von Matthias Käther
„Ich fand es sehr konfuss und langweillig.“
V. aus Hassloch über Kafkas „Prozeß“
Eine erfreuliche Nebenerscheinung des Internets, mit der zunächst niemand rechnete, ist, dass es sich nicht nur als Werbemedium, sondern auch als Werbekiller bestens eignet.Heute eine Ware zu produzieren und mit hohem Aufwand anzupreisen, ohne dass sie hält, was sie verspricht, ist fast unmöglich geworden. Sekundenschnell kann man sich in Foren informieren, was sie wirklich taugt. Freunde des schönen Scheins haben es nicht leicht im 21. Jahrhundert. Ein schlechter Kopfhörer, eine kurzlebige Waschmaschine werden von den Kunden gnadenlos entzaubert – in Form von niedrigen Punkten, abwärtszeigenden Daumen und bösen Kommentaren.
Alles schön? Nicht ganz, denn auch geistige Produkte geraten ins Visier des Kunden. Es ist nicht schwer, eine Bohrmaschine zu kritisieren. Entweder sie bohrt flott vor sich hin oder nicht. Die Aufgabe, ein literarisches Produkt zu beurteilen, ist da schon schwieriger. Was die Masse der Bevölkerung nicht abschreckt. Das Kritikerhandwerk ist längst nicht mehr nur Sache der Profis. Die Literaturkritik, früher den eleganten Feuilletonseiten der Zeitungen und Zeitschriften vorbehalten, tobt sich jetzt in den Internetforen der Buch- und Hörbuchanbieter aus.
Es ist eine Freude. Wir bekommen nun endlich zu hören, was unser liebes Volk der Dichter und Denker wirklich über Literatur denkt. Aggressionen, im Unterricht mühsam unterdrückt, brechen sich Bahn. Der Klassiker – mein Feind. So haut ein selbsternannter Reich-Ranicki dem Defoe mal so richtig den Robinson Crusoe um die Ohren:
„Extrem langatmige und sich immer wiederholende Beschreibungen von Tätigkeiten, Landschaften, Erlebnissen und vor allem Gedankengängen.
Das ist nach einer Weile total langweilig und einschläfernd. Und da kommen wir gleich zum nächsten großen Kritikpunkt. Die Kapitel sind viel zu lang !!
Wie soll man da eine Stelle wiederfinden, wenn man bei dem langweiligen Einerlei- BlaBla fast immer eingeschlafen ist?! Unzumutbar. Sorry aber das war bis jetzt mein größter Fehlkauf.“
Hätte das der Daniel mal früher gewusst. Er hätte sich kürzer gefasst. Na, besser spät gemeckert als nie. Meine Lieblingskritik ist erst wenige Wochen alt und betrifft den guten alten Werther von Goethe:
Es soll ja immer noch Leute geben, die Goethe für ein Genie halten, dieses Buch ist der unwiderlegbare Gegenbeweis.
An und für sich fand ich das Buch nicht schwer verständlich, aber es ist auf Grund seiner Langatmigkeit dennoch mühsam zu lesen.
Dem Kritikpunkt, die Handlung sei aufgrund der umständlichen Erzählweise schwer nachzuvollziehen, kann ich mich nicht anschließen, weil es einfach so gut wie keine Handlung gibt. An machen Stellen kann man gut fünf Seiten überspringen, ohne aus dem Kontext zu kommen. Hätte sich dieser Lappen nur gleich erschossen, als er angefangen hat rumzuheulen, wäre mir einiges erspart geblieben.
Das hätte dem alten Goethe sicher gefallen; ich bin mir sicher, er hätte es Eckermann vorgelesen.
Aber halt mal, Notbremse – soll man angesichts ungebildeter Leser einem literarischen Snobismus frönen? Blasiert schmunzeln über frustrierte Realschüler zwischen zwölf und 82? Und was folgt daraus? Appell an die Einschränkung der Meinungsfreiheit?
Manch mild gestimmter Volksfreund wird auch einwenden: So groteske Verrisse bleiben in der Minderzahl. Richtig: im amazon-Forum etwa bewerten derzeit 84 Leser den Werther als großartig bis sehr gut, und nur 10 halten ihn für ungenießbar.Wozu dann die Aufregung?
Es geht nicht darum, verknöcherte Traditionen unreflektiert weiterleben zu lassen; manch ein Schulbuchklassiker mag ja wirklich angestaubt sein. Nein, es sind die populären Parameter für Qualität, die die Angelegenheit so gefährlich machen. Gefährlich ist – dass sich Maßstäbe der pulp fiction allmählich in Maßstäbe für Weltliteratur verwandeln, dass neue Generationen verlernen, zwischen lustigem Zeitvertreib und komplexer Weltreflexion zu unterscheiden. (Was nicht heißt, dass beides nicht manchmal auch zusammenkommt.)
In der Gunst des Massengeschmacks steht seit 250 Jahren (vielleicht sogar seit 10.000?)vor allem zweierlei: Rasches Erzähltempo und die Entschleierung von Geheimnissen. Durchforscht man alte Kataloge von Groschenheft- und Kolportageverlagen, fällt auf, dass die Worte „rätselhaft“ und „geheimnisvoll“ und ihre substantivischen Entsprechungen geradezu ermüdend oft auftauchen. Bei uns wird dieses Bedürfnis der Entschleierung gestillt durch Krimis oder Enthüllungsstories.
Ein reines Stilmittel, nämlich die Gangart des Erzähltempos, ist für viele Leser das Qualitätsmerkmal. Er hält einen andante komponierten Roman immer für schlecht, und eine Prestissimo-Geschichte stets für einen Geniestreich. Der schmökernde Pöbel will nur eins: wissen, wie es weitergeht. Ginge es nach ihm, müsste der Autor dem Moloch Handlung alles opfern.
Geradezu stereotyp ist denn auch das höchste Lob der Lesermasse: „Ich konnte das Buch gar nicht aus der Hand legen!“ – „Ich musste die ganze Nacht weitermachen!“ – „Extrem spannend!“ – „Ein Page-Turner!“ – „Ich habe es verschlungen!“ – Grade letzte uralte, nie aussterbende Metapher zeigt sehr schön, dass es für viele beim Lesen eine Analogie zum Essen gibt: Fast-food schlägt Fünf-Gänge-Menü.
Natürlich: Auch gute Hochliteratur kann temporeich erzählen und behäbige Gegenwartsromane stehen nicht automatisch auf der Schwelle zu ewigem Ruhm. Und Volkes Stimme hat durchaus nicht immer unrecht. Es wird in einigen Kritiken auch Kluges und Witziges gesagt.
Nur – sollten wir nie vergessen, dass gute Rezensionen ein schwieriges Handwerk sind, genau wie das Bücherschreiben – Wir sollten uns bei Büchern, so amüsant die Lektüre von Leserkritiken im Netz ist, doch nur auf uns selbst verlassen. Mit diesen Texten ist es wie mit Reisetagebüchern: Sie geben viel mehr Aufschluss über den Beschreibenden als über das Beschriebene. Vielleicht stellt ja mal ein findiger Soziologe eine Anthologie dieser deutschen Vox popoli zusammen – das wird, fürchte ich, ein Buch, das wir immer wieder aus der Hand legen können.
Schlagwörter: Internet, Kritik, Literatur, Matthias Käther