von Erhard Crome
Frankreich und Griechenland hatten die Wahl, und sie haben sie getroffen. In Frankreich gewann der Sozialist Francois Hollande die Wahl zum Präsidenten. In Griechenland wurde ein neues Parlament gewählt. Nea Dimokratia und Pasok, die überkommenen Parteien konservativen sowie sozialdemokratischen Zuschnitts, die erst die Schulden organisiert hatten, dann die drastischen Kürzungen und schließlich dem internationalen Kapital versicherten, den „Pakt“ auch über die Wahlen hinaus zu lieben und zu ehren, haben auch gemeinsam keine regierungsfähige Mehrheit mehr – jahrzehntelang hatte die abwechselnd eine von ihnen.
In deutschen Medien wurde orakelt, das seien Wahlen gegen Angela Merkel gewesen. In der Sache waren es Wahlen der Wähler. Das ist gutes demokratisches Recht überall dort, wo ein solches Recht gilt. Zur Erinnerung sei nochmals darauf verwiesen: Es war Finanzkrise, beginnend 2008. Die damals Regierenden – allen voran Barack Obama und Angela Merkel – hatten die Krise bekämpft, indem sie aus den spekulativen, fiktiven Schulden der Finanzjongleure und ihrer Banken reale Schulden der Staaten machten, für die die Steuerzahler aufkommen sollen. Daraus sind einerseits überschuldete Staatshaushalte hervorgegangen, andererseits blieben die fiktiven Finanzkapitale erhalten, die nun, da sie in der „realen Wirtschaft“ Rendite bringende Anlagemöglichkeiten nicht finden, nicht nur auf den Hunger in der Welt und steigende Brotpreise spekulieren, sondern auch gegen die Haushalte der einzelnen EU-Staaten: je schlechter deren Lage, je niedriger Renten und Löhne, je massenhafter die Armut, desto besser für die Spekulanten.
Der „normale“ Verschuldungsprozess der Staaten, der in den jetzigen Ausmaßen durch Steuersenkungen für die Reichen auch erst ein Ergebnis des Neoliberalismus ist, wurde so zu einem Drama. Nach den neuesten Zahlen der EU-Kommission muss Griechenland 2012 mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 4,7 Prozent und einem Defizit von 7,3 Prozent des BIP rechnen. „Ohne Reformkurs“, so die Deutsche Welle „bleiben Griechenland aber die Milliardenhilfen von EU und Internationalem Währungsfonds versagt.“ Die Alternative ist also: Tod durch Verhungern oder durch Erschießen.
In der EU liegt die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen unter 25 Jahren im Gesamtdurchschnitt bei 22,5 Prozent. In Spanien und Griechenland sind es etwa 50 Prozent, jeder zweite Jugendliche ist ohne Arbeit. Zwei Millionen Polen sind in den vergangenen zwanzig Jahren ins Ausland gegangen. In Ostdeutschland leben derzeit etwa 13 Millionen Menschen, in der DDR 1989 waren es über 16 Millionen, das heißt über drei Millionen Menschen sind weggegangen (es gab allerdings auch eine Zuwanderung von Ministerialbeamten, Ideologieproduzenten und Glücksrittern aus dem Westen, die gegenzurechnen ist) – nicht weil die D-Mark nicht kam, sondern weil sie kam. Das könnte man noch als Ergebnis der nach-sozialistischen Kapitalismus-Einführung und folglich als historische Besonderheit verbuchen.
Aber nach dem Beginn der Finanzkrise haben sich in vielen EU-Ländern die Trends umgekehrt. Irland, seit Jahrhunderten ein traditionelles Auswanderungsland, hatte auch im Jahre 1989 noch 44.000 Auswanderer (bei etwa 4,5 Millionen Einwohnern, die die Republik Irland hat). Doch als „Keltischer Tiger“ mit jahrelang vergleichsweise hohen Wachstumsraten war das Land zu einem geworden, in dem die Jugendlichen blieben, ja das zum Einwanderungsland für Arbeitskräfte zum Beispiel aus Polen und Deutschland wurde. 2011 gab es wieder 50.000 Auswanderer, vor allem Jugendliche zwischen 20 und 30 Jahren, die für Irland wieder eine „Lost Generation“ werden, eine, die in den USA, Australien oder Kanada ihr Glück sucht. Für 2012 rechnen die Wirtschafts- und Sozialstatistiker mit einer ebenso hohen Auswanderung.
Spanien, das bis 2007 ebenfalls als Wachstums- und Einwanderungsland galt, in das viele Arbeitskräfte aus Lateinamerika und Nordafrika – legal und illegal – strömten, ist jetzt das Land mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit in der EU. Jährlich wandern etwa 50.000 junge Menschen aus, obwohl hier die Kultur – im Unterschied etwa zu Irland – eher auf Verbleib im Lande und bei der Familie orientiert ist. Viele gehen nach Lateinamerika, so nach Argentinien oder Venezuela, wo die Wachstumsraten hoch sind und die Arbeitslosigkeit bei Hochschulabsolventen niedrig.
Junge Portugiesen – Portugal ist ja auch eines der „Schuldenländer“, in denen die Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre den in den Jahrzehnten zuvor geschaffenen Wohlstand zerstört hat – gehen heute nach Brasilien, Angola oder Mosambik, wo sie wegen der Sprache keine Probleme und mit ihrer Ausbildung gute Chancen haben. In Brasilien, das eines der Aufschwung-Länder der neuen globalen Weltökonomie ist, leben inzwischen etwa 200.000 Portugiesen; nach offiziellen Statistiken lag die Auswanderung nach Brasilien allein im Jahre 2010 bei 30.000 jungen Menschen, nach inoffiziellen Schätzungen sollen es fast 70.000 gewesen sein. Vor allem Bauleute, Architekten und Computerspezialisten haben gute Chancen. Angola und Mosambik, einst portugiesische Kolonien in Afrika, haben nach Jahren des Bürgerkrieges jetzt ebenfalls einen Aufschwungsprozess, der jungen Portugiesen gute Chancen gibt.
Die EU hat in all diesen Ländern der Jugend nichts mehr zu bieten. Mit den Floskeln des neoliberalen Geschwätzes gesprochen: Das „Humankapital“ wandert ab und steht für irgendwelche Aufschwünge oder Schuldentilgungen nicht mehr zur Verfügung. Die Finanzmärkte können die Staaten in Haftung nehmen, nicht aber die Menschen. Die sammeln ihre Habseligkeiten zusammen und gehen fort, wie seit Jahrhunderten nach der „Entdeckung der Neuen Welt“.
Die Schulden der anderen allerdings sind die Kehrseite der exorbitanten Exporterlöse der deutschen Wirtschaft, denen diese Länder, da sie an den Euro gekettet sind, nicht durch Abwertungen ihrer nationalen Währungen ausweichen können. Evangelos Venizelos, derzeit Vorsitzender der Pasok und in der Krisenregierung der Finanzminister Griechenlands, der die Zumutungen seitens des IWF und der EU (der „Troika“) in griechische Politik zu übersetzen hatte, hatte kurz vor der Wahl darauf verwiesen, dass Deutschland Gelder praktisch zum Nulltarif an den internationalen Finanzmärkten aufnimmt und dann im Rahmen der „Rettungspakete“ mit Zins und Zinseszins an Griechenland gibt, so dass allein der deutsche Staat während der vergangenen zwei Jahre an den griechischen Schulden etwa 400 Millionen Euro verdient hat – von den Renditen der deutschen Banken ist hier noch nicht die Rede.
Und dieses Deutschland hat den anderen EU-Staaten seine „Schuldenbremse“ oktroyiert, was die Verordnung von Zwangsverarmung für die Bevölkerungen ist. Deutschland ist Hauptnutznießer des Euro. Nach dem griechischen Wahlergebnis, durch das die Troika-hörigen Parteien keine regierungsfähige Mehrheit mehr haben, wird in der deutschen bürgerlichen Presse über den Hinauswurf Griechenlands aus der Euro-Zone schwadroniert. „Der Verbleib Griechenlands in der Eurozone ist kein Geschenk, man muss sich das verdienen“, schrieb einer der neuen Herrenmenschen in der FAZ. Dabei wird völlig übersehen, dass der Zusammenbruch des Euro eine D-Mark zur Folge hätte, deren Kurswert mindestens 40 Prozent über dem derzeitigen des Euro liegen würde. Das wiederum würde sofort und unverzüglich zum Zusammenbruch der deutschen Exporte führen. Und die schöne neue Weltgeltung wäre dahin. Es ist nicht nur Griechenland von der EU abhängig, auch Deutschland als ihr Hauptnutznießer.
Die Wahlen in Griechenland sind Ausdruck der tiefen sozialen Krise, die nun auch den Zusammenbruch des alten politischen Systems bewirkt hat. Ihr Ergebnis und die Reaktion der herrschenden Kreise in anderen EU-Ländern, vor allem auch in Deutschland, zeigen jedoch, dass es einen tiefen Riss gibt zwischen den Interessen der Bevölkerungen und denen der Finanzmärkte. Jetzt geht es darum, ob eine andere Politik möglich wird, nicht wegen, sondern trotz EU und IWF. Wenn es mit der Regierungsbildung nicht klappt, sollen die Griechen gefälligst neu wählen. In Brüssel soll aber auch schon erörtert worden sein, ob man mittels Militärdiktatur die Wahlen nicht einfach suspendieren sollte. Das hatten die Griechen doch schon mal. (Deutsche Besetzung übrigens auch.)
Und Frankreich? Nach den Wahlen wird sich zeigen müssen, ob die Grand Nation weiter der deutschen Politik gehorcht, oder eigene Wege geht, etwa zur Schaffung von wirtschaftlichem Wachstum statt ständiger Kürzung.
Schlagwörter: Deutschland, Erhard Crome, EU, Finanzkrise, Frankreich, Griechenland