15. Jahrgang | Nummer 10 | 14. Mai 2012

Ausblendungen

Lieber Herr Quinkenstein,

Ihre Entgegnung ist doppelt so lang wie der Stein des Anstoßes. Da mag ich jetzt nicht noch einen drauf setzen. Aber keine Replik geht auch nicht.
Zur „verwickelten Historie“, auf die Sie mit Recht hinweisen, gehört – und Ihre Kritik gewänne noch, wenn Sie dies nicht ausblendeten – dass die Verwicklungen nicht erst mit der Verlesung der Unabhängigkeitserklärung Israels begannen. Es gab eine Vorgeschichte, in der auch Aktivisten der späteren Israelis immer wieder ziemlich brachial dafür sorgten, dass der Start des Staates Israels nicht in einer Atmosphäre der guten Nachbarschaft stattfand. Bevor Theodor Herzl 1897 den ersten Zionistenkongress nach Basel einberief, womit ein wichtiger Grundstein für die Bildung eines jüdischen Staates gelegt wurde, und bevor Großbritannien in bester Kolonialmachtmanier mit der Balfour-Deklaration von 1917 zum Ausdruck brachte, dass es „mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ sehe, hatten dort 2.000 Jahre lang mehrheitlich andere Völkerschaften ihre Heimat. 1860 lebten etwa 12.000 Juden in Palästina, und nach der ersten Alija (1882 – 1903) waren es auch nicht viel mehr als 60.000 – oder knapp zehn Prozent der Bevölkerung. Erst ab etwa 1919 schwoll die jüdische Zuwanderung stark an und führte zu einer sukzessiven Verdrängung arabischer Palästinenser aus ihren angestammten Siedlungsräumen, die nach der Gründung Israels massiv zunahm und sich in Teilen bis in unmittelbare Gegenwart fortgesetzt hat.
Zu den Verwicklungen der Historie gehört des Weiteren nicht nur, dass „die vergangenen 54 (Sie meinen 64 – Anm. W.S.) Jahre […] belegen, dass das israelische Gefühl der Bedrohung keine Einbildung ist“, sondern auch, dass – zum Beispiel – Israel der dritte Angreifer bei der anglo-französischen Besetzung des Suez-Kanals 1956 war und 1967 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Ägypten, Syrien und Jordanien führte, wobei ein Teil der eroberten Territorien bis heute nicht geräumt ist. Ich will die Kette dieser Beispiele nicht ausweiten, sondern lediglich noch an das Massaker von Sabra und Schatila von 1982 erinnern. Diese Palästinenserlager im Libanon waren damals von israelischen Truppen umstellt, die christlichen libanesischen Phalange-Milizen Zugang gewährten, sodass die ihrerseits ungestört Hunderte, wenn nicht Tausende (die Angaben über die Opferzahlen differieren stark) palästinensische Zivilisten ermorden konnten.
Ein anderer Punkt: Die Sicherheit des Staates Israel, die die Bundeskanzlerin zum Teil der deutschen Staatsräson erklärt hat, steht natürlich im Zusammenhang mit dem Existenzrecht Israels, das heute nicht mehr ernsthaft bestreitbar ist. Beides ist aber keinesfalls identisch. Insofern stößt Ihre diesbezügliche – und an dieser Stelle, mit Verlaub, etwas unsachliche – Kritik ins Leere. Es ist vielmehr auch die „Sicherheits“-Politik der jetzigen wie viel zu vieler vorangegangener israelischer Regierungen, die immer wieder ernsthafte Probleme für Israel Sicherheit heraufbeschwört.
Damit wären wir – unter anderem – bei der, wie ich schrieb, „illegalen Atommacht Israel“, der der Westen die Mittel geliefert hat (zivile Atomtechnik und wahrscheinlich auch entscheidendes Know-how für „die Bombe“ einst Frankreich) und bis heute liefert (Trägersysteme in Gestalt amerikanischer Kampfbomber F-15I und wohl auch F-16I sowie in Gestalt deutscher U-Boote). Das ist ein weiterer Punkt, auf den Sie nicht eingehen. Kann oder soll daraus geschlussfolgert werden, dass Sie ein Befürworter atomarer Bewaffnung Israels sind, die – so jedenfalls die bisherige Logik des Nuklearzeitalters – früher oder später zu mindestens einer weiteren Atommacht im Kreise seiner Gegner führen wird?
Oh, da merke ich doch glatt, dass auch ich offenbar nicht gegen ein Abgleiten ins Unsachliche, Persönliche gefeit bin. Daher komme ich besser zum Schluss: Sie haben „Lust zu streiten“. Nichts dagegen. Allerdings: Zerstritten ist man besonders schnell, wenn man auf Argumente der Gegenseite gar nicht erst eingeht, sondern lediglich den eigenen Standpunkt dagegensetzt. Da bin ich hier zugegebenermaßen Ihrer Methodik gefolgt. Ein produktiver Streit allerdings sähe anders aus.
In der Hoffnung, dass Sie mir im letzteren Punkte vielleicht zustimmen, verbleibe ich

Mit herzlichem Gruß,
Ihr Wolfgang Schwarz

P.S.: Im Übrigen weiß ich es zu schätzen, dass Sie für den Anfang Ihrer Entgegnung einen vergleichsweise milden Vers aus Heines Disputation ausgewählt haben. Es hätte ja auch andere gegeben …