15. Jahrgang | Nummer 13 | 25. Juni 2012

Syrienkrieg

von Erhard Crome

Als George Dabbeljuh Bush unseligen Angedenkens seine Kriegspläne machen ließ, wurde eine Liste von „Schurkenstaaten“ fabriziert. Darauf standen Staaten, die sich dem direkten Zugriff des Militärs der USA und der NATO sowie der westlichen Großfirmen, vor allem im Ölbereich, nicht öffnen wollten. Im Nahen und Mittleren Osten waren es Libyen, Syrien, der Irak und der Iran. Zuerst wurde die Irak-Frage beantwortet, indem frech und unverblümt ein direkter Aggressionskrieg der USA und einiger Hilfswilliger geführt wurde, der zugleich UNO und Völkerrecht Hohn sprach. Das verursachte Opfer auf der eigenen Seite, brachte diplomatischen Ärger und kostete viel Geld, ohne dass entsprechende Einkünfte aus dem irakischen Öl erzielt werden konnten. Deshalb hatte Barack Obama bei den Präsidentenwahlen vor vier Jahren versprochen, dieses Experiment abzubrechen. Für seine in wohlformulierten Reden geäußerten Absichten erhielt er präsumptiv den Friedensnobelpreis, für den er sich etwas verdattert um so artiger bedankte, nichtsdestoweniger die „Schurkenstaaten“-Liste aber weiter abarbeitet.
Die Libyen-Frage wurde im vergangenen Jahr durch einen Krieg der etwas anderen Art gelöst: Es wurde eine Zustimmung in der Region beschafft, die die Arabische Liga lieferte, dann ein Beschluss des UNO-Sicherheitsrates herbeigeführt, den Russland und China ohne Veto passieren ließen, womit die Sache zumindest am Beginn einen völkerrechtskonformen Anstrich erhielt, und dann ein Krieg geführt, in dem der Westen zwar den Regimewechsel, einen zerstörten Staat und mindestens 50.000 Tote fabrizierte, aber keine eigenen Toten nach Hause transportieren musste; das Sterben und Töten am Boden erledigten eilends rekrutierte arabische Hilfstruppen, die vom Westen ausgebildet und ausgerüstet wurden. Und da gerade „Arabische Revolution“ angesagt war, wurde denen das Schild „Revolutionäre“ um den Hals gehängt. Wenige Wochen und Monate nach dem real erfolgten Sturz der westlich orientierten Präsidenten von Tunesien und Ägypten war das auch in den arabischen Ländern ein Ehrentitel.
Bleiben Syrien und der Iran auf der Schurkenliste. Ist schon Krieg in Syrien? Oder nur halb? Oder noch nicht ganz? Jedenfalls bomben die westlichen Flugzeuge noch nicht. Kommt der angekündigte Krieg gegen Iran noch vor den Präsidentenwahlen oder erst danach? Fängt Israel an? Oder gleich die USA? Ein junger Politikwissenschaftler aus Russland, der das alles sehr schicksalhaft sieht, fragte gerade per E-Mail, wir in Deutschland müssten doch auch spüren, dass nicht nur die große Wirtschaftskrise, sondern auch der große Krieg noch in diesem Jahr kämen, spätestens 2013. Ist es schon so weit?
Der für die Umsetzung des Annan-Planes für Syrien Zuständige der UNO, Hervé Ladsous, ist seit Anfang September 2011 in seinem Amt als Untergeneralsekretär. Die UNO-Beamten gelten zwar der Weltorganisation verpflichtet und sonst nur dem Herrgott. Aber dass in der Zeit der arabischen Umbrüche und noch während des Libyen-Krieges ein französischer Diplomat an diese Stelle kommt, wird kaum Zufall sein. Der französische Präsident Sarkozy war der Haupteinpeitscher des Libyen-Krieges, und sein Nachfolger Hollande – links hin oder her – ist eifriger Vertreter der Idee des Syrien-Krieges. Der Annan-Plan zielte auf die Beruhigung der Lage in Syrien, die Einstellung aller Kampfhandlungen, nicht nur von Seiten der Assad-Regierung, auch von Seiten der Aufständischen. Der Westen wollte diese Lösung von Anfang an nicht, stimmte unwirsch zu und sabotierte die Implementierung. Ladsous erklärte nun, die Gewalt in Syrien habe dermaßen zugenommen, dass sich die Natur der Kämpfe verändert habe. Damit gilt die Annan-Lösung als nicht mehr erreichbar – was auch die Position der US-Regierung ist.
Ban Ki Moon, der als der UNO-Generalsekretär der vergangenen Jahrzehnte gilt, der den „Wünschen“ der USA am nächsten steht, hat sich jetzt einen Sonderberater erwählt. Der heißt Jeffrey Feltman und ist gelernter US-Diplomat. Als junger Mann konnte er in der US-Botschaft in Budapest Ende der neunzehnhundertachtziger/ Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre besichtigen, wie man die Ernte eines historischen Großumbruchs einfährt. Dann sattelte er um auf Nahost, studierte in Amman Arabisch und wurde Botschafter in Libanon, ab 2009 – also unter Außenministerin Clinton – war er der für den Nahen und Mittleren Osten zuständige Abteilungsleiter im US-Außenministerium. Als dort alle gebannt auf den Sturz des wichtigen Verbündeten Mubarak und die zur Unzeit kommende Revolution starrten, befasste er sich mit den Gegenmitteln: Festigung des Bündnisses mit den reaktionären Feudalregimes am Golf, Umlenken des revolutionären Potentials auf den Sturz der säkularen Regime in Arabien, Sturz von Gaddafi in Libyen und Saleh in Jemen, Reaktivierung der Zusammenarbeit mit den Muslimbrüdern zum Zwecke neuer Verbündeter in der Region – der Ausgang der Wahlen in Tunesien und Ägypten zeigt genau dies. Und jetzt also ist dieser Feltman der Nahost-Berater des UNO-Generalsekretärs.
Syrien ist nicht Libyen. Dort hatte man bald eine einheitlich scheinende „Opposition“ anerkannt, die als Partner im Regimewechsel präsentiert werden konnte, auch wenn jetzt, im Nachgang, doch alle Staatlichkeit zusammenzubrechen scheint. Hier gibt es „das Regime“ der Familie Assad, das aber von offenbar beträchtlichen Teilen der Bevölkerung unterstützt wird – Christen, Aleviten, Schiiten wollen keine islamistische sunnitische Herrschaft. Es gibt „die Opposition“, die bei näherem Hinsehen aber aus vielerlei verschiedenen Gruppierungen besteht. Und es agieren offenbar immer stärker sunnitische Islamisten – ob nun direkt al Kaida oder in anderer Gestalt, sei dahingestellt. Jedenfalls sind einige der Anschläge, die in den westlichen Medien rasch Assad zugeschrieben wurden, offensichtlich von solchen Gruppen verübt worden. Es ist offensichtlich, dass „das Regime“ auf friedliche Demonstranten hat schießen lassen, aber die jetzt zurückschießen, mit Waffen von NATO-Staaten und bezahlt mit Geld aus Saudi-Arabien und Katar, sind nicht jene friedlichen Demonstranten. Und wer gewährleistet eigentlich, dass die rasch ins Netz gestellten, verwackelten Bilder, die allabendlich im Fernsehen gezeigt werden, das zeigen, was behauptet wird? Dass bereits Bilder von Opfern aus dem Irak-Krieg der USA gezeigt wurden, die man Assad unterschieben wollte, ist inzwischen enttarnt worden. Aber dies beweist weder, dass Assad unschuldig ist, noch dass unbedingt der Krieg von außen geführt werden muss, wie im Westen immer stärker intoniert wird.
Syrien ist, schon was die inneren Angelegenheiten anbetrifft, der unübersichtlichste Konflikt all der Jahre seit dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzung. So ist es auch mit den internationalen Konstellationen. Syrien liegt an der Grenze zu Israel (von Damaskus bis Jerusalem sind es 217 Kilometer), und damit am Kern des jahrzehntelangen Nahostkonflikts, und Israel verfügt über Atomwaffen. Eine Ausweitung der Kämpfe in Syrien könnte auch zu einem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges in Libanon führen und Auswirkungen in den Palästinenser-Gebieten haben. Russland und China wollen sich vom Westen nicht wieder betrügen lassen und geben deshalb keine Zustimmung zu einer Resolution des UNO-Sicherheitsrates, die einen Syrienkrieg des Westens absegnen würde. Zugleich hat Russland in Syrien einen Militärstützpunkt, zu dem es kampffähige Kriegsschiffe geschickt hat. So lange die dort sind, ist ein direkter westlicher Militärschlag eher unwahrscheinlich. Gerade hat Großbritannien vor Schottland ein russisches Schiff gestoppt, das reparierte syrische Kampfhubschrauber von Russland nach Syrien transportieren wollte, mit der Begründung, ein solcher Transport verstoße gegen EU-Sanktionen gegen Syrien. Würde Russland dies akzeptieren, hieße dies, dass die EU Sanktionen verhängen kann, die auch Russland binden. Eine absurde Vorstellung, dass Russland dem Folge leisten würde. Zugleich ist Syrien mit Iran verbündet. Insofern wird in Syrien auch ein Stellvertreter-Krieg geführt: Des Westens gegen Russland; des Westens gegen Iran; des Irans gegen den Westen, gegen Saudi-Arabien und gegen die Türkei; des sunnitischen Islamismus gegen Schiiten, Aleviten und Christen und so weiter. Offenbar stehen wir in der Tat am Vorabend eines größeren Krieges in der Region des Nahen und Mittleren Ostens. Von Syrien aus würde er um die Nachbarländer keinen Bogen machen und könnte auch den großen Krieg gegen den Iran auslösen.
Und die politisch Verantwortlichen? Der erste Weltkrieg war das letztlich nicht gewollte Resultat einer Folge von Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen einer überforderten politischen Klasse. Sein Beginn ist jetzt knapp einhundert Jahre her.