von Margit van Ham
„Letztes Jahr war sie noch allein gekommen“, seufzte K. Dieser Satz blieb in mir haften, und all das Unausgesprochene darin. Die Geburtstagsgäste, wie üblich in dem kleinen Dorf nach Männern und Frauen getrennt in zwei Räumen, hatten den mühseligen Aufbruch von Elsa verfolgt. Irgendwie hatte man sie vom Sofa hochbugsiert und dann hatte sie sich, von der Tochter gestützt, zu ihrem Rollstuhl bewegt. Elsa machte dabei ein fast vergnügtes Gesicht. Am folgenden Tag würde sie zu einer weiteren Feier aufbrechen. Das hatte sie allen erzählt. Eine andere Erzählung war nicht mehr so verständlich geraten, aber die Gäste hatten sich bemüht, ihr zuzuhören.
Ich saß in der Frauenrunde und spürte neben den meist über achtzigjährigen Frauen wie relativ Alter doch war. Es schien gar nicht so lange her zu sein, dass sie in meinem Alter waren. Der Tod hatte über die Jahre Lücken in diese Geburtstagsrunde gerissen und der Blick auf die Gäste erinnerte mich zugleich an die nicht mehr Anwesenden. Dennoch war es erstaunlich zu sehen, und irgendwie ermutigend, dass bis auf Elsa alle noch selbständig lebten. Sie liefen jetzt vorsichtiger, langsamer. Tranken weniger als früher und waren auch schlanker geworden. Meine Großeltern waren in ihren Sechzigern gestorben, und es war damals ein normales Alter fürs Sterben. Mit siebzig war man schon sehr alt. Ich musterte die ausnahmslos hellen Blusen und Pullover der Frauen, die bunten Tücher, den Modeschmuck. Meine Großmutter hatte dunkle Kleider getragen, und dunkle Schürzen. Selten kam eine weiße Bluse dazu. Ich sinnierte über diesen Fortschritt der letzten Jahrzehnte, während ich die Bowle ausschenkte.
Im Nebenraum, bei den Männern, wurde es lauter. Bier und Jägermeister ließen die Gespräche hitziger werden. Von Dorfneuigkeiten, Arbeiten an Haus und Garten war man zur Politik gekommen. Die wurde auch in der Frauenrunde berührt. Wenn es um die Enkel ging, die nur schwer oder weit entfernt Jobs fanden. Sonst – Nachbarn, Familie. Und ja, auch über Krankheit wurde gesprochen. Eine Nachbarin fehlte, sie unterzog sich gerade einer Chemotherapie. Sorge vor dem Endgültigen, ohne sie auszusprechen. Blicke statt Sprache. Über eigene Krankheiten wurde mit dem Unterton informiert, dass man eben damit leben müsse. Ich bewunderte diese Frauen, die ihren Schmerz so alltäglich zu machen schienen, ihn akzeptierten.
Den Gesprächen der Frauen zuhörend, fragte ich mich, wie geht man um mit den nachlassenden Kräften, mit der Angst vor Unselbständigkeit. Ich meinte zu spüren, dass das die größere Angst war, größer als die vor dem Tod. Oder hörte ich da nur mich selbst? Ich erinnerte mich an eine dieser Geburtstagsfeiern vor vier, fünf Jahren. Unvermittelt waren die Frauen auf das Sterben gekommen. Sie waren dem Thema nicht ausgewichen, sondern hatten sich ganz selbstverständlich über die von ihnen bevorzugten Begräbnisarten unterhalten. Über Patientenverfügungen. Ich hatte das so zum ersten Mal erlebt.
„Geh nicht lammfromm hinaus in diese Gute Nacht,
Das Alter soll brennen und rasen am Ende des Tages;
Renne, wüte gegen das verlöschende Licht an.“
Emily Dickinson, eine amerikanische Lyrikerin des 19. Jahrhunderts, hatte so gegen Alter und Tod angeschrieben. Sie war nur 56 Jahre alt geworden. Ihr fehlte vielleicht die Erfahrung der Frauen hier am Tisch, die mir dieses Gefühl nicht zu teilen schienen. Aber vielleicht wüteten auch sie in einsamen Stunden? Was wusste ich schon. Von einem Tag zum nächsten leben, ganz in der Gegenwart – das klingt nur einfach. „Wat mutt, dat mutt“, sagen sie hier im Norden und über Gefühle spricht man ohnehin wenig. Und doch lässt sich diese Gelassenheit nur schwer begreifen. Vielleicht ist Gelassenheit nicht das richtige Wort. Es muss doch auch Angst geben, denke ich. Also Fatalismus? Akzeptanz? Ich ahne, dass man wohl stark wird, wenn es keine Alternative gibt. Wenn man noch leben möchte, sich nicht von der Angst auffressen lassen möchte. Ich werde es erfahren. Aber ich verstehe Emily so gut in ihrem Rasen:
„Geh nicht lammfromm in diese Gute Nacht.
Renne, wüte gegen das verlöschende Licht an.“
Schlagwörter: Alter, Emily Dickinson, Margit van Ham, Tod