von Horst Jakob
„Klar sieht, wer von Ferne sieht, unklar der, der Anteil nimmt“, besagt eine alte Volksweisheit, die den Chinesen zugeschrieben wird. Liegt es etwa daran, dass marxistische Geschichtsschreibung sich so schwer damit getan hat, das Leben ihrer Säulenheiligen so zu beschreiben, dass sie nicht nur als große Geister sondern auch als Menschen aus Fleisch und Blut, also auch mit Fehl und Tadel oder Widersprüchen sicht- und ehrbar hätten werden können? Wer die dickleibige Marx-Biografie des Dietz-Verlages kennt, weiß womöglich, was hier gemeint ist.
Nun, um Marxens Leben geht es diesmal nicht, sondern um das seines engsten Weggefährten und kongenialen Gesellschaftswissenschaftler, Friedrich Engels. Und ausgelöst hat die Eingangsfrage der Umstand, dass es nach der Marx-Biografie von Francis Wheen nun neuerlich ein britischer Historiker ist, dem das erwünschte Kunststück gelungen ist, einen deutschen Heroen des wissenschaftlichen Sozialismus in besagtem Sinne anziehender und überzeugender vorzustellen als es jenen geraten war, bei denen dies eigentlich hätte liegen müssen.
Tristram Hunt beschränkt sich beileibe nicht auf die Chronologie des Engelschen Lebensweges, samt dessen langer Freund- und Partnerschaft mit Marx. Hunt rekapituliert das Finden der Junghegelianer zum eigenen Gedankengebäude, die erst Liebe zu, dann Abrechnung mit Hegel inklusive. Es beschreibt den bis heute wohl unterschätzten Anteil Engels´ an Marxens „Kapital“, wofür ihm, dem begüterten Unternehmer im Unterschied zu Marx jede Menge praktischer Kenntnis der sozialen und kulturellen Verhältnisse des Manchesterkapitalismus´ verfügbar waren. Es würdigt die breite Palette der Themen, mit denen Engels sich über die Analyse des – auch globalen – kapitalistischen Wirtschaftskreislaufs hinaus intensiv auseinandersetzte: Naturwissenschaft, Familie, Militär und Kolonialismus etwa. Und es beschreibt die beispiellose Opferbereitschaft, mit der Engels sich Marx nicht nur als kongenialer Denker sondern auch als dessen Finanzier zur Verfügung stellte.
Aber Hunt lässt es eben dabei nicht bewenden und geht auch dem Umstand nach, dass dem Kommunisten Engels auch großbürgerliche Lebensformen keineswegs fremd waren. „Deshalb“, so der geistreiche und scharfsinnige Autor „erinnert diese Biografie auch an einen Mann, der an Fuchsjagden teilnahm, an einen Frauenhelden und Champagner schlürfenden Kapitalisten, der zum Mitbegründer einer Lehre wurde, die im Gegensatz zu seinen eigenen Klasseninteressen stand und sich im Lauf der Jahrzehnte in einen dumpfen, puritanischen Glauben verwandeln sollte, der ganz und gar nicht zu den Charakteren seiner Gründer passte.“ – Ecce homo!
In der Tat – weder Marx noch Engels hatten zu jenem -ismus zu mutieren gedacht, der von ihren Epigonen aus ihrem wissenschaftlichen politischen Werk gemacht wurde. Deren Zeit indes ist vorüber, die des mittlerweile nahezu wieder ähnlich hemmungslos agierenden Manchesterkapitalismus, nun mehr globaler denn je, indes nicht. Auch deshalb ist es gut, sich mit Beider analytischer und revolutionärer Gedanken wieder zu beschäftigen. Und es ist hilfreich, dahinter die Menschen zu sehen, denen wir dieses Denken verdanken.
P.S. Mit dem Untertitel des „Marxismus-Erfinders“ hat der Verlag dem Buch keinen Gefallen getan. Das englische Original nennt Engels im Titel den „Kommunisten im Gehrock“, erweitert dann aber sehr viel treffender: „Das revolutionäre Leben des Friedrich Engels“.
Tristram Hunt: Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand, Propyläen, Berlin 2012, 576 Seiten, 24,99 Euro
Schlagwörter: Friedrich Engels, Horst Jakob, Karl Marx, Tristram Hunt