von Margit van Ham
„Kurioserweise sind es die Orte auf dem ehemaligen Mauerstreifen, die etwas Befreiendes haben und an denen ich mich frei fühle. Orte, die nicht fertig und verputzt, festgelegt sind und funktionieren müssen. Man hat versucht, sie zu beplanen. Man hat ehrgeizig, vielleicht auch verzweifelt, Neues hineingewuchtet. Aber es wirkt wie bare Behauptung. Immer sind Reste liegen geblieben. Reste, Brüche, Brachen.“
Mit den Resten, Brüchen und Brachen der Stadtentwicklung in Berlins Mitte seit der Wende setzt sich Ulrike Steglich in ihren Berliner Geschichten rund ums „Universum Ackerstraße“, so der Titel ihres bei Basisdruck erschienen Buches, auseinander. Das in Hochglanzbroschüren beworbene Berlin mit Adlon und Potsdamer Platz interessiert sie dabei nur als Parallelwelt zu dem Berlin, das ihr ein Zuhause ist. Was bedeutet Stadtentwicklung für den Einzelnen; was bleibt? Was kann Heimat, Zuhause sein?
Die Geschichten erinnern an den kreativen Aufbruch der Stadtmitte in den neunziger Jahren, als das Unvollkommene, das Graue, noch viel Platz bot für Initiative und Träume – und sie führen uns durch Verluste von Orten, öffentlichem Raum für Kommunikation und Menschen, die mal ganz selbstverständlich Berlins Mitte geprägt hatten. Fotos von Mirko Zander, Klaus Bädicker, Rolf Zöllner und Christoph Eckelt nehmen die Atmosphäre dieser Geschichten auf, geben uns Bilder der „Brachen“ – und Erinnerungen. Nicht wenige der mal humorvoll-skurril daherkommenden, mal analytischeren Beiträge zu Stadtentwicklung und sozialen Folgen waren in der bis 2007 erschienene unabhängigen Stadtzeitung Scheinschlag, als deren Mitherausgeberin und Redakteurin Ulrike Steglich gearbeitet hatte, veröffentlicht.
Die Autorin schickt uns nun auf eine Zeitreise, lässt uns die „wilden“ neunziger Jahre noch einmal erleben, spürt den Wendebrüchen der Ostberliner nach – und den Verlusten der Westberliner, als mit der Industrie auch dort die Arbeitsplätze wegfielen. Sie setzt alten Geschichten ein P.S. hinzu (das meist schlucken, aber manches Mal auch lächeln lässt) und führt uns ins Jetzt. Kunstprojekte und „Macher“ von Stadtentwicklung werden vorgestellt, Immobilienmakler und früher zur Gegend gehörende Menschen wie Kurti von der Ackerhalle und Martin, der die Bar „Odessa“ betrieben hatte. Ulrike Steglich erzählt vom „Club der polnischen Versager“, der umziehen musste, aber überlebt hat. Auch „Haus Schwarzenberg“, ein Kulturprojekt, gibt es noch: „ein letzter widerborstiger Stachel in der hochgemotzten Gegend rund um den Hackeschen Markt“. Die Druckerei Graetz dagegen produziert nach drei Generationen und 100 Jahren keine Künstlerplakate mehr. Ihr Archiv, das Kulturgeschichte eines ganzen Jahrhunderts enthielt – Werke von Käthe Kollwitz bis Manfred Butzmann – wurde von nachfolgenden Designern im Müll entsorgt. Eine bittere Geschichte. Die von Motte endet nicht so bitter, aber auch hier ist das Scheitern Thema. Motte hatte 1988 den Abriss von Häusern der Mulackstraße verhindert, später Immobilienspekulationen am Hackeschen Markt auf kreative Art hintertrieben und Selbsthilfe-Bauprojekte initiiert. Irgendwann war er gegangen, ausgelaugt. Immerhin – jetzt ist er wieder in Berlin.
Die soziale Kluft in Stadt, Land, und im Kleinen selbst in Berlins Mitte wird eindringlich am Beispiel der Bernauer Straße gezeigt. Südlich der Bernauer sieht man auf schick sanierte Gründerzeit-Bauten von Mitte, nördlich der Bernauer, im Wedding, dagegen auf Sozialwohnungsbauten der siebziger Jahre. Die Mauer, die beide Bezirke einmal trennte, ist weg. Dafür gibt es eine neue Grenze. Die Rosenthaler Vorstadt ist zur teuren Adresse geworden, das Weddinger Brunnenviertel zur „Problemzone“ mit hoher Arbeitslosigkeit und Armut. Im ersteren wohnen Gutverdienende. Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen hat sich in nur zehn Jahren mehr als verdoppelt und liegt um mehr als 50 Prozent über dem Berliner Mittelwert. Über 80 Prozent der Bevölkerung zog erst nach 1994 zu. Kein Platz für die Kurtis.
Wie tief die soziale Kluft bereits ist, wird an den Grundschulen sichtbar, berichtet die Autorin. In der Papageno-Schule in Mitte liegt der Migrantenanteil bei sieben Prozent. Ein paar hundert Meter weiter jenseits der Bernauer Straße sind es inzwischen 80 bis 90 Prozent. Die soziale Mischung ist aufgegeben worden. „Wer von Ghettoisierung spricht, muss auch von Wohlstandsghettoisierung sprechen“, so Steglich. Im Wohlstandsghetto bleibt man unter sich, kann man die „weniger kuschligen Seiten der Großstadt vor dem Zaun lassen“, muss sich nicht darauf einlassen.
Ein richtig gut geschriebenes Buch, dem es gelingt, am Beispiel von Berlins Mitte Stadtentwicklung ganz konkret mit dem Leben des Einzelnen zu verknüpfen. Die Texte lassen erkennen, dass man das Planen von Orten, die unseren Lebensraum darstellen, besser nicht Verwertungsinteressen von Immobilienbesitzern und -spekulanten oder der Ignoranz oder den Profilierungsgelüsten von Politikern überlassen sollte. Es ist eine andere, leise Form „Empört Euch“ zu sagen. Vielleicht ist in der kritischen Bilanz der letzten 20 Jahre das Positive der Rettung der Gebäudesubstanz der östlichen Innenstadt nach der Wende etwas unterbelichtet geblieben – andererseits: Darüber wird zur Genüge geschrieben und offiziell parliert. Wer spricht sonst von Kurti oder Walter Graetz? Von den Brüchen und verlorenen Träumen der Stadt?
Ulrike Steglich ist im „Zwischenland“ zu Hause. An Orten, „die niemandem wirklich gehören. Unvereinnahmte Orte. Orte, an denen ich in der neuen Fremdheit ankomme. Und niemand bemäkelt mein Gepäck.“
Ulrike Steglich: Universum Ackerstraße. Berliner Geschichten, BasisDruck Verlag, Berlin 2011, 243 Seiten, 16,80 Euro
Schlagwörter: Ackerstraße, Berlin, Margit van Ham, Stadtentwicklung, Ulrike Steglich