von Ulrich Kaufmann
Eine spannend zu lesende Erwin-Strittmatter-Monographie gilt es anzuzeigen: Erschienen ist nicht eine, sondern die Biographie über den großen Erzähler. Dies behauptet zu Recht der Berliner Aufbau-Verlag, dem Strittmatter über vier Jahrzehnte die Treue hielt. Annette Leo konnte für ihre Arbeit das komplette Tagebuch bis 1994 nutzen – nicht lediglich den jüngst erschienenen ersten Band, der bis in das Jahr 1973 reicht. Vor allem standen ihr bislang unbekannte Briefe aus der Nazizeit zur Verfügung, die der Gebirgsjäger Strittmatter aus verschiedenen Ländern in die Heimat gesandt hatte. Hinzu kommen Befragungen von Zeitzeugen. Der Band ist keineswegs aus einem Guss, auch hat er einen offenen Schluss. Hier listet die Biographin Fragen auf, denen sie sich ursprünglich noch widmen wollte. Der Reiz dieser Publikation, die durch 40 zum Teil unbekannte Abbildungen bereichert wird, liegt gerade in ihrer Offenheit. Die Befragungen von Zeitzeugen unterbrechen bewusst den Erzählfluss. Annette Leo hat mit einer Schulfreundin, mehreren Söhnen Strittmatters und nicht zuletzt mit Christa Wolf, Erich Loest und Hermann Kant gesprochen. Der Leser erfährt, dass die lange Freundschaft zu Kant auch ihre Brüche und Missverständnisse aufwies.
Man hätte dem Buch ebenso den Untertitel „Eine Recherche“ geben können, wie Sigrid Damm, eine Freundin der Strittmatters, dies bei ihrem erfolgreichsten Buch „Christiane und Goethe“ (1998) getan hat. Leo lässt uns ihren langen und schweren Weg zu den Quellen mitgehen. Die Autorin ist Historikerin, die sich als Kennerin der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 ausgewiesen hat. Ihr wesentlicher Schreibimpuls war nicht zuallererst die Liebe zu den Werken Erwin Strittmatters – wie man dies etwa bei einer Germanistin vermuten würde. Vor allem wollte die Tochter aus einer antifaschistischen Journalistenfamilie erkunden, wie die Generation ihrer Eltern auf Menschen reagierte, die in der Hitlerzeit deutsche Uniformen trugen. Überraschenderweise stellt sich die Autorin des Jahrgangs 1948 im Buch selbst vor und markiert den Blickwinkel auf ihren Autor.
„… ich bin eine Frau, ich habe in der DDR gelebt und ich stamme aus einer Familie, deren Mitglieder in der NS-Zeit zu den Verfolgten gehörten, die im Widerstand /oder im Exil waren. Im Laufe meiner Arbeit ist mir deutlich geworden, dass Erwin Strittmatter zu den Menschen gehörte, vor denen meine Eltern sich wohl immer ein wenig gefürchtet haben.“
Meist lässt Annette Leo die Quellen sprechen, urteilt behutsam. An einer Stelle, in dem langen Kapitel „Verhältnis zu Frauen und Kindern“, spricht sie jedoch deutlich als Mutter. Sie fragt sich, wie der Vater vieler literarischer Kinder (Tinko ist das bekannteste) vor allem in seinen frühen Jahren im Umgang mit seinen „realen“ Kindern nicht selten barsch, ungerecht und überhart sein konnte. „Ähnlich schwer erträglich finde ich vor diesem Hintergrund (den ‚pädagogischen Ambitionen’ des Autors – U.K.) auch seine hingebungsvolle Zuwendung zu den Pferden, die aus beinahe jeder Seite des Tagebuches spricht.“
Die Autorin rüttelt gleich an mehreren Strittmatter-Legenden: So wurde vielen Schülern in der DDR – auch mir – vermittelt, der Erzähler würde den lieben langen Tag in einer LPG arbeiten und abends seine Bücher schreiben. Ja, Strittmatter war Ehrenmitglied einer LPG, er bezog von dort auch das Futter für seine Tiere. Der Genossenschaft übergab er seinen ersten Fernsehapparat, damit viele etwas von diesem neuen Medium hatten.
Eine zweite Versimpelung ist, dass Strittmatter Proletarier gewesen sei. Brechts oft zitierte These, Strittmatter sei mit dem Proletariat aufgestiegen, hat diesen Eindruck noch verfestigt. Leo erinnert uns nachdrücklich daran, dass Erwin Strittmatter aus einer ländlichen, „kleinbürgerlichen Bäcker- und Ladenbesitzerfamilie“ stammt. Vor allem jedoch muss unser Strittmatter-Bild revidiert werden, nachdem wir in die „schwarze Box“ geblickt haben, in die Jahre 1941 bis 1945. In alten Lexika steht, Strittmatter sei Soldat der Wehrmacht gewesen und als solcher vor Kriegsende desertiert. Der Autor war jedoch niemals Soldat, sondern wurde 1941 zum Wachtmeister eines Polizeibatallions ausgebildet. Später diente er im SS-Gebirgsjäger Regiment 18. In mehreren Ländern nahm er an Kämpfen gegen Partisanen teil, auch wenn er sich vor allem als Batallionsschreiber und „Kriegsberichter“ betätigte. Strittmatter war an Plünderungen beteiligt. In einem Brief träumte er davon, sich in der Ukraine „ein ordentliches Stück Land zu mausen.“ Vor allem seinem Vater, der vier Jahre im Ersten Weltkrieg gedient hatte und zu dem er ein eher zwiespältiges Verhältnis besaß, wollte er demonstrieren, dass auch er ein tüchtiger Krieger sei. Strittmatter ist nicht desertiert, sondern im April 1945 unter „günstigen“ Bedingungen in Südböhmen untergetaucht. Kurzum, Strittmatter war, auch wenn er wenig später als Amtsvorsteher die Entnazifizierung leitete, alles andere denn ein Antifaschist. Trotz Strittmatters Beschönigungen seiner Taten in diversen Fragebögen war die Wahrheit Spitzenfunktionären des SED-Parteiapparats partiell bekannt gewesen.
Auch Strittmatters oft wiederholte Beteuerung, er habe niemals einen Schuss abgegeben, ist durch diese Biographie widerlegt: Aus Versehen hat der Hauptwachmeister Strittmatter einen griechischen Bürger, mit dem er befreundet war, getötet. Hat das merkwürdige Ende des dritten „Wundertäters“, bei dem Büdner eine Agentin erschießt, mit diesem Ereignis zu tun? Dies fragt uns die Historikerin Annette Leo. Auch Hermann Kant konnte sich, als er 1980 den Roman rezensierte, auf diesen angehängten Schluss keinen Reim machen.
Die Verfasserin hat ein ungemein faktenreiches und sensibles Buch geschrieben. Ohne die Feinfühligkeit Annette Leos wäre es nicht gelungen, Strittmatters Söhne Erwin und Jakob für die Mitarbeit zu gewinnen. Beide mussten gewiss unter Qualen die Briefe ihres Vaters aus Deutschlands finsterster Zeit lesen. Nur zögerlich haben sie diese Dokumente der Biographin anvertraut. Diese brachte nun vieles ans Licht, das manchen Strittmatter-Freund verunsichern oder ärgern könnte. Das Buch wird harte Debatten auslösen, auch manches Vorurteil gegen den Autor oder die DDR-Literatur bedienen. Aber es bietet die Chance, sich mit neuem Wissen den alten Texten zu nähern. Dies ist umso nötiger, als der viel übersetzte, aber kaum ins „Westdeutsche“ übertragene Autor in heutigen Schullesebüchern nicht mehr vorkommt.
Mit Blick auf ältere Strittmatter-Darstellungen mögen in der vorliegenden die negativen Aspekte dieses Dichterlebens dominieren. Dennoch werden wir auch hier daran erinnert, welch ein Freund und solidarischer Mensch Strittmatter war. In schwierigsten Situationen stand er Kollegen zur Seite, etwa Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann, auch finanziell.
Und er widerlegte die alte Weisheit: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“ Hans, nein Erwin lernte gemeinsam mit seinem jüngsten Sohn Jakob das Schwimmen – im 60. Lebensjahr.
Annette Leo: Erwin Strittmatter – Die Biographie, Aufbau-Verlag, Berlin 2012, 448 Seiten, 24,99 Euro
Schlagwörter: Anette Leo, DDR, Erwin Strittmatter, Ulrich Kaufmann