von Ulrike Steglich
Himbeeren und Blaubeeren vom Strauch naschen. Frösche beobachten. Nachts den Mond und die Sterne anschauen. Vom Steg in den klaren Roofensee springen. Kleine Fische und Krebse fangen und wieder frei lassen. Pfifferlinge suchen. Durchs Dörfchen spazieren, mit den Bewohnern plaudern. – Es waren nur zehn Tage, aber wir genossen den Urlaub. Menz ist ein kleines, malerisches Dorf, nur zehn Kilometer von Rheinsberg gelegen. Man kann zum Stechlinsee wandern, Theodor Fontane und Kurt Tucholsky verhalfen den vielen idyllischen Fleckchen in der brandenburgischen Mark auch zu literarischem Ruhm. Wunderbar ist es, mit Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ die Gegend zu erleben.
Das Problem ist nur: Man hat nicht immer Zeit zum Wandern, oder auch zu viel Gepäck. Banale Dinge wie die täglichen Lebensmittel beispielsweise. Urlauber schaffen das schon für zehn Tage, aber es gibt ja auch noch Anwohner, die immer damit klarkommen müssen. Das Problem liegt schlicht darin, dass Menz und die vielen kleinen Orte im Umland inzwischen von fast jeglicher Infrastruktur abgeschnitten sind. Wer kein Auto hat, hat schon verloren, denn in den Ferienzeiten verkehrt hier nicht mal mehr ein regulärer Bus: Nur zwei Rufbuslinien sind verfügbar, eine Stunde vor der gewünschten Abfahrt muss man anrufen. Eine Bahn fährt längst nicht mehr. Dass man früher frische Brötchen und Milch im Dorf kaufen konnte, gehört ebenfalls zu den nostalgischen Erinnerungen – der Dorf-Konsum hat bereits vor Jahren geschlossen. Es gibt nicht mal mehr einen Kiosk. Dreimal in der Woche fährt ein Bäckerwagen durch den Ort, das ist alles. Ansonsten müssen Anwohner und Besucher im mehrere Kilometer entfernten Fürstenberg oder in Rheinsberg einkaufen. Insbesondere ältere Anwohner und Kinder haben damit – mit Verlaub – die Arschkarte.
„Ohne Auto geht hier nüscht mehr“, erklärt der Imbissbetreiber lakonisch. Der Imbisswagen ist mittlerweile der einzige Ort, um in Menz etwas Essbares zu finden, wenn der Kühlschrank leer ist (mal abgesehen von saisonabhängiger Selbstversorgung wie Blau- und Himbeeren, Pfifferlingen, Maronen, Maränen und Krebsen).
Das Ehepaar, das den Imbisswagen betreibt, hat seine eigene Geschichte. In dem Dorfsträßchen um die Ecke sieht man noch die Gaststätte, die sie kurz nach der Wende gegründet hatten, im selbst gekauften Haus. Dreißig Gerichte hat die Wirtin dort täglich frisch angeboten, Wild, Fisch, Hausmannskost, und man glaubt ihr das, so resolut und fix, wie sie hinter dem Herd hantiert, Schnitzel und Bouletten brät, Bratkartoffeln und „Tote Oma“ zubereitet. Vor vier Jahren musste aber dem Wirt, ihrem Ehemann, ein Bein amputiert werden. Die Bank forderte umgehend den Hauskredit zurück. Die Immobilie gehört nun wieder der Bank – und steht noch heute leer. Doch das Paar wollte nicht aufgeben. Mit dem Imbisswagen überbrückt es die Krise und finanziert den neuen Gasthof, den es nach und nach ausbaut. Diesmal lieber ohne Bank.
Gut, Menz ist ein Dorf. Aber das berühmte Rheinsberg mit seinem Schloss und der reizvollen Landschaft sollte der Deutschen Bahn als Tourismusziel doch wenigstens eine vernünftige Bahnverbindung wert sein. Meint man – aber die Bahn hat da eine andere Logik. Wer im Internet Direktverbindungen von Berlin nach Rheinsberg sucht, wird vor ernsthafte Herausforderungen gestellt, Regionalzüge verkehren nur alle vier Stunden (wenn überhaupt), und sie herauszufinden, ist eine logistische Meisterleistung.
Wer in der Ferienzeit partout zu so exotischen Orten wie Menz will, muss nach Gransee, Fürstenberg oder Rheinsberg fahren und von dort aus ein Taxi nehmen. Der Taxifahrer erzählt, dass Rheinsberg nur noch von April bis Oktober mit dem Zug zu erreichen ist: „Im Winter ist der Bahnhof zu.“ Ab nächstem Jahr soll die Bahnstrecke Berlin-Löwenberg-Rheinsberg dann völlig eingestellt werden.
Die Mark Brandenburg ist nicht der einzige Landstrich, der infrastrukturell abgehängt wird. Bundesweit leiden ländliche Gemeinden und kleinstädtische Kommunen teils unter sinkenden Einwohnerzahlen, vor allem aber unter der sterbenden Infrastruktur. Es ist ein Teufelskreislauf: Kleine Läden müssen schließen, weil große Billig-Discounter auf der grünen Wiese sämtliche Kaufkraft abziehen. Zwar trauern viele den klassischen Tante-Emma-Läden nach – weil aber auch Armut und Arbeitslosigkeit in den kleinen Gemeinden grassieren, sind die finanziellen Mittel knapp. Wer kann, fährt mit dem Auto zu ALDI oder Lidl. Zahllose Arbeitsplätze verschwanden mit der Vereinigung und der damit einhergehenden Deindustrialisierung im Osten.
Klein- und mittelständische Betriebe müssen angesichts mangelnder Aufträge dichtmachen. Die Kommunen können wegen sinkender Zahlungszuweisungen des Bundes (bemessen nach Einwohnerzahlen) und sinkender Steuereinnahmen kaum noch die notwendigste öffentliche Daseinsvorsorge leisten – wie den öffentlichen Nahverkehr. In den schrumpfenden Regionen Ostdeutschlands, aber auch in dünn besiedelten Gegenden Norddeutschlands und anderswo hat man deshalb das kommunale Rufbussystem entwickelt, das autolosen Anwohnern zumindest notdürftigste Verkehrsanbindungen ermöglicht.
Besonders hart trifft die kleineren Gemeinden die gnadenlose Politik der Bahn. Rücksichtslos wird abgehängt, was nicht lukrativ erscheint. Über die oft nicht mehr nachvollziehbare Logik und die katastrophale Politik des börsensüchtigen Monopol-Unternehmens mit ihren desaströsen Folgen haben die Journalisten Lutz Schumacher („Nordkurier“) und Mark Spörrle („Die Zeit“) in ihren Bestsellern „Senk ju vor träwelling“ und „Der Anschlusszug kann leider nicht warten“ geschrieben – selbstverständlich war das Unternehmen darüber „not amused“, um es diplomatisch auszudrücken.
Rheinsberg mag mit seinen circa 8.300 Einwohnern ein kleines Städtchen sein, aber auch kleine Städtchen und Dörfer haben ein Recht auf Daseinsvorsorge – sofern nicht politisch entschieden wird, sie wegen sinkender Einwohnerzahlen gleich endgültig dicht zu machen und die verbliebenen Bewohner umzusiedeln (was sogar für die Stadt Hoyerswerda schon einmal vorsichtig erwogen wurde). Doch Rheinsberg ist ist bislang keine „sterbende Stadt“ und zudem ein Ziel vieler Touristen – der Tourismus ist wiederum eine wesentliche Einkommensquelle. Den Zugang dazu mehr und mehr zu verknappen und letztlich abzuschneiden, würde letztlich das Aus bedeuten, nicht nur für Rheinsberg und die kleinen Orte im Umland, sondern auch für viele andere Regionen.
Wer in den letzten Jahren versucht hat, nach Weißwasser, Bitterfeld-Wolfen oder Lauchhammer zu fahren, ehemals wichtige Industriestädte im Osten Deutschlands, musste viele Stunden einplanen. Wer in den neuen Bundesländern, aber auch im Westen, die zahlreichen geschlossenen Bahnhöfe sieht, mit zugemauerten Wartehallen, in denen bestenfalls noch Fahrkartenautomaten und ein Blechdach als Regenschutz auf die Fahrgäste warten, erlebt den Zynismus renditeorientierter Staatsunternehmen in Reinkultur.
Von Berlin aus braucht man in das 80 Kilometer entfernte Rheinsberg inzwischen sagenhafte drei Stunden mit der Bahn. Etwa so lange dauert auch die Fahrt von Berlin ins 134 Kilometer entfernte polnische Szczecin an der Ostsee (sofern die Bahn fährt).
Die Bahnstrecke Berlin-Stettin wurde um 1843 in Betrieb genommen, am heutigen Nordbahnhof in Berlin-Mitte.1843 brauchte man anderthalb Stunden mit dem Zug nach Stettin. Halb so lange, wie das börsenorientierte, bundeseigene Bahnunternehmen mit seinen schicken, optimierten Zügen heute benötigt.
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