15. Jahrgang | Nummer 14 | 9. Juli 2012

Die Geheimwelt des listigen Schulzenhofers

von Ulrich Kaufmann

„Einen Tag nicht geschrieben – einen Tag nicht gelebt“, notierte Erwin Strittmatter im Januar 1955 in sein Tagebuch, das mit dem ersten Julitag des Vorjahres einsetzt. Der Beginn dieses Diariums markiert eine Zäsur: Er fällt mit der Übersiedlung Eva Brauns und Erwin Strittmatters nach Schulzenhof zusammen. Zunächst findet der Leser noch kein stilisiertes Tagebuch vor, sondern stichpunktartige Alltagsnotate. Diese sollen den Schreiber erinnern, woran er in Schulzenhof und Buckow, dem Sommersitz seines Mentors Brecht, zu denken hatte, an die Fahnenkorrektur des „Tinko“- Romans etwa.
Ein Großteil seiner Tagebucheintragungen hat Strittmatter mit gestochener Handschrift in 488 Groschenhefte im DIN A 6 Format geschrieben. Der vorliegende erste Band reicht bis ins Jahr 1973, in dem Walter Ulbricht starb. An ihm lässt Strittmatter kein gutes Haar. Mehr als zwei Jahrzehnte hatte er sich an diesem „amusischen Diktator“ abgearbeitet.
Das Buch mit dem lapidaren Titel „Nachrichten aus meinem Leben“ weist den Zusatz „Aus den Tagebüchern“ auf. Mit einer Auswahl haben wir es zu tun, die Almut Giesecke besorgte und akribisch kommentierte. Zuallererst waren Strittmatters Eintragungen Arbeitsmaterial für das Werk, dem Strittmatter alles (!) unterordnete. Aus diesem Speicher konnte er schöpfen, als er an den Bänden „Schulzenhofer Kramkalender“, „3 / 4 hundert Kleingeschichten“, „Wahre Geschichten aller Artd(t)“ und „Die Lage in den Lüften“ arbeitete. Dopplungen sollten vermieden werden, ein Großteil der zahlreichen Reiseberichte, die der Autor meist separat festhielt, wurden nicht aufgenommen. Auch Entwürfe zu einem umfangreichen, Fragment gebliebenen Pferdeprojekt liegen in gekürzter Form vor. Und natürlich mussten Partien gestrichen werden, um Persönlichkeitsrechte zu wahren. Wer das Buch kaufen sollte, um von amourösen Abenteuern zu lesen, die es in Strittmatters Leben auch gab, könnte eher enttäuscht werden.
Umso mehr erfährt der Leser über jene Frau, die über vier Jahrzehnte an der Seite des Erzählers stand: Was die Dichterin Eva Strittmatter neben ihrem Werk für die Familie, den Schulzenhof und vor allem für ihren Schriftstellergatten geleistet hat, kann kaum überschätzt werden. In vielen Facetten wird dies nunmehr tiefer begreifbar. Erwin Strittmatter litt seit den dreißiger Jahren nicht selten unter Depressionen – das Wort Selbstmord wird erschreckend oft gebraucht. Cholerisch war er gelegentlich und seine legendäre Arbeitsbesessenheit war für seine Frau und die Söhne mitunter schwer zu ertragen. Keiner wusste dies so genau wie Strittmatter selbst. Dem „Evchen“ seiner Tagebücher ist diese Edition gewidmet. Eva Strittmatter konnte diese Publikation noch anregen, jedoch war es ihr nicht mehr vergönnt an ihr mitzuwirken.
Entstanden ist ein erregender „Entwicklungsroman“, der für jeden Freund Strittmatters vielfältige neue Einblicke in die Lebens- und Werkgeschichte bereithält. Er ist ein  gewichtiges männliches Pendant zu Irmtraud Gutschkes Interviewband „Leib und Leben“ von 2008, in dem sie ausgiebig Eva Strittmatter zu Wort kommen ließ.
Neben seiner Frau, deren Rang als Lyrikerin der Ehemann freilich überschätzte, ist es vor allem Bertolt Brecht, der Strittmatter bis in seine Träume begleitete und auf den er immer wieder zu sprechen kommt. Viele Anekdoten Strittmatters über den „listigen Augsburger“ sind seit Jahrzehnten bekannt. Nunmehr sieht der Leser, dass Strittmatter seinen Förderer nach dessen Tod zunehmend kritischer bewertet. So bemängelt er 1969 zum Beispiel Brechts „mangelnden Ernst“, seine flapsigen Urteile über Goethe („den alten Säuferrr“) und Thomas Mann, Brechts „Lieblingsfeind“, den der Tagebuchschreiber mehr und mehr für sich entdeckt. In einer Eintragung vom Januar 1964 erinnert sich Strittmatter, dass Brecht gesagt habe: „Wissen möchte ich, was der Bunge und die Rülicke mit mir gemacht hätten, wenn ich ihnen vor paar Jahren begegnet wäre?“ Brecht und Strittmatter spielen hier darauf an, dass die engen Vertrauten vor 1945 als Wehrmachtsoffizier beziehungsweise als Funktionärin des BDM tätig waren. Nichts im Tagebuch verweist darauf, dass Strittmatter mit dem Weltdramatiker tiefgründig über seine Verwicklungen und Konflikte während der Nazidiktatur gesprochen hätte.
Nach der Lektüre dieses „verbuchten Lebens“ versteht man die Prägungen des Autors genauer: Seine ländliche Sozialisation in einer kleinbürgerlichen Bäcker – und Ladenbesitzerfamilie, das verhinderte Abitur 1930, das harte Dasein als Bäcker, Tierwächter, Chauffeur und Hilfsarbeiter. Dieser Erfahrungsfond war, wie bei dem von ihm geschätzten Gorki, der gleichfalls als Bäcker geschuftet hatte, seine „Universität“. Als aus dem Volke kommender Autor von Rang, als Autodidakt spürte Strittmatter ein Leben lang Skepsis gegenüber Intellektuellen, professoralen „Literaturerklärern“ und Städtern, die zunehmend weniger von der Natur verstanden.
Strittmatters Urteile über Heiner Müller, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Stefan Hermlin oder Christa Wolf lernt man verstehen, teilen muss man sie deshalb nicht. Dies gilt auch für Helene Weigel, deren Leistung als „Prinzipalin“ des Berliner Ensembles er einseitig abwertet. An Brechts Grab hat Strittmatter gesprochen, der Darstellerin der Mutter Courage wollte er keinen Nekrolog widmen. Kurzum, für Meinungsstreit dürfte gesorgt sein, nicht nur nach dem Lesen der Passagen, in denen sich Strittmatter zu Kollegen äußert.
Der Tagebuchleser wird vielfältig darüber unterrichtet, welche Autoren Strittmatter besonders schätzt: Immer wieder nennt er (neben anderen) den Nobelpreisträger Halldór Laxness, den er in Island besuchte, Michail Prischwin, Knut Hamsun, Ralph Waldo Emerson und vor allem Lew Tolstoi. „Mit Tolstoi fing es an, mit Tolstoi hört es auf – dazwischen war mein Lebenslauf“, schrieb er 1971. Schulzenhof wurde sein Jasnaja Poljana. Landschaften Russlands und andere Gegenden der vormaligen UdSSR, namentlich in Georgien, wurden für Strittmatter zur „zweiten Heimat“.
Der Schriftsteller Strittmatter hat sich in den fünfziger und sechziger Jahren zugleich als Kulturfunktionär der SED begriffen und an vorderster Stelle im Schriftstellerverband sowie in der Akademie der Künste gewirkt. Mehr und mehr zweifelt er jedoch an der Kulturkompetenz der Parteiführung. Sein fast völliger Rückzug aus dem öffentlichen Leben der späten DDR wird so verständlich. Zunehmend agiert die regierende Partei für ihn wie eine „Sekte“, die gepriesene Weltanschauung nimmt er mehr und mehr als „religiösen Marxismus“ wahr. Er sieht, dass der Marxismus, der für Brecht und ihn lange Kompass war, als Weltanschauung zu kurz greift, da er ganze Lebensbereiche ausblendet. Von daher wird begreiflich, weshalb sich Erwin Strittmatter unter anderem über Jahrzehnte mit dem Zen-Buddhismus und den Schriften des chinesischen Philosophen Laotse beschäftigt.
Das Tagebuch macht uns neuerlich bewusst, wie eng der Lebensweg des großen Erzählers auch mit Thüringen verbunden ist: Vor und nach 1945 hat er in Saalfeld mit seiner Familie gelebt, Goethe und Weimar hatten es ihm angetan. Während der Hochschulferienkurse las er in der Ilmstadt gern aus neuen Texten. Ende der sechziger Jahre war Strittmatter mit einem Projekt über das Jenaer Zeiss-Werk befasst, das auch aus Gründen der Geheimhaltung scheiterte…
Auf den Fortsetzungsband dürfen wir gespannt sein.

Erwin Strittmatter: Nachrichten aus meinem Leben: Aus den Tagebüchern 1954-1973, Erster Teil, herausgegeben von Almut Giesecke, Aufbau Verlag, Berlin 2012, 530 Seiten, 24, 99 Euro