15. Jahrgang | Nummer 13 | 25. Juni 2012

Querbeet (X)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal in Wien herzzerreißende Gurgelkunst, geleckte Kaiserpracht, geplatzte Wundertüten und eine Sachertorte für zwei alte Zausel.

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Ältere Chefin liebt jüngeren Mitarbeiter, der liebt Gattin seines besten Freundes, die ist beste Freundin der Chefin. Groß-Chaos der Herzen als Fundament für einen super Thriller: Denn die Chefin ist Englands Königin, und deren Rache fällt, als die Chose auffliegt, entsprechend aus: Dem sexy Untertan wird der Schädel abgehackt. So geht das im Opernschocker „Roberto Devereux“ von Gaetano Donizetti. Der versteht sich auf zweierlei: scharfe Konflikte, subtile Seelenregungen, die er in atemberaubende Ziergesänge verpackt, was modernistisch tumbe Ohren als Belcanto-Schmalz abtun. Auch, weil viele Hochton-Stars anstatt Belcanto bloß schrillen Kehlkopfkrach liefern. Erst wer die weltweit Beste ihres Fachs, die an Leib und Stimme königliche Edita Gruberova hörte (und sah), der weiß, wie alle Seligkeit und aller Schmerz der Welt allein in Koloraturen überwältigend zum Klingen kommen können. War mir ein Fundamentalerlebnis! Die Wiener Staatsoper kochte. Gestoppte 22 Minuten tosender Applaus. Auch draußen am Karajan-Platz, wo man zeitgleich im Mondschein ohne Tickets („Oper für alle“) vor der LED-Wand lauschte.

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Wien: Die alte Kaiserstadt bei Nacht gleicht einem Märchenland; zumindest ihr Kern – da wurde im letzten Jahrzehnt gewienert was das Zeug hält; also renoviert, rekonstruiert, modernisiert und vor allem illuminiert. Alle Brünnlein plätschern, überall blüht es und grünt der Rasen frisch rasiert. Am frühen Morgen wird gegossen, gespritzt, geputzt (jaja, spießig…). Am Abend gefackelt. Das alte Europa in funkelnder Pracht – schick, reich, sexy. Aus Berliner Sicht: Zum Neidischwerden. (Freilich: die Preise für die Alltagsversorgung sind just um ein Drittel gestiegen.)

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Wochenlang schon wimmeln in Wien signalrote T-Shirts: Aha, Festwochen-Zeit! Denn die knallig verpackte Jugend gehört zum prima Service-Personal des zwischen Frühling und Sommer alljährlich stattfindenden größten örtlichen Festivals für Musik und Theater. In den letzten Jahrgängen hat es sich fein verästelt in den Adern der Stadt: Weg von den traditionellen Prunk-Spielstätten, weg vom Jet-Set und hin zu Jedermann im Alltagsleben – was eine programmatische Verschiebung einschloss: Dominierte einst das Klassisch-Musikalische einschlägiger Hochleistungskader (wie bis heute zu den Salzburger Festivitäten), fließt nun der Löwenanteil des bemerkenswert reichen Etats in den von neuen Formen geprägten zeitgenössischen Schauspielbetrieb. Dabei gilt: Was draußen in der Welt an brisanten Themen ‑ möglichst originell aufbereitet ‑ durchgespielt wird, holen die global herumschnüffelnden Kuratoren der Schauspielchefin Stefanie Carp nach Wien. So steckt im 100-Seiten-Katalog zwar eine bestens gebuchte Melange von Sachen, die koproduziert wurden im weltweiten Promi-Pool, aber vor allem eine gleichfalls gut gebuchte Überfülle kleiner und ganz kleiner, oft bei kargem Budget im Off entstandener internationaler Produktionen. ‑ Doch am Anfang steht immer die Eröffnung auf dem Partyplatz vorm Rathaus (diesmal: das grandiose Finale vom Talente-Wettbewerb „Eurovisions Young Musicians“) sowie die opulente Opening-Show für alle im neuen kulturellen Veranstaltungskomplex „Museumsquartier“.

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Der traditionelle Opernhit heuer: „Traviata“ mit dem Nachwuchs-Stimmwunder aus Moldawien Irina Lungu und dem israelischen Jungstar Omer Meir am Pult (ohne Partitur, hat alle Noten im Hirn). Nur: Die englische Regisseurin Deborah Warner kam über modische Stadttheater-Üblichkeiten nicht hinaus. So sorgt denn (vom Musikverein ganz abgesehen) allemal die gute alte, tolle Staatsoper zuverlässig für Sensationen; zum Beispiel mit der Gruberova. Festwochen-Intendant Luc Bondy, seit 2001 im Amt und demnächst das Pariser „Odeon“ übernehmend, tat also gut daran, auf Stefanie Carp zu hören. Und mit seinen Festwochen und mit falschem Ehrgeiz nicht noch der Musik-Welthauptstadt Paroli bieten zu wollen. Sondern sich vornehmlich aufs flink operative Theatergewusel zwischen China, Australien, dem Balkan (mit Griechenland!), Südafrika und Südamerika zu konzentrieren, das Carp – wie gesagt ‑ klüglich ins Städtische integriert.
Apropos Integration: Eine pfiffige Veranstaltung hat das überrumpelnde Motto „Österreicher, integriert euch!“. Da kann man Migrantenmilieus inspizieren und auskundschaften, ob und wie man daran teilhaben mag. Oder das Kaffeehausprojekt „Glück“ eines russischen Einwanderers, das vielfaches erfolgreiches Heimischwerden von „Zugreisten“ im Mozartkugellager vorführt – siehste, es geht doch! Solcherart experimentelle, dokumentarisch-theatralische Sachen journalistischen Einschlags mit aktueller Thematik sind absolut Festwochen-typisch (einst war es das große klassische Einfühlungstheater mit berühmten Namen).

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Dennoch ein Blick aufs erlauchte Groß-Theater mit VIPs: Hollywoodstar Kate Blanchett hatte einen Virtuosen-Auftritt als vereinsamte Unglückliche im Botho-Strauß-Stück „Groß und klein“; Simon McBurneys Ensemble Complicite hingegen verschüttete mit perfektem filmtechnischen Aufwand Bulgakows Roman „Meister und Margarita“ und Luc Bondys angestrengt vibrierende Uraufführungs-Regie vermochte Peter Handkes verkopftes Über-Liebe-Geplapper „Die schönen Tage von Aranjuez“ nicht zu beleben, selbst das Duett der furiosen Nervenschauspieler Dörte Lyssewski & Jens Harzer blieb da bloß gelähmtes Gegurgel. Und Regisseur Sebastian Nübling meinte vergeblich, mit dick ausgepinselten grotesk-absurden Verwirrspielchen dem eisigen Grauen von Simon Stephens‘ pornographischem Wahnsinns-Krimi „Three Kingdoms“ auf die unheimliche Spur zu kommen (Stephens ist der just angesagteste Londoner Dramatiker). Schließlich scheiterte auch Christoph Marthaler, routinierter Meister der Schlaftabletten-Regie, an der ätzend klaren Sentimentalität von Horvaths „Glaube Liebe Hoffnung“. Aus dem ernüchternd daseinspessimistischen „kleinen Totentanz“ wurde die Vor-sich-hin-Schleicherei eines verhuschten Gesangsvereins mit süßlichem Gelalle. – Also allerhand geplatzte Wundertüten! Die annoncierten Theater-Hits verläpperten sich im inhaltlich Konfusen, vor allem aber im Wirrwarr perfektionistisch aufgeblasener, sich selbst genügender Spielchen – als hockte man im Theatersandkasten. Was jedoch vom internationalen Gewusel der vielen kleinen Formen und Formate (immer brav deutsch übertitelt) unter den euphorisch plakatierten Erwartungen blieb, das fiel in der Masse nicht weiter auf.

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Eins allerdings klebt fest im Gedächtnis: Der feine Filmemacher Ulrich Seidl brachte „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ vom US-Kultschreiber David Foster Wallace, der sich inzwischen vor lauter Daseinsekel erhängt hat, auf die Bühne, die sinnigerweise einen öden Herren-Hobby-Keller zeigt. Dort sporteln, saufen, singen, fummeln sie und lassen schwitzend alles raus, was sie seelisch und sexuell quält. Grausige Gelüste, dreckige Gemeinheiten, unfassbare Zwänge sowie unendliche Traurigkeiten tun sich auf. Und entsetzliche Verlorenheiten. Der brave und böse Mann als Mensch und als Bestie – Abscheu hält sich mit Mitleid die Waage. Das ging, so gelassen wie präzise inszeniert, nicht in die Hose, sondern nachhaltig an die Nieren.

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Zum erquicklichen Schluss kein Wort über griechische Krisenbefindlichkeiten (fade Filmdoku der Gruppe Rimini Protokoll) und keins über Psychopathen vom Donau-Ufer am Schwedenplatz, dem faden Figuren-Panoptikum aus „Makulatur“ von Paulus Hochgatterer (ein von der Lobby riesig gehypter Zwergdramatiker). Und aus Platzgründen (schade!) auch keine Schwärmerei über die just in Wien allgegenwärtigen Klimts und Schieles sowie den freien Eintritt zu den Philharmonikern im Schlosspark Schönbrunn unter Sternen. ‑ Dafür schrill heraus trompetet Geburtstagsgrüße nach Berlin im Doppelpack: Hallo Volker Ludwig, Erfinder des stilbildenden, weil in Lebensrealitäten wurzelnden, agitp(r)oppigen, rotzig frechen, liebevollen „Grips“-Jugendtheaters! Hallo Claus Peymann, dreistester auf Auf-die-Kacke-Hauer, sensibelster Träumer, gläubigster Aufklärer im Geiste Lessings, herziger Striese und durchtriebener Prinzipal notorisch voller Häuser (Stuttgart, Bochum, Wien, Berliner Ensemble)! Zwei tolle Theatertiere, die nach wie vor unverwüstlich mit dämlichen Politikern im Clinch liegen. Zwei alte Zausel, die gerade mal ihren 75. feierten. Bitte teilt Euch brüderlich eine Sachertorte! Ich hingegen genehmige mir ein Gösser-Pils fürs zehnte Querbeet. Prost bis zum nächsten!