15. Jahrgang | Nummer 10 | 14. Mai 2012

Klassenfragen

von Bernhard Romeike

Die bürgerliche Regierung hatte sich im Februar 2011 dazu verstanden, die Hartz-IV-Regelsätze für einen Erwachsenen zu erhöhen: um fünf Euro (in Zahlen: 5). Zuvor, im Februar 2010, hatte das Bundesverfassungsgericht die damaligen Hartz-IV-Leistungen für verfassungswidrig erklärt und eine Neuberechnung gefordert. Die Fünf-Euro-Erhöhung war das glorreiche Resultat, die Art und Weise, wie die Regierung dem Arbeitsauftrag des höchsten Gerichtes dieses Landes zu folgen gedachte. Anfang 2012 gab es eine weitere Erhöhung um zehn Euro je Erwachsenen und vier Euro je Kind unter vier Jahren.
Kritische Beobachter wiesen darauf hin, dass die Anhebung des „Eckregelsatzes“ von 345 Euro bei Einführung von Hartz IV im Jahre 2005 auf 364 Euro im Jahre 2011 einer Steigerung um 5,5 Prozent entsprach. Gleichzeitig stiegen die Preise im Bereich der Lebenshaltungskosten von 2005 bis 2011 um 14,1 Prozent. Diese Preissteigerungen wurden damit statistisch gesehen zu etwa vierzig Prozent ausgeglichen; mit anderen Worten: die Einkommenssituation der Ärmsten dieses Landes hat sich real verschlechtert und wurde durch die nominelle Steigerung der Hartz-IV-Bezüge nur zum Teil ausgeglichen. Genau betrachtet ist die Verschlechterung sogar noch gravierender: Die Preise für Massengüter und Nahrungsmittel – die die Armen am meisten verbrauchen – stiegen in diesem Zeitraum um 18,9 Prozent, so dass der Inflationsausgleich lediglich 29 Prozent beträgt. Die Zehn-Euro-Steigerung 2012 gleicht die sich beschleunigende Inflation nach wie vor nicht aus.
Das Berliner Sozialgericht hat nun entschieden: Die Berechnungen der Regelsätze verstießen gegen die Grundrechte, auch die Neuberechnung sei willkürlich und fehlerhaft. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war unter anderem der Sachverhalt, dassbei der Auswahl der „Referenzgruppe“, auf deren angeblichem Verbrauch die Berechnungen beruhen, Alleinstehende ausgesucht worden waren, zum Teil Studenten, die Bafög erhalten, oder Niedriglöhner, die ihren kargen Lohn ohnehin mit Hartz-Leistungen aufstocken müssen, so dass die Berechnungsgrundlagen nicht dem Ausgabeverhalten einer Familie entsprechen, die beispielsweise aus zwei Erwachsenen und einem Sechzehnjährigen besteht.
Der Regelsatz für Erwachsene ist laut Gericht um 36 Euro zu gering, einer dreiköpfigen Familie werden so einhundert Euro im Monat vorenthalten. Das Sozialgericht hat das Verfahren nun ausgesetzt, das Bundesverfassungsgericht muss sich erneut mit der Sache befassen.
Zur selben Zeit debattiert die Regierungskoalition vielstimmig über das so genannte Betreuungsgeld. Die Idee, dass alle Kinder gleichermaßen eine frühkindliche Bildung und Förderung in der Kita erhalten sollen, um vom sozialen Stand der Eltern herrührende Chancenungleichheiten für das spätere Leben möglichst ausgleichen zu können, wird so konterkariert. Die Frau am Herd, die dem Staat keine weiteren Ausgaben für öffentlich organisierte Kindererziehung verursacht, soll prämiert werden. So zumindest die christsoziale Grundposition aus Bayern. Selbst einigen CDU-Frauen im Deutschen Bundestag ist das zu altbacken, aber sie können sich gegen die Koalitionslogik der Kanzlerin nicht durchsetzen: Machtsicherung ist wichtiger. Derweil fordert die FDP, das alles solle nichts kosten. So wurde die grandiose Idee geboren, das „Betreuungsgeld“ bei Hartz-IV-Empfängern auf den Regelsatz anzurechnen. Selbst die kommunistischer Umtriebe völlig unverdächtige hanseatische Die Zeit nennt dies „abstrus, abstruser“, „widersinnig“ sowie eine „diskriminierende Bestrafung“ und stellt Fallüberlegungen an: Eine Manager-Gattin, die ihr Kleinkind zu Hause betreut, würde vom Staat dafür 150 Euro monatlich zusätzlich zu allem erhalten, was sie ohnehin hat, während die Alleinerziehende mit Hartz IV diese Summe ebenfalls erhielte, nur würde sie dieser anschließend vom Regelsatz abgezogen. Eine gut verdienende Alleinerziehende, die ein privates Kindermädchen bezahlt, würde das Betreuungsgeld ebenfalls erhalten, obwohl sie weiter ihrer gut bezahlten Arbeit nachginge, während die allein erziehende Frau, die vor dem Kind einer „normalen“ Arbeit nachging, sich ein Kindermädchen ergo nicht leisten und nun nicht mehr arbeiten kann, weswegen sie auf Hartz IV angewiesen ist, wo ihr das „Betreuungsgeld“ wieder entzogen würde, obwohl sie real betreut.
Das frühere „Erziehungsgeld“ beziehungsweise „Elterngeld“ erhielten auch Hartz-IV-Empfänger, 2010 wurde ihnen das gestrichen. Das war eine politische Entscheidung dieser Regierung, ebenso wie das jetzige Vorhaben, das „Betreuungsgeld“ auf Hartz IV anzurechnen. Die Zeit-Autorin meint, das sei „ungerecht“. Das trifft nicht den Kern der Sache. Gerade gibt es einen neuen Bericht des Deutschen Wirtschaftsinstitutes über die Entwicklung von Armut und Reichtum in der Bundesrepublik. Danach hat sich das verfügbare Einkommen in Deutschland zwischen 2000 und 2010 deutlich verändert. Die Statistiker weisen dazu zehn Einkommensgruppen aus. Für das erste (unterste) Zehntel hat sich das verfügbare Einkommen um 10,3 Prozent verringert, für das zweite um 9,2 Prozent. Das heißt, zwanzig Prozent der Menschen hierzulande wurde ein Zehntel des (vergleichsweise niedrigen) Wohlstandes genommen, über den sie noch im Jahre 2000 verfügten. Das dritte Zehntel verlor immerhin noch 5,7 Prozent, das vierte 2,9 Prozent. Die Mitte stagnierte: Das fünfte Zehntel büßte ein Prozent an verfügbarem Einkommen ein, das sechste, siebente und achte Zehntel gewann gut ein Prozent hinzu, das neunte Zehntel zwei Prozent, so dass festgestellt werden kann, dass für etwa die Hälfte der Menschen im Lande das verfügbare Einkommen in etwa gleich geblieben ist – ein bis zwei Prozent Senkung oder Steigerung sind kaum direkt spürbar. Da im Vergleich zu früheren Zeiten – seit 1945 – aber stets eine Anhebung der Einkommen in Deutschland festzustellen war, ist auch das statistische Gleichbleiben eine Absenkung, steigt doch die Leistungskraft der deutschen Wirtschaft unaufhörlich. Das zehnte Zehntel dagegen, das oberste, hat einen Zuwachs von 15,5 Prozent zu verzeichnen.
Was bedeutet das alles? Die Lebensverhältnisse in Deutschland polarisieren sich. Die Armut nimmt zu, und die Regierung (erst der Sozialdemokraten und Grünen, dann der Christdemokraten, zunächst unter Hinzuziehung der SPD, derzeit der FDP) tut alles, um sie – siehe Hartz IV und Betreuungsgeld – zu vergrößern, während die Reichen frech und hemmungslos reicher werden. Wir leben in einem Klassenstaat, dessen politische und wirtschaftliche Elite das bewusst und zielgerichtet auch genau so will, dies öffentlich jedoch leugnet. Klassenstaat steht aber weder im Grundgesetz, noch wurde den Ossis 1990 verkündet, dass sie einen solchen bekommen. Nun ist es aber so. Und es wird Zeit, dass sich das ändert.