15. Jahrgang | Nummer 14 | 9. Juli 2012

Bemerkungen

Über „gutes Regieren“

So wenige Geburten wie im vergangenen Jahr hat es in der Bundesrepublik noch nie zuvor gegeben, ist gerade publik geworden. Da dieser Tage anlässlich seines 300. Geburtstages viel von Rousseau die Rede ist, bietet sich eine Passage aus seinem „Gesellschaftsvertrag“ von 1762 förmlich an, an dieser Stelle in Erinnerung gerufen zu werden:
„Wenn man unbedingt wissen will, welche Regierung die beste ist, so wirft man eine ebenso unlösbare wie unbestimmte Frage auf oder auch, wenn man will, eine Frage, die ebenso viele richtige Lösungen hat, wie es mögliche Kombinationen in den absoluten wie relativen Lagen der Völker gibt.
Fragt man dagegen, woran man erkennt, ob ein bestimmtes Volk gut oder schlecht regiert wird, so ist dies etwas anderes, und eine so gestellte Frage kann richtig beantwortet werden.
Indessen ist ihre Lösung noch nicht gefunden, weil sie jeder auf seine Weise lösen will. Die Untertanen preisen die öffentliche Ruhe, die Staatsbürger die persönliche Freiheit; der eine stellt die Sicherheit des Eigentums höher, der andere die der Person; dem einen gilt die strengste Regierung als die beste, dem anderen die Verhütung der Verbrechen: Der eine findet es schön, bei seinen Nachbarn gefürchtet zu sein, der andere möchte ihnen lieber unbekannt sein; der eine ist zufrieden, wenn Geld im Umlauf ist, der andere verlangt, daß das Volk Brot habe. Selbst wenn man über diese und ähnliche Punkte derselben Ansicht wäre, hätte man damit viel gewonnen? Da die moralischen Eigenschaften jedes genauen Maßstabes entbehren, würde man sich wohl über das Kennzeichen einer guten Regierung einigen, wie aber sollte dies bei einer moralischen Bewertung der Fall sein?
Mich persönlich setzt es immer wieder in Erstaunen, daß man ein ganz einfaches Kennzeichen absichtlich oder unabsichtlich nicht wahrnimmt. Was ist denn der Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung? Doch nichts anderes als die Erhaltung und das Wohl ihrer Glieder. Und welches ist das sicherste Kennzeichen für ihr Wohlbefinden? Die Zunahme der Bevölkerung. Man suche also dieses vielumstrittene Kennzeichen nicht woanders. Bei Gleichheit aller übrigen Verhältnisse ist unstreitig die Regierung die beste, unter der sich ohne fremde Mittel, ohne Naturalisation, ohne Kolonien die Zahl der Staatsbürger vermehrt. Die Regierung dagegen, unter der ein Volk dezimiert wird, ist die schlechteste. Jetzt, ihr Rechenkünstler, macht euch ans Werk! Zählt, meßt und vergleicht!“

Horst Jacob

Polit-Pinocchios

Wer mag ihn nicht, den hölzernen Starrkopf aus Collodi bei Bagno di Lucca? Nie wollte der nichts einsehen – aber letztlich ging die Sache gut aus und selbst Vater Geppetto hatte nach tieftrauriger Zeit im Bauche des Walfisches noch seine Freude am so gar nicht mehr holzköpfigen Pinocchio.
Irgendwie erinnert die Parteispitze der LINKEN an Carlo Collodis sture Schöpfung. Erst vor kurzer Zeit in Göttingen mit Ach und bedeutend mehr Krach gewählt – anschließend gelobte man Besserung – (siehe Das Blättchen 12/2012) fetzte man sich vor der Sommerpause wieder. Am 24. Juni wählte der Parteivorstand vier (!) Mitglieder in den geschäftsführenden Vorstand, die nicht wie die tonangebende Zweidrittelmehrheit per Amt „gesetzt“ sind. Auch hier wiederholte sich das Strömungsritual der Gegenkandidaturen. Nur setzten sich diesmal die „gewissen Kreise“ – so benamste Gregor Gysi vor kurzem die tatsächlichen „Entscheider“ am Schaltbrett der Macht – durch. Neben Heinz Bierbaum, Oskar Lafontaines Kommissar in Berlin, darf sogar eine „Reformerin“ (Oh Gott, was sind die anderen?) mitspielen: Katina Schubert. Für Nichteingeweihte: Der Parteivorstand hat 44 Mitglieder, damit ist schwer zu regieren. Also hat man einen „geschäftsführenden Parteivorstand“ mit zwölf Mitgliedern gebildet. Das ist wie früher: Da gab es ein Zentralkomitee. Das tagte gelegentlich. Dann gab es ein Politbüro, eine Art geschäftsführenden Parteivorstand. Das tagte regelmäßig. Und dann gab es noch wie überall den internen Führungszirkel, die „gewissen Kreise“ eben. In der LINKEN setzt sich diese Führungsstruktur fort bis zur Ebene der Kreisvorstände. Wie seinerzeit in der SED. „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“, zitierte Wolfgang Leonhardt Walter Ulbrichts Kommentierung dieser geschickten Art von Kaderpolitik. Einen kulturellen Fortschritt gab es im Berliner Karl-Liebknecht-Haus immerhin: Die Genossinnen und Genossen haben sich nicht angebrüllt. Es sei auf der Sitzung „sehr ruhig geblieben“, vermeldete das Neue Deutschland. War da etwa doch die Fee mit den blauen Haaren in der Nähe?
Wenn das ruhige Mitteilen von unerhörten Dingen ein Zeichen „neuer politischer Kultur“ ist, dann sollte die LINKE die Kanzlerin zur Ehrenmitgliedschaft überreden: „Es wird keine gemeinsame Haftung für die Schulden anderer Länder geben, solange ich lebe“, verkündete Angela Merkel Ende Juni auf einer FDP-Veranstaltung. So vermeldete es MDR-Thüringen ohne nachfolgendes Dementi. Das ist nichts anderes als die Ankündigung lebenslanger Kanzlerinnenschaft ohne Rücksicht auf irgendwelche Verfassungen. Woanders nennt sich das absolute Monarchie. Oder ist es auch nur die erwähnte personengebundene tuskische Holzpuppensturheit in einer norddeutschen Unterart?

Günter Hayn

Zurück in die Zukunft

„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“

Aus dem Ahlener Programm der CDU von 1947

Oder:
„Die Wirtschaft hat der Entfaltung der schaffenden Kräfte des Menschen und der Gemeinschaft zu dienen. Ausgangspunkt aller Wirtschaft ist die Anerkennung der Persönlichkeit. Freiheit der Person auf wirtschaftlichem und Freiheit auf politischem Gebiet hängen eng zusammen. Die Gestaltung und Führung der Wirtschaft darf dem Einzelnen nicht die Freiheit seiner Person nehmen. Daher ist notwendig:
Stärkung der wirtschaftlichen Stellung und Freiheit des Einzelnen; Verhinderung der Zusammenballung wirtschaftlicher Kräfte in der Hand von Einzelpersonen, von Gesellschaften, privaten oder öffentlichen Organisationen, durch die die wirtschaftliche oder politische Freiheit gefährdet werden könnte. Kohle ist das entscheidende Produkt der gesamten deutschen Volkswirtschaft. Wir fordern die Vergesellschaftung der Bergwerke.
In Verfolg dieser Grundsätze ist nunmehr von der CDU folgendes Programm für die Neuordnung der Wirtschaft beschlossen worden.“

Man ersetze die Bergwerke (zum Beispiel) durch die Banken – und das Parteiprogramm der CDU von 1946  könnte man glatt unterschreiben.

HWK

Vom „ehrbaren Kaufmann“

Der 2011 verstorbene Werner Otto, Gründer der Otto Group und einer der Wirtschaftspioniere der Bundesrepublik, hatte einst sein Verständnis von ehrbarem Unternehmertum in folgenden Aussagen gebündelt:
„Jede Firma hat einen Charakter. Wenn der verloren geht, verschwindet auch der Erfolg.“
„Oft genug scheitern Unternehmer, die ihre Tätigkeit in erster Linie auf den Gewinn ausrichten, weil sie letzten Endes ihrem Unternehmen nicht die tragende Säule gegeben haben, die darin besteht, eine Grundsatzmoral zu haben, grundsätzlich bestimmte Auffassungen zu vertreten, sich an sie zu halten und sich von ihnen auch leiten zu lassen.“
Kundenverantwortung
„Ich schätze meine Kunden und bin der Ansicht, den Menschen, die mir ihr Geld bringen, die mir ihr Vertrauen schenken und die sich auf mich verlassen, muss ich auch entsprechend gegenübertreten; ich darf sie nicht enttäuschen. Es ist mir unverständlich, mit welcher Arroganz in manchen Geschäften die Inhaber dem Kunden gegenüber auftreten – so als sei es eine Gnade, dass der Kunde bei ihnen kaufen darf.“
Gesellschaftsverantwortung
„Nicht nur an Umsatzzahlen und Produktionsziffern wird der moderne Unternehmer gemessen, sondern immer mehr auch daran, was er aus sozialer Verantwortung heraus bereit ist, für die Gesellschaft zu tun.“
Soziale Marktwirtschaft
„Die Shareholder-Value-Ideologie ist eine Pervertierung der sozialen Marktwirtschaft. Damit rutschen wir wieder in den Frühkapitalismus hinein.“
„Zur sozialen Marktwirtschaft zähle ich nicht nur das gesellschaftliche Engagement, beispielsweise in Form von Spenden für wohltätige Zwecke. Sie beginnt bereits, wenn ein kleiner Unternehmer in wirtschaftlich schwieriger Zeit versucht, sich und seine Mitarbeiter über Wasser zu halten. Und dazu gehört auch, wenn ein erfolgreicher Unternehmer Überschüsse reinvestiert, anstatt sie dem Unternehmen zu entziehen.“
Umweltverantwortung
„Dass die Umweltverhältnisse in manchen Ländern noch schlimmer sind, befreit uns nicht von der Verpflichtung, die wir für unseren Lebensraum tragen, in dem unsere Nachkommen auch noch ein lebenswertes Leben führen wollen.“

Werner Otto knüpfte mit dieser Philosophie direkt an das historisch in Europa gewachsene Leitbild für eine verantwortliche Teilnahme am Wirtschaftsleben an. Laut Wikipedia steht es für ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein für das eigene Unternehmen, für die Gesellschaft und für die Umwelt. Ein Ehrbarer Kaufmann stützt sein Verhalten auf Tugenden, die den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg zum Ziel haben, ohne den Interessen der Gesellschaft entgegenzustehen. Nun kann hier nicht untersucht werden, wie umfangreich jener Teil von heutigen Unternehmern ist, die in besagtem Sinne als „ehrbare Kaufleute“ bezeichnet werden könnten. Vielmehr sei aber darauf hingewiesen, dass auch Banker Kaufleute sind, Bankkaufleute eben. Hier fällt eine einschlägige Schätzung denn doch sehr viel leichter.

HWK

Robert Bosch, Bosch GmbH

„Die anständigste Art der Geschäftsführung ist auch die beständigste.“
„Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich viel Geld habe, sondern ich habe viel Geld, weil ich gute Löhne zahle!“
„Geld verloren, nichts verloren. Vertrauen verloren, alles verloren.“
„Lieber Geld verlieren als Vertrauen.“

Kunstgriff 32

„Eine uns entgegenstehende Behauptung des Gegners können wir auf eine kurze Weise dadurch beseitigen oder wenigstens verdächtig machen, daß wir sie unter eine verhaßte Kategorie bringen, wenn sie auch nur durch eine Ähnlichkeit oder sonst lose mit ihr zusammenhängt: z. B. „das ist Manichäismus, das ist Arianismus; das ist Pelagianismus; das ist Idealismus; das ist Spinozismus; das ist Pantheismus; das ist Brownianismus; das ist Naturalismus; das ist Atheismus; das ist Rationalismus; das ist Spiritualismus; das ist Mystizismus; usw.“ – Wir nehmen dabei zweierlei an: 1.daß jene Behauptung wirklich identisch oder wenigstens enthalten sei in jener Kategorie, rufen also aus: oh, das kennen wir schon! – und 2. daß diese Kategorie schon ganz widerlegt sei und kein wahres Wort enthalten könne.“
35 rhetorische Kunstgriffe hat Arthur Schopenhauer in „Die Kunst, Recht zu behalten“ einst zusammengetragen mit denen man auch dann siegreich aus einem Disput hervorzugehen vermag, wenn man im Unrecht ist. Dass sich die Zahl der vorwurfgeeigneten -Ismen seit Schopenhauer reichlich erweitert hat, sei hier nur angemerkt …

HWK

Kurze Notiz über Weißenfels

Die Stadt am Bogen der Saale hat sich gemausert. Weißenfels ist nicht mehr die Schuhstadt der DDR, auch nicht mehr das tote Industriekaff der Nachwendezeit, sondern eine ruhige und im besten Sinne gediegene Stadt, die stolz auf ihren Novalis, auf ihre Herzöge und ihren bronzenen Schusterjungen ist, der im Stadtpark auf einem Sockel steht, dessen Inschrift auch für das Weißenfelser Lebensgefühl stehen könnte: „Weil’s mich freut“.
Die Innenstadt hat ihren ganz eigenen Charme; enge Gassen mit niedlichen Boutiquen und Fachwerkhäusern, dazu ein paar repräsentative Bauten in zartem Rosa gehalten, ein breiter Marktplatz mit wunderschönem Brunnen – überhaupt finden sich in Weißenfels an allen Ecken und Enden kleine Wasserspiele, die es zu entdecken lohnt.
Und über dieser herrlichen Altstadt, die besonders an einem lauschigen Sonnentag ihre ganze (überraschenderweise auch grüne!) Pracht entfaltet, steht das Schloss der fünf Herzöge, die von hier aus bis nach Querfurt und Barby herrschten. Aber das ist lange her, das Schloss ist ein alter Kasten, der nur an den drei der Altstadt zugewandten Seiten weiß getüncht ist und hintenrum verfault. Auch das mag für Weißenfels stehen: der Glanz ist da, der Dreck aber auch (noch).
Besonders düster ist es in der Neustadt, die auf der anderen Seite der Saale liegt und dort auch besser bleibt. Hier wohnen alle aktuellen Herausforderungen der Gesellschaft nebeneinander und genau da hört Weißenfels auf, lauschiges Museum zu sein, und kommt in der Realität an. Anders wäre es vielleicht auch zu schön, um wahr zu sein.

Thomas Zimmermann

Confusione maxima

Wir Teutonen sind stolz darauf, dank eines umfassenden und gründlichen Informationsapparates bestens präpariert zu sein, wenn es um Wahrnehmung und Analyse der uns umgebenden und für uns alle höchst relevanten Lebensumstände geht. Sofern dies das Leben etwa Dieter Bohlens oder Heidi Klums betrifft, darf diese Erkenntnis auch als gesichert gelten. In randständigen Angelegenheiten begegnet man indes noch der einen oder anderen Schwäche, in diesem Falle Widersprüchlichkeit. So melden also dieser Tage die Experten (!) des Internationalen Währungsfonds (IWF), dass sie ihre Prognose betreffs deutscher Wirtschaftsentwicklung anheben. Es sei „bemerkenswert“, wie sich Deutschlands Wirtschaft trotz der misslichem Gesamtumstände behaupten würde – sagt also der IWF zu unserem Ruhme  und Stolze, denn doch – wenn auch vielleicht versehentlich – die richtige Regierung gewählt zu haben.
Am gleichen Tage (4.7.2010!) verbreitet Spiegel-online jedoch eine ganz andere Meldung. Das Forschungsinstitut DIW rechnet nämlich mit einem schwachen Sommerhalbjahr. Für 2013 haben dessen Experten (!, was denn sonst) ihre Prognose auf knapp 2,0 Prozent gesenkt.
Dass wir auf Gottvertrauen gepolt sind und praktischerweise die eigene Regierung für herrengleich zu halten gewillt sind, ist einfach Fakt und verbietet jedwede Kritik – wir Dödel sind halt so. Aber was zum Teufel soll man nun glauben, wo doch all überall Experten am Werke sind. Und wo nicht Mal Bild finale Auskunft zu geben vermag …

Helge Jürgs

Herrschaftssprech

Das Meinungsforschungs-Institut Forsa hat dieser Tage die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, bei der 2.600 Erwachsene nach der Verständlichkeit offizieller Schriftdokumente befragt worden sind. Das Ergebnis: vor allem Steuer- und Versicherungsdokumente sind für viele nur schwer oder gar nicht zu verstehen. Ganze fünf Prozent der Befragten sehen sich dazu als Laien in der Lage. Auch die Produktinformationen von Mobilfunk- und Stromanbietern kommen schlecht weg: Mobilfunkunterlagen werden nur von elf Prozent verstanden, Stromkundeninformationen erschließen sich 15 Prozent der Befragten. Besser schneiden das Kleingedruckte auf Lebensmittelpackungen und Beipackzettel von Pharmaka ab, die immerhin von 26 und 32 Prozent als für jeden verständlich eingestuft werden.
Sieht man davon ab, dass es sich auch in diesen „positiven“ Fällen um klare Minderheiten handelt, vermag Forsa in toto wohl niemanden zu überraschen. Und schon gar nicht, dass auf den genannten Sektoren Besserungen seit eh und je nicht in Sicht waren und sind. Immerhin sichern die einschlägigen „Herrschaftssprachen“ von Juristen, Finanzbeamten und Medizinern ganzen Branchen ihre – in der Regel sehr, sehr gutbezahlte – Existenz. Man stelle sich vor, das Gesetzes- und Juristendeutsch wäre jedermann verständlich, man bräuchte kaum noch Anwälte. Man stelle sich vor, die Steuererklärung würde tatsächlich mal auf einen Bierdeckel passen, wie es weiland Friedrich Merz für machbar hielt, wir hätten umgehend eine Massenarbeitslosigkeit dank ins Nichts abgestürzter Steuerberater (wobei ich den Wortbestandteil „Berater“ eh extrem putzig finde).
Wenn Forsa also in 20 Jahren diese Studie wiederholen sollte, wäre das Resultat mit ziemlicher Sicherheit kaum verändert, wetten, dass?

Hans Jahn

Der Praeceptor Germaniae

„Berlin, 29. Jan. (Wolff.) In einer Ansprache, die der Chef des Hauses Krupp, Dr. Krupp von Bohlen und Halbach, zur Feier des Geburtstages des Kaisers an seine Beamten und Arbeiter hielt, sagte er u. a.: „Nach der schnöden Abweisung unseres, in der Sicherheit des vollsten Kraftgefühles abgegebenen Friedensangebotes wußte das deutsche Volk zu Anfang des vorigen Jahres, dass das Schwert doppelt geschliffen und die Büchse doppelt geladen werden mußte. Das ist 1917 geschehen. Allerorten regte es sich in deutschen Landen, wie es noch nie vorher gesehen worden war. Gewaltige Bauten schossen wie Pilze aus dem Boden. Sie haben ja hier in Essen unsere gewaltigen Hindenburgwerkstätten vor Augen, die an Ausdehnung alle bisherigen bei weitem überragen. Die Schätze der Erde wurden gehoben, und wo unserer Gegner schadenfrohes Grinsen Mängel und Fehler zu wittern glaubte, häuften sich Lager und Bestände. So wurde aus millionenfachem Zusammenarbeiten Großes erreicht, das den Größten unseres Volkes als Pflicht und Ziel erschienen war – die Erfüllung des Hindenburgprogramms. Damit ist die Sicherung unserer kämpfenden Brüder durch Schild und Waffe selbst den Erzeugnissen der ganzen Welt gegenüber gewährleistet.“
Ganz abgesehen davon, dass der Deutsche beim Wort „Essen“ Vorstellungen hat, die ihm der Gedanke an den Herrn Krupp doch nur sehr unvollständig befriedigt, und lieber schon sehen würde, dass aus dem deutschen Boden Pilze wie gewaltige Bauten schießen statt umgekehrt, wobei es aber anerkennenswert ist, dass ein geistiger Führer des Deutschtums, wenn er vergleichsweise sagt, dass etwas aus dem Boden schießt, doch noch an die Pilze denkt statt an die Maschinengewehre, die er erzeugt – ganz abgesehen davon muß man zugeben, dass dieser Chef des Hauses Krupp wirklich das romantische Bedürfnis der deutschen Seele tadellos effektuiert. Dass er selbst der Erzeuger des doppelt geschliffenen Schwertes und der doppelt geladenen Büchse und somit an der schnöden Abweisung von Friedensangeboten einigermaßen interessiert ist, hindert ihn nicht nur nicht daran, den Feind zu verunglimpfen, sondern auch die Konkurrenz schlecht zu machen. Aber es geschieht immerhin in der Sprache, die der Auseinandersetzung moderner Mordindustrien den Charakter des Turniers wenigstens auf deutscher Seite sichert, wo man mit Schwert und Büchse, Schild und Waffe, also rechtschaffenen mittelalterlichen Erzeugnissen, ernst aber zuversichtlich den feindlichen Flammenwerfern, Gasgranaten und so Waren gegenübersteht und dennoch leistungsfähig bleibt.“

So kommentierte Karl Kraus eine Agenturmeldung in seiner „Die Fackel“vom Mai 1918. Im Doppeltschleifen von Schwertern und Doppelladen von Büchsen ist die deutsche Waffenindustrie auch heute denkbar gut beisammen. Den dritten Platz im Weltranking der Rüstungsexporte haben wir uns redlich verdient. Und Arbeitsplätze schafft niemand so beständig wie Kriege, einschließlich ihrer Vorbereitung oder Androhung.