15. Jahrgang | Nummer 10 | 14. Mai 2012

Bemerkungen

„Heißa, wir leben nicht mehr lang!“

Man will es einfach nicht glauben, aber der fünfte Monat des Jahres, der hat es wirklich in sich. Auf der einen Seite Liebes- und Wonnemonat und dann am Ende des Monats (genauer am 30. Mai) plötzlich Weltuntergangsstimmung.
Was sollen wir nun also anstimmen:

„Komm, lieber Mai,
und mache die Bäume wieder grün“

oder etwa

„Am dreißigsten Mai ist der Weltuntergang,
… heißa, wir leben nicht mehr lang!“

Pünktlich im Mai tauchen wieder die alten Schauermärchen von irgendwelchen fiesen Planeten, Sonnenstürmen, Meteoriten-Einschlägen oder Polsprüngen auf. Den Leuten werden dabei die pseudophysikalischsten Begründungen aufgetischt, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Doch all die Jahre hat sich die apokalyptische Endzeit nie eingestellt.
In diesem Jahr scheint es aber tatsächlich ernst zu werden. Schuld daran ist der Maya-Kalender. Doch wir haben noch eine Gnadenfrist: nicht für den 30. Mai sondern für den 21. Dezember wird das Ende der menschlichen Zivilisation prophezeit. Verschwörungstheoretiker und Hellseher begründen das mit einer besonderen Sternenkonstellation. Und wie immer: die einen glauben daran, die anderen halten es für totalen Humbug.
Trotzdem … man weiß ja nie! Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Doch was soll man tun? Soll man sich in seinen vier Wänden verschanzen, im Keller Konserven und Brennholz horten? Oder gar in seinem Vorgarten einen atomsicheren Bunker buddeln? So mit Notstromaggregat und Lebensmittelvorräten?
Nein, Rettungsboot und Schwimmweste helfen garantiert nicht. Hören Sie auf zu heulen, genießen Sie die verbleibenden Tage. Wollten Sie im Urlaub nicht schon immer einmal eine Weltreise machen? Oder buchen Sie doch einen Weltuntergangs-Weihnachtsurlaub. Vielleicht am Ballermann. Doch vergessen Sie nicht, vorher daheim den Kühlschrank und die Sektflachen zu leeren. Auch Ihr Konto können Sie getrost überziehen! Oder kaufen Sie sich eine dieser supermodernen HD- oder 3D-Glotzen – vielleicht wird der ganze Spuk ja live im Fernsehen übertragen.
Aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, so finde ich den Termin am 21. Dezember irgendwie total niederträchtig. So kurz vor Heiligabend. Vorher hat man den ganzen Stress mit den Weihnachtsgeschenken und dann kommt man nicht mehr zum Auspacken. Dagegen gefällt mir der 30. Mai viel besser. Da könnte man seine Freunde zur Grillparty einladen und nach ein paar Bierchen macht die Apokalypse sicher so richtig Spaß. Immerhin erlebt man so ein Spektakel nur einmal. Goodbye, wir sehen uns im nächsten Leben wieder.

Manfred Orlick

Wovon träumst Du?

Wenn ich in Rom meine Telefonrechnung zahle, gehe ich in einen Tabacchaio, einen dieser Miniläden, auf die ein großes weißes „T“ auf blauem Grund hinweist. Im Tabacchaio kostet es zwar einen Euro Gebühr, Rechnungen zu bezahlen. Aber immer noch besser als auf der Post, aus der man in Rom unter einer Stunde Wartezeit kaum herauskommt.
Jetzt gab es eine Neuerung in „meinem“ Tabacchaio: Ein Bildschirm hing da, auf dem eine digitale Uhr rückwärts zählte. „3:16, 3:15, 3:14, 3:13 …“ Ein Countdown. Aber für was?
„Ganz neu“, strahlt der Tabacchaio-Mann, als ich ihn fragend anschaue. „Lotto-Ziehungen alle fünf Minuten.“
„Jetzt gleich auch?“
Er nickt. 3:00, 2:59, 2:58, 2:57. Schon habe ich einen Schein in der Hand. „Bis zu zehn Zahlen“, sagt er. (Zehn Zahlen aus 90, das ist so unwahrscheinlich, dass es schon wieder lustig ist.)
Noch 2:30, 2:29, 2:28. Für die ersten fünf Zahlen nehme ich Geburtstage aus der Familie, dann bin ich unschlüssig. Der Tabacchaio-Mann fragt: „Was hast Du zuletzt geträumt?“ „Was ich geträumt habe?“ 2:00. Smorfia Neapolitana: Das Geheimnis der richtigen Zahlen. Er schlägt es auf: Tausende Wörter, jeweils dahinter eine Zahl. Über die Ladentheke hinweg lese ich: „Doping – 88“, „Rasierschaum – 76“, „Nachkriegszeit – 54“, „Winterstiefel – 90“. „Also wovon hast Du zuletzt geträumt?“
Ich überlege: Über Nachkriegszeit, Doping und Winterstiefel sehr lange nicht. Da fällt mir was ein. „Vorletzte Nacht von Carabinieri“, sage ich. (Ich habe nämlich Angst, kontrolliert zu werden, da ich meinen Fahrzeugschein nicht finde.) 1:47, 1:46, 1:45. Er blättert in dem Buch zu „C“, sucht mit seinem Zeigefinger „Carabinieri“ und sagt: „18“. Ich schaue ihn an fragend an, er nickt heftig, ich kreuze die „18“ an. Die Zeit läuft: 0:47, 0:46, 0:45, 0:44. „Hatte er eine Uniform an?“ Ich: „Ja.“ „56!“. Noch 0:23, 0:22, 0:21. Ich beschließe, mich auf acht Zahlen und eine mögliche Gewinnsumme von 20.000 Euro zu beschränken. Der Countdown springt auf 0:00.
Dann ist der größte Spaß vorbei, denn die Ziehung ist so wie alle Lotto-Ziehungen: Spätestens nach der zweiten Ziffer, die man nicht hat, eine einzige Enttäuschung. Der Tabacchaio-Mann und ich nicken uns zu, er macht „va beh“ und schaut mich skeptisch an: „Beh“, sagt er und zuckt mit den Schultern, „offenbar hast Du Dir den Traum nicht gut genug gemerkt.“
Ich habe dann meine Telefonrechnung gezahlt und bin gegangen. In den kommenden zwei Monaten bis zur nächsten Telefonrechnung werde ich sehr genau Buch führen über meine Träume.

Martin Zöller, Rom

Niederlagensieger

Da verliert die schleswig-holsteinische FDP bei den jüngsten Wahlen mit 6,7 Prozent fast die Hälfte ihrer vormaligen Stimmen, und was erklärt Herr Kubicki in die entsicherten Kameras und Mikrophone und vor frenetischen Claqueuren: Es wäre ein „unglaublicher Erfolg der Landespartei“!
Da verliert die CDU dieses Bundeslandes (wenn auch nicht viele) Stimmen und fährt das schlechteste Wahlergebnis seit den 1950er Jahren ein, und was erklärt Spitzenkandidat de Jager in die entsicherten Kameras und Mikrophone und vor frenetisch applaudierenden Claqueuren: Stärkste Partei geworden zu sein, sei ein „großer Erfolg“ seiner Partei.
Völlig unvergessen und bislang trotz großer Bemühungen (zum Beispiel soeben in Schleswig Holstein) unerreicht: die zehnminütigen Ovationen der SPD-Groopies im Willi-Brandt-Haus für die Wahlverlierer Steinmeier und Müntefering nach der letzten Bundestagswahl.
Der Kabarettist Georg Schramm hat einst beklagt, dass man in Deutschland über keine Kultur des Scheiterns verfügen würde. Ich sag’s nicht gern, aber hier irrt Schramm: Diese Kultur ist hierzulande hoch entwickelt und verdient in dieser spezifischen Ausführung längst ein Copyright.

Helge Jürgs

Plakatierte Rücksichtnahme

Städtisch initiierte Plakatkampagnen für Berlin sind zuverlässig vor allem eins: teuer. Inhaltlich sind sie meist ziemlich dämlich. Das trifft auf „be Berlin“ ebenso zu wie auf die – mittlerweile noch lächerlicher gewordene – BER-Werbung mit dem Konterfei des diesbezüglich missbrauchten und wehrlosen Willy Brandt.
Nun gibt’s noch etwas Neues im hauptstädtischen Plakatestadel. Für schlappe 700.000 Euro wird die Stadt zugepappt mit Großfotos, deren Funktion darin bestehen soll, die Berliner samt Gästen, allen voran die Radfahrer unter ihnen, zu mehr Rücksichtnahme im Straßenverkehr zu bewegen.
Ich stell’ mir den Erfolg dieser pfiffigen Kampagne ganz bildlich vor: Kampfradler, die vor der Passage eines Fußgängers, auf dessen Terrain sie ihr Mobil rasant zu bewegen pflegen, anhalten, absteigen und mit einem frohen Gruß den Fußgänger passieren lassen. Radler, die Kinder liebevoll belehrend vom Betreten einer rot beleuchteten Straßenkreuzung abhalten und sie bei korrektem Grün hinüber begleiten. Radler, die, einer alten Mode frönend, plötzlich wieder Klingeln an die Lenkstangen ihrer Drahtesel montieren, um ihr Kommen zu signalisieren. Radler, die sich allesamt mit Rückspiegeln nachrüsten, um auch den Verkehr hinter ihnen beobachten und auf ihn reagieren zu können. Radfahrer, denen – ohne diese Kampagne nicht denkbar – funktionstüchtige Beleuchtungen ihres Gefährts essentiell sind, um Unfälle zu vermeiden. Radler, die auf musikalische Bedröhnung per Kopfhörer verzichten und ihre Ohren den für die Sicherheit nicht unmaßgeblichen Geräuschen des Straßenverkehrs verfügbar halten.
Das alles wird also in Kürze das Stadtbild prägen. Selten war eine Revolution preiswerter! Und Rudolf Augstein selig kann sich sein: „Wo Ego draufsteht ist auch Ego drin.“ in die Haare schmieren. Der hatte halt – dumm gelaufen – nicht damit gerechnet, wie wirkungsvoll Berliner Plakatkampagnen ein solches Verdikt auszuhebeln in der Lage sind.

Herbert Jahn

Hippokrates’ Eidgenossen

Was sich die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin bezüglich ihrer Vorstände leistet, hat Otto Normalverbraucher – wiewohl bereits an Vieles gewohnt – jüngst für neuerlich unfassbar gehalten. Trotz Ihrer Wiederwahl hatten sich die drei Humanisten (was zumindest Mediziner eigentlich sein sollten) per kurzfristiger Umwidmung das ihnen im Falle einer Abwahl zustehende Übergangsgeld in Höhe von jeweils 183.000 Euro (um etwa eine neue Praxis einzurichten, wenn’s mit der Funktionärsarbeit vorbei ist) unter die Nägel gerissen – als erfolgsabhängige Prämie.
Diese Raffgier ist dermaßen widerlich, dass sogar der Gesundheitssenator der Stadt die KV aufgefordert hat, die Gelder zurückzuzahlen. Wer im Besitz des Mitteilungsblattes der KV ist, konnte noch im Februar unter „Verschiedenes“ lesen: „KV-Vorstand wehrt sich gegen Vorwürfe: Die Zahlungen waren rechtmäßig.“ Nachgereichte Expertisen taten das, wozu sie von den Raffkes in Auftrag gegeben wurden: Sie bestätigten die.
Auf dem Cover des aktuellen Mai-Heftes der KV prangt nun – textlich solitär – das rot gedruckte Wort „Korruption“. Einkehr also beim KV? Nö. Lediglich ein einschlägiges Symposium für Ärzte und Juristen wird beziehungsreich beworben: „Im Spannungsfeld zwischen Medizin und Ökonomie ist Korruption nicht weit“. Da werden Formen korrupten Verhaltens von Medizinern aufgelistet: Der Fall der Vorstände gehört freilich nicht dazu. Wo kämen wir denn da hin. Quod licet jovi non licet bovi!

Bernd Mechtler

Schrulligkeits-Index

In der deutschen Hauptstadt ist Berolinas Liebling, Klaus Wowereit, seit langer Zeit Spitzenreiter aller Umfragen in Sachen Bekannt- und Beliebtheit.
International ist Wowi leider deutlich weniger erfolgreich. Dank einer Erhebung durch The New Republic wissen wir jetzt, dass er im Ranking der schrulligsten Bürgermeister einer Metropole global nur Platz vier einnimmt. Vor ihm rangieren die Dorfschulzen Boris Johnson (London), Rahm Emanuel (Chikago) und Michael Bloomberg (New York).
Wie zu erwarten war, hat Wowereit vornehmlich mit zwei Sätzen gepunktet: „Berlin ist arm, aber sexy“ und „Ich bin schwul, und das ist gut so“. Wiewohl er durchaus stolz darauf sein kann, die ebenfalls schrulligen Kollegen etwa von Paris und Boston hinter sich gelassen zu haben, sollte doch gelten: Das Bessere ist noch immer der Feind des Guten! Es gibt viel zu tun. Packen Sie’s an.

HWK

Dies & das

Um etwas zu gelten, müssen sich Nullen immer hübsch rechts halten.

*

An Deutschlands baldiger 1heit
Da 2fle ich noch sehr,
Ick jebe keinen 3er
4 diese Hoffnung her.

*

Zwei Wünsche

Ach, zwei Wünsche wünsch ich immer,
leider immer noch vergebens.
Und doch sind’s die innig-frommstens,
schönsten meines ganzen Lebens:
Daß ich alle, alle Menschen
könnt mit gleicher Lieb umfassen
und das einige ich von ihnen
morgen dürfte hängen lassen.

*

Die Raupe

Die Raupe auf dem Baume saß
Und von der Kron’ die Blätter fraß.
Sie war im bunten Kleide,
Als wie von Samt und Seide,
Ein Staatsminister ging vorbei,
Der sah das Tier und rief: „Ei, ei!
Wie konnt es dir gelingen?
’s geht nicht zu mit rechten Dingen!
Du unbegreiflich dummes Tier!
Ich wund’re mich, drum sage mir:
Wie hast du’s unternommen
Und bist so hoch gekommen?“
Und als die Raupe blieb nicht stumm,
Da wurd‘ er rot und dreht sich um.
Die Raupe hat gesprochen:
„Mein Freund, ich bin gekrochen!“

Adolf Glaßbrenner
(1810-1876)