von Erhard Crome
Die veröffentlichte Meinung in diesem Lande will den Eindruck erwecken, es ginge um Günter Grass. Tatsächlich geht es um den Weltfrieden. Und um die Insolenz der derzeitigen israelischen Führung, sich ein Recht auf Präventivkrieg anzumaßen. Das nahmen in der Zeit des Kalten Krieges am Ende weder die Regierung der USA noch die der Sowjetunion für sich in Anspruch. Das Völkerrecht gilt für alle Staaten, nicht für alle sonstigen und einen nicht.
Zugleich aber geht es in der derzeitigen Medien-Aufwallung um die Verhältnisse hier in Deutschland. Unter Verweis auf die Geschichte, auf die Geschichte der DDR, aber auch die der alten BRD wurde immer wieder das Fehlen des kritischen Intellektuellen bemängelt. Bei Grass’ Gedicht in Sachen Angriffskrieg Israels gegen Iran handelt es sich um die Bekundung eines kritischen Intellektuellen, eben diesen Krieg verhindern zu helfen, zu warnen, bevor es zu spät ist. Auch dies wäre für Deutschland nach den vielen Jahrzehnten im 20. Jahrhundert, da es einen solchen Mangel gab, etwas Neues, das dazu beitragen kann, dieses Land in eine europäische Normalität zu bringen.
Die aktuelle Zeitdiagnose des „Exil-Zentrums“ (Zentrum der verfolgten Künste. Ein Projekt der Else-Lasker-Schüler-Stiftung) lautet: „Die Verfolgung kritischer Intellektueller scheint eine Konstante der Geschichte zu sein, die zeitlich und geographisch weit über das Deutschland der NS-Zeit hinausreicht. Gerade heute wird der Umgang mit Fremden, Andersdenkenden und Kritikern zum Prüfstein demokratischer Gesellschaften.“ Hier sind tatsächlich demokratische Gesellschaften gemeint oder solche, die sich dafür halten, nicht irgendwelche finsteren Diktaturen, weitab von unseren Behausungen. Allerdings wird das Verfolgen in solchen Gesellschaften, wie der unsrigen, nicht mit Zensurbehörde, Gefängnis oder Erschießen besorgt, sondern mit der Errichtung eines öffentlichen Prangers. Diejenigen, die ihn aufstellen, sind nicht wirklich zu sehen. Günter Grass hat von „Gleichschaltung der Medien“ gesprochen. Auch das haben ihm die Herren des Prangers prompt angekreidet: Es sei ein Wort aus der Nazi-Zeit … Und dieser Vergleich sei ja nun wirklich nicht … Es geschieht auch nicht über eine Schaltung – das war früher: der Chef der zuständigen Behörde (bei dem Vergleich der Reichspropagandaminister) legte fest, was in den Zeitungen zu stehen habe und was nicht, welche Titelseiten, Slogans zu benutzen waren. Was früher die Schaltung war, funktioniert heute in einem Schwarmverhalten (was nicht identisch ist mit der Herstellung einer sogenannten Schwarmintelligenz): Die „Leitmedien“, wie die Bildzeitung, Der Spiegel und die FAZ – hinzu kommen die großen Fernsehanstalten – setzen Duftmarken, die anderen schnuppern daran, nehmen die Spur auf, schreiben das ihre dazu, in dem selben Grundtenor bleibend. Es verbreitert sich von Medium zu Medium (ein paar linke, wie junge welt, Neues Deutschland und TAZ bleiben meist draußen, aber die gehören ohnehin nicht zu der gemachten Meinung derer, denen dieses Land gehört),und von Tag zu Tag wird weiter an der Schraube gedreht, bis entweder der an den Pranger Gestellte klein beigibt und um Vergebung nachsucht, oder aber nichts mehr zu drehen ist. Dann wird dieser Pranger stillschweigend abgeräumt und zu gegebener Zeit durch einen anderen ersetzt.
Was wurde Grass nicht alles vorgeworfen: Antisemitismus (dieses Totschlagargument hatte er selbst schon erwartet, wie in dem Gedicht nachzulesen ist), Eitelkeit, Ignoranz, „schlechte Science Fiction“ (als hätten israelische Militärs, Politiker und Geheimdienstleute nicht schon seit Wochen öffentlich über den militärischen Angriffsschlag diskurriert), sein Militärdienst in der Waffen-SS (als junger Mann, vor mehr als 67 Jahren, als würde alles, was er seither getan hat, nichts gelten), Formfehler im Gedicht – das sei gar kein Gedicht. Alles diente allein dazu, Günter Grass zum Problem zu erklären, nicht aber darüber zu reden, was er angesprochen hatte: den Präventivkrieg, die weitere Destabilisierung der ohnehin schon destabilen Region des Nahen und Mittleren Ostens durch Krieg, das real existierende israelische Atomkriegspotential – ins Verhältnis gesetzt zu der behaupteten iranischen Bombe, die deutsche Beihilfe zum Angriffskrieg, die am Ende auch zu einer Mitschuld am Krieg führen würde.
Über all das sollte nicht geredet werden. Nur hat das nicht funktioniert. Die Financial Times Deutschland machte eine Online-Umfrage unter ihren Lesern; man hatte fünf Wahlmöglichkeiten: Die Thesen von Günter Grass sind (1) „irrsinnig“, (2) „gefährlich“, (3) „antisemitisch“, (4) „diskutabel“ und (5) „richtig“. Das Ergebnis (nachzulesen am 10. April 2012 auf der FTD-Webseite, nach über 18.800 Antworten) war: für „irrsinnig“ hielten sie acht Prozent, für „gefährlich“ vier Prozent, für „antisemitisch“ vier Prozent, das heißt 16 Prozent drückten das aus, was die Schwarm-Medien seit Tagen donnerten, aber 28 Prozent hielten sie für „diskutabel“ und 56 Prozent für „richtig“, das heißt 84 Prozent der Antwortenden lehnten die obligatorische Interpretation ab, oder anders gesagt: eine deutliche Mehrheit (selbst wenn nur die Hälfte derer, die Grass’ Thesen für „diskutabel“ halten, seine Konsequenz teilt, bleiben immer noch 70 Prozent) lehnt den angekündigten Krieg gegen den Iran ab und ist der Meinung, dass auch Israel nicht das Recht hat, ihn zu führen.
Das Blättchen musste nicht auf Günter Grass warten. Bereits 2006 war in mehreren Texten auf die Vorbereitungen der Bush-Administration auf den Iran-Krieg der USA verwiesen worden. Sie blieben dann allerdings im Wüstensand der Niederlage des Irak-Krieges stecken. Am Ende der Bush-Zeit erhöhte sich die Gefahr eines Iran-Krieges erneut; das war im Blättchen 2008 nachzulesen. Wie die „Bellizistische Meinungsbildung“ gemacht wird, um diesen Krieg nun öffentlich akzeptabel zu machen, war eines der Themen 2011, wie zum Jahresende auch die Gefahr eines Dritten Weltkrieges, der die Tendenz hat, folgerichtig aus dem israelischen Angriff auf den Iran hervorzugehen. Das haben unsere Leser zur Kenntnis genommen, die Großmedien geruhten, die Warnungen zu ignorieren. Nun also der Literaturnobelpreisträger. Er hat das Thema jetzt in die Öffentlichkeit gebracht. Dort gehört es hin. Und das ist sein großes Verdienst.
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