von Herbert Bertsch
Wie bekannt, kam es in der BRD am 17. August 1956 zum KPD-Verbot, worin die Verbreitung marxistischen Gedankengutes und der daraus auch abgeleiteten Staatspolitik der DDR eingesponnen waren, was unter anderem zu folgender erinnerungswürdiger „Aktion“ führte, deren offizielle Lesart sich in einem Dokumentenband der Bundesregierung findet – „Kabinettsprotokolle 1963, 79. Kabinettssitzung am 12. Juni 1963“: „Außerhalb der Tagesordnung berichtet der Bundesminister der Justiz über die Verhaftung einiger sowjetzonaler Journalisten oder Rundfunkleute. Der Minister legt die rechtlichen Aspekte der Sache dar und verweist auf die politischen Bedenken, die wegen etwaiger Repressalien auch der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, der nicht mehr anwesend ist, in einem Schreiben an den Herrn Bundeskanzler geäußert habe. […] Der Bundeskanzler verweist auf den großen Umfang der nachrichtendienstlichen und subversiven Tätigkeit des Ostblocks und besonders der Sowjetzone in der Bundesrepublik. Man solle daher nicht allein darüber nachdenken, wie die Verhafteten möglichst schnell freigelassen und der Sowjetzone ein Vorwand für Repressalien genommen werden könnte, sondern solle auch an die Möglichkeit eines Austauschs denken (Hervorhebung – H.B.) […].“
In Fußnoten zu dieser Passage des Dokuments werden die Einzelheiten erläutert: „Am 30. Mai 1963 waren die Chefredakteure der ‘Leipziger Volkszeitung’ und des Deutschlandsenders, Hans Teubner und Dr. Georg Grasnick, in Solingen während des Prozesses gegen das Präsidiumsmitglied der Deutschen Friedensunion (DFU), Lorenz Knorr*, der 1961 in einer Rede Generale der Bundeswehr als Nazi-Generäle und Massenmörder bezeichnet hatte, verhaftet worden. Während Teubner noch am gleichen Tag wieder freigelassen worden war, war am 31. Mai 1963 gegen Grasnick Haftbefehl wegen agitatorischer Sendungen im Sinne der verbotenen KPD erlassen worden. […] Der Fall war am 12. Juni 1963 von der Bundesanwaltschaft übernommen worden. Die DDR hatte in Presse und Rundfunk mit Gegenmaßnahmen gedroht, die sich nach Ansicht Bonner Politiker gegen den Berlin-Verkehr richten würden. […] Der Haftbefehl gegen Grasnick wurde am 21. Juni 1963 aufgehoben, da es nach Ansicht des Bundesgerichtshofs keine ausreichenden Beweise dafür gab, dass sich Grasnick während seines Handelns über dessen strafrechtliche Bedeutung im klaren gewesen war. Am 26. August 1963 stellte der Generalbundesanwalt das Ermittlungsverfahren vorläufig ein.“
Soweit das Kabinettsprotokoll. Nun einige Klärungen dazu: Die Verhaftung von Teubner und Grasnick am 30. Mai 1963 war die Teil einer groß angelegten geheimen Maßnahme zwecks Einschüchterung von kritischen Journalisten, der bereits etliche Festnahmen vorausgegangen waren. Darüber berichtete Der Spiegel vom 19. Juni 1963: „In der Nacht zum 14. Mai 1963 nahmen die Sicherungsorgane der Bundesländer 26 in Westdeutschland tätige Sowjetzonen-Journalisten vorübergehend fest.“ Der für beide Aktionen verantwortliche Düsseldorfer Staatsanwalt Otto Werner Stinshoff „gibt heute zu, dass die Verhaftungen von langer Hand vorbereitet waren“. Das Unternehmen sei unter dem Code-Wort „Maitest“ gelaufen.
Doch was heißt „gelaufen“? Es lief so ziemlich alles schief. Der Spiegel weiter: „Als die nordrhein-westfälischen Verhafter vor dem Gerichtsaal zielstrebig den vermeintlichen Chef des Deutschlandsenders umzingelten, hatten sie statt des Dr. Grasnick einen harmlosen Prozessbeobachter aus dem Solinger Stadtteil ‚Aufderhöhe’ im Netz und mussten den Verschreckten seiner Wege ziehen lassen. […] Beim zweiten Anlauf versicherten sich die Kriminalisten der Identität des Gesuchten besser: Sie blockierten Grasnicks leerstehenden russischen Personenwagen mit zwei Polizeifahrzeugen. Als Grasnick kam, um seinen Wagen zu besteigen, wurde er gestellt und ließ sich widerstandslos festnehmen.
Widerstand leisteten Solinger Schaulustige, als der erfolgreiche Kriminalmeister Lyding einen DFU-Mann hindern wollte, die Grasnick-Szene zu photographieren. Die Menge murrte, ein Polizist griff zur Pistole, ein Passant griff dem Pistolen-Polizisten an den Schlips.
Das Murren verbreitete sich von Solingen durch die Bundesrepublik. Diesmal waren die Haftgründe weit flauer als im Fall der 26 Grasnick-Kollegen, wenn es auch einen – freilich ebenso fragwürdigen – Präzedenzfall gab: Im Juli 1955 wurde der Ostberliner Paul Krüger, der als Entlastungszeuge in Karlsruhe angeklagter Genossen nach Westen gereist war, verhaftet und selbst vor der politischen Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe wegen seiner Tätigkeit in der DDR angeklagt.“
Da erschien es wohl doch angeraten, Bundeskanzler Adenauers listige Idee, DDR-Journalisten längerfristig als Geiseln zu nehmen, um sie – gegen wen und warum auch immer? – „austauschen“ zu können, besser nicht zu verwirklichen. Aber zumindest als Indiz, wie kalter Krieg der Großmächte und ihrer Stellvertreter in Deutschland so ablief, ist diese Überlegung des Bundeskanzlers schon noch ganz dienlich.
P.S.: Komplettiert wurde das Erscheinungsbild des Bonner Rechtsstaates in diesem Zusammenhang auch durch Vorgänge beim Prozess gegen Lorenz Knorr. Dazu G. Grasnick als Zeitzeuge: „Als ein Oberstaatsanwalt eröffnen will, wird nachgewiesen, dass der 1945 auf die Kriegsverbrecherliste gesetzt worden war. Er hatte wegen Bagatellen in Prag Todesstrafen verhängt. Der Oberstaatsanwalt muß abtreten. Er wird versetzt und – nicht überraschend für BRD-Verhältnisse – befördert.“
Der Prozeß gegen Lorenz Knorr wurde – nach mehreren weiteren Verfahren – erst 1974 (also nach 11 Jahren!) „eingestellt“. Über Knorr wurde eine Strafe von 300 D-Mark verhängt. Aber das Ziel war erreicht: Die benannten Generale waren inzwischen im wohl-erdienten Ruhestand. Merke: So geht „NS-Aufarbeitung“ auch.
Mit dieser Reminiszenz möchten der Autor und Wolfgang Schwarz (Blättchen–Redaktion) zugleich ihrem früheren Kollegen im Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR (IPW), Prof. Dr. Georg Grasnick, nachträglich zu seinem 85. Geburtstag gratulieren.
Schlagwörter: Georg Grasnick, Herbert Bertsch, kalter Krieg, Rechtsstaat