ums nationale Stammesfeuer, war ihnen nicht nur ein opportunistisch zweckrationales, sondern auch ein tiefes emotionales Bedürfnis, das die Regulation ihres gequälten seelisch-moralischen Haushalts (und den Umgang mit etwaigen Gewissensbissen ob der nunmehr deutlich demolierten intellektuellen Redlichkeit) erleichterte.
Der Verrat dieser Intellektuellen mag letztlich kein wirklicher gewesen sein: Nicht auszuschließen, daß ihre kritische Haltung in den 1990er Jahren die eigentliche Entgleisung von dem war, was sie im Grunde antrieb: ein archaisches Verlangen dazuzugehören und die Affirmation des „normal“ Vorwaltenden und kollektiv-ideologisch Abgesegneten geistig-politisch betreiben zu dürfen.
Rufer in der Wüste
Dieses Grundmuster hat sich seither erhalten. Als der renommierte israelische Schriftsteller (irakischer Provenienz) Sami Michael jüngst auf einer Konferenz der Universität Haifa sagte, die israelische Kultur sei nicht weniger vergiftet als die extremistischen Strömungen im Islam, mithin den in Israel herrschenden ethnischen Rassismus und die israelische Linke, „die die rassistische Politik (…) fortgesetzt hat und zur elitistischen Sekte in der israelischen Gesellschaft“ verkommen sei, verurteilte, zudem noch hinzufügte, Israel könne mit Recht als „rassistischster Staat in der entwickelten Welt“ gelten, kam es zum Eklat. Die Literaturwissenschaftlerin Nitza Ben-Dov – sie selbst forscht zu den Werken Sami Michaels – erboste sich: „Das war eine rassistische Rede, voller Haß und Unausgewogenheit. Seine Worte waren überheblich, sie machten mich verlegen und empörten mich. Drei Menschen kamen auf mich zu und sagten, das sei die antiisraelischste Rede, die sie je gehört hätten. Es war womöglich ein Fehler, ihn zu dieser Tagung mit diesem Publikum einzuladen. Ich freue mich für ihn, daß er geehrt wurde. Aber nach all den vielen Ehrungen, die er über die Jahre erfahren hat, fühlt er sich noch immer diskriminiert“.
Die Reaktion war bezeichnend: Sie ging nicht auf die gesellschaftlichen, ethnischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen Israels ein, die Sami Michael zu seinen Einschätzungen bewogen haben mochten, nicht auf lebensgeschichtliche Erfahrungen, nicht auf den über die Einzelperson hinausgehenden Schmerz vieler in Israel lebender orientalischer Juden. Statt dessen befleißigte sie sich der Pathologisierung des Redners (sich dabei eines Stereotyps der orientalischen Juden als „ewig Gekränkte“ bedienend) und der damit mutatis mutandis geleisteten Apologie Israels: Sami Michael war es nunmehr, der zum haßerfüllt unausgewogenen Rassisten mutiert war, undankbar trotz aller Ehrungen, die man ihm hat angedeihen lassen; nicht würdig, vor „diesem Publikum“ zu reden. Michaels „Antiisraelismus“ erwies sich für die empörte Rezipientin seiner Rede als Schibboleth des Unertragbaren an ihr.
Gibt es in Israel noch eine wahrhaft kritische Intelligenz? Ja, es gibt sie ohne Zweifel. Aber sie weiß heute wie kaum je zuvor um ihre eigene Erbärmlichkeit. Sie fristet das geistige Dasein von zugelassenen, aber kaum je ernst genommenen Intellektuellen in der Akademie, im publizistischen Feuilleton, in der politisch-sozialen Aktivität des öffentlichen Raums. Sie darf sich äußern, darf zu Wort kommen, aber nur als Randerscheinung, als Rufer in der Wüste, die ihre Relevanz für die allermeisten Bürger Israels längst verloren haben. Ihre Analysen und Einsichten, ihre geistigen Einlassungen und kritischen Provokationen gehen allesamt im Meer einer zunehmend ideologisch verfestigten, kulturindustriell verseuchten und realpolitisch angekurbelten Praxis der Verleitung, Verblendung und Verdummung unter. Sie kann sich zugute halten, den Verrat der Intellektuellen nicht selbst betrieben zu haben, muß sich dabei aber damit abfinden, von denen, die diesen Verrat historisch begangen haben, nur noch müde belächelt zu werden. Der Zeitgeist hat gesiegt. Jedenfalls vorläufig.
Der Soziologe Moshe Zuckermann lehrt seit 1990 am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas (Universität Tel Aviv) und war von 2000 bis 2005 Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv.
Aus: junge Welt vom 04.07.2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schlagwörter: Ideologie, Intelligenz, Intifada, Israel, Moshe Zuckermann, Nationalismus, Zionismus