15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Querbeet (IX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Hörner in Flandern, zwei Regie-Sensationen, Krachbums im Kirschgarten und ein Flugschreiber.
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Schwarze Uniform, Goldknöpfe, weiße Handschuhe und ein Silberhorn an den Lippen: Es sind acht belgische Parade-Soldaten, die da allabendlich clock acht ein Adagio in die Stille stellen. Zu Ehren der im Ersten Weltkrieg Gefallenen. Am alten Menin-Stadttor im belgischen Ypern. Der historische Durchlass ist heute Gedenkstätte; mit den eingemeißelten Namen Tausender, die beim Massenschlachten im Flandrischen verreckten. Mit diesem einzigartigen musikalisch-miltärischen Zeremoniell, „Letzte Post“ genannt, wird ihrer tagtäglich mit großem Zulauf gedacht. Viele, die da stehen, legen Blumen ab. Oder, wie ich, ein grünes Zweiglein.
Ypern, mit der Bahn achtzig Minuten von Brüssel entfernt, ist ein zauberhaftes Städtchen, voll von kostbar strahlenden Bauten. Allein ein paar Fotos im Dom bezeugen: Anno 1918 war die Herrlichkeit hinweg gesprengt. Ein Ort des Grauens wie Hiroshima knapp drei Jahrzehnte später. Jetzt schlürfe ich Cappuccino, wo einst Steinwüste war. Dann „Last Post!“ im Abendrot.
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In Frankfurt am Main gähnt tiefschwarze Nacht. Schreie gellen markerschütternd, Entsetzliches dräut: Michael Thalheimer inszeniert die „Medea“ des Euripides, lässt mit unaufhaltsamer Wucht die zerstörerische Kraft verratener Liebe in die Bühnenleere stürzen. Fundamentalistischer Menschenwahn rast vom hohen Kothurn ins Menschenzernichtende. Constanze Becker (Medea) und Marc Oliver Schulze (Jason) spielen so nüchtern wie schmerzverzerrt das Ur-Grauen, das gewaltig sehnende oder gewaltig blutende Herzen zu entfachen vermögen. Ein archaisches theatralisches Monument. Auch ein Irrsinnskrieg. Auch ein „Last Post!“.
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Das andere Monument stemmt Nicolas Stemann mit Goethes „Faust I+II“ und dem Ensemble des Hamburger Thalia-Theaters. Diese drei Stunden „Faust eins“ mit Philipp Hochmair (Mephisto), Sebsatian Rudolph (Faust) und Patrycia Ziolkowska (Margarethe) gehören zum Intelligentesten wie Unterhaltsamsten seit langen im Theater. Daran anschließend dreieinhalb Stunden „Faust-zwei“-Revue, vollgestopft mit gängigen, verrückten oder total überrumpelnden Überraschungseiern von Goethe & Stemann. Mit allem, was beiden so „durch die Rübe rauscht“ in ihrer zirzensischen Erklär- und Zaubershow. Wie sonst auch wäre Goethes universalem Geräusch beizukommen.
Dazu eine Anmerkung zum gern hämisch bekrittelten, postdramatisch abstrahierenden „Regietheater“, das blöderweise als unseriöser Gegensatz zum tradierten Psycho-Einfühlungstheater gesehen wird; dabei vermischt die Praxis (wie bei „Faust“) längst beides unauflösbar: Man kann eine theatralische Vorlage – ob nun „Stück“ oder „bloß Textsammlung“ – verfremden und verfüllen, was das Zeug hält, wenn man’s (sinnstiftend!) kann. Wie Stemann und sein artistisches Wundertüten-Ensemble.
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Das beständig dem politisch Brisanten nachspürende Berliner Ballhaus Naunynstraße (Etikett: „Postmigrantisches Theater“) ließ es sich selbstredend nicht nehmen, das bislang hierzulande eher unbekannte „Blackfacing“ zu diskutieren. Es wurde kürzlich mit unangemessenem Getöse aufgeworfen durch die Internet-Protestplattform buehnenwatch.com. Und postuliert hechelnd die Frage: Dürfen schwarze Figuren im Theater von weißen, wie etwa in „Othello“ dunkel geschminkten Schauspielern dargestellt werden? Die Beobachter wütend: „Niemals!!!“
Gut, wir haben gelernt: Das Schwarzschminken war vor 100 Jahren in Amerika, in extra hämisch zugerichteten Stücken, ein eklig rassendiskriminierender Akt. Und: „Das Schwarz-Sein wird aus weißer Sicht benutzt, um etwas als fremd, exotisch, wild oder bedürftig zu markieren.“ Ist also ein rassistisches, das Individuum zuschüttendes Klischee. Stimmt. Das wurde im rappelvollen Saal von gutmeinend Erregten hingebungsvoll illustriert; sogar humorvoll mit „Negerküssen“ aus der Konditorei (Zuckerschaum, Schokohülle). – Und die Kunst, die rücksichtslos auch mit Klischees spielen muss? Das wurde dummerweise nicht erörtert. Die Watcher ignorieren stur, dass erst im Kontext von Stück und Regie klar werden würde, ob Schwarzanmalerei tatsächlich rassistische Vorurteile transportiert. Ansonsten nämlich muss bedingungslos gelten: Freiheit der Kunst, Freiheit dem artifiziellen Spiel! ‑ „Nach Hautfarbe besetzt zu werden, darauf habe ich keine Lust“, erklärte der Schauspieler Michael Klammer (Vater Nigerianer) vom Berliner Gorki-Theater ‑ außerhalb vom Ballhaus.
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Nach einer halben Stunde ist kein Halten mehr, da kracht die Ruine vom Gutshaus ein. Und das verzweifelt vergnügungssüchtige „Kirschgarten“-Personal feiert den Zusammenbruch im Wodka-Suff mit einem infernalischen Scheiß-drauf-Tanz auf den Trümmern. Eine geschlagene Stunde lang lässt Regisseur Calixto Bieito die Bankrotteure toben im Münchner Residenztheater. Motto: „Buy-Bye!!!“; auf Ruinenreste hingeschmiert. Apokalypse now im Weltuntergangsdämmerlicht. Auch das geht mit Tschechow und ein paar starken Spielern, die im Getöse doch immer mal wieder und umso härter ins Herz stechende Momente grauenvoller Verlorenheit aufblitzen lassen. Das größte hingerotzte, nihilistisch rasende Tschechow-Krachbumms seit langem auf einer deutschsprachigen Bühne. Der Autor hat es gerade mal noch überlebt; wie seine zerschrammten Figuren. Und Guntram Brattia als Lopachin mit seinem fatalen Rubel-Rettungsschirm feiert sich als unglücklichster Sieger des Universums mit der denkbar entsetzlichsten Schampus-Orgie. Noch so ein gegenwärtig irritierend Größtes auf einer deutschen Bühne.
In der Nachbarschaft vom „Resi“ – Münchens Staatsoper. Und auch dort großes Abfackeln. Nach der Premiere von „Siegfried“ mit dem sensationellen Lance Ryan als Titelhelden: Da nämlich lässt Regisseur Andreas Kriegenburg via Videoprojektion auf den Portikus das hehre Haus in Flammen versinken. Die prunkende Kunstburg im Feuersturm: Ein spektakulär filmisches Menetekel draußen nach Sonnenuntergang zu Richard Wagners „Ring“-Endspiel.

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Noch 1989 galt (sogar im Westen) offiziell: Die DDR gehört zu den zehn stärksten Industrienationen der Welt. Dabei lebte sie schon seit 1973 über ihre Verhältnisse. Und spätestens 1988 war der „Schuldensockel“ nicht mehr beherrschbar – es sei denn, der Lebensstandard würde radikal gesenkt, was Honecker sich kreischend verbat. Auch davon ist die Rede in den Protokollen der letzten Sitzungen des ZK der SED im Spätherbst 89; seinerzeit strengst geheim gehalten, jetzt in bereits fünfter Auflage im Ch. Links Verlag erschienen. Sie gleichen den Aufzeichnungen des Flugschreibers einer abgestürzten Maschine. Und sind Zeugnisse horrender Ignoranz sowie triefender Verzweiflung einer aus Allmacht in Ohnmacht gekippten Gerontokratenkaste.
Aus diesem schier unglaublichen Material mit dem wehleidigen Tenor „Habe zu lange geduldet; habe mich nicht durchgesetzt“ montierten Hans-Joachim Frank (Regie) und Jörg Mihan (Dramaturgie) vom Berliner „Theater 89“ die Doku-Tragödie „Das Ende der DDR“. Und kontrapunktierten sie musikalisch. Ein atemberaubend aufklärerischer, kunstvoll oratorischer Abend mit neun Schauspielern, stimmgewaltig wie die mitwirkende Singakademie Frankfurt/Oder. – Trotz des enormen Aufwandes: Ich hoffe, es klappt mit neuen Terminen in der Berliner Böll-Stiftung sowie mit Gastspielen in ganz Deutschland – nach diesem Querbeet.