von Hajo Jasper
Als 1949 George Orwells „1984“ erschien, hatte es die lesende Welt vor dieser Anti-Utopie gegruselt, obwohl das Prinzip der totalitären Überwachung da bereits existent war. Am höchsten entwickelt groteskerweise in einem Staat, der die Menschenliebe und -befreiung zum Nonplusultra seiner Bestimmung erklärt hatte. Aber freilich noch nicht so hochtechnisiert, wie Orwell dies seinen Überwachern und Gehirnwäschern in die Hand gegeben hatte.
Ungeachtet der Tatsache, dass sich zumindest unser mitteleuropäisches Dasein heute im Demokratischen bewegt und die Überwachung von Menschen vor allem seiner immer kompletteren Erschließung als Konsument dient – was Orwell sich seinerzeit ausgedacht hat, wirkt gegen das heutige Instrumentarium wie Kinderkram, von der näheren Zukunft ganz zu schweigen.
Wir haben uns spätestens seit dem Einsatz von Lügendetektoren schon an allerlei gewöhnt: Videoüberwachungen kennt inzwischen jeder; das allgegenwärtige Handy macht Aufenthaltsortungen ebenso möglich wie, bei behördlichem Bedarf, den Nachweis aller geführten Gespräche.
Hacker – ob privat oder amtlich beauftragt – können längst unseren Mailverkehr mitlesen und ihn bei Bedarf manipulieren. Eingeschleuste Trojaner, gern auch mal vom Verfassungsschutz in Computer eingepflanzt, übermitteln den Akteuren alle Informationen, die sie benötigen. Fast jeder Klick in ein nahezu beliebiges Internet-Portal wird längst ausgewertet – im harmlosesten Fall bekommen wir dann postwendend auf uns zugeschnittene Angebote auf den Bildschirm. Dass unsereinem alle Nase lang Kundenkarten angeboten werden, für die man nur ganz klitzekleine Angaben zu machen braucht, ist auch sattsam bekannt, war aber Orwell 1949 noch nicht vorstellbar.
Karl Valentin sprach einst weise: „Heute ist die gute alte Zeit von morgen.“ Was derzeit so per Nachrichtenticker durch die Welt wabert, lässt erahnen, dass sich unsere Nachfahren auf vieles freuen dürfen, was die Wissenschaft den Überwachern und Gehirnwäschern der Zukunft verfügbar machen wird. Gesichts- und Ganzkörperscanner sind dabei noch ausgesprochen harmlose Instrumente. Und ebenfalls, dass es Bochumer Forschern gelungen ist, auch Satellitentelefone abhörbar zu machen, ist fast Pillepalle gegen das, was die Neurologie so zu bieten hat. Haben Göttinger Physiker doch jetzt „eine physikalische Grenze überschritten, die als unüberwindbar galt: Sie blicken in die Gehirnzellen lebender Mäuse – und schauten den Tieren quasi beim Denken zu“. Und Forscher der University of California in Berkeley konnten rekonstruieren, was Menschen gehört haben – und zwar allein anhand von deren Hirnströmen; erst im Vorjahr war ihnen das bei gesehenen Bildern gelungen.
Gewiss: In Göttingen verspricht man sich aus der Entschlüsselung grundlegender molekularer Vorgänge im Gehirn zuallererst Erkenntnisse über Krankheiten wie Alzheimer, Autismus oder Parkinson – mit dem Ziel, Menschen künftig davor zu bewahren oder doch Betroffene heilen zu können. Und in Berkeley erhofft man zum Beispiel, zur Sprache unfähigen Gelähmten eventuell wieder eine Sprache geben zu können. Nur eben: die Gefahr, dass missbräuchlich benutzt wird was funktional nutzbar ist, ist aller Erfahrung nach und allen Abschwörungen zum Trotz hoch.
Und so könnte es sein, dass sich schon in einer übersichtlich nahen Zukunft erledigt hat, was einst in die so gern gesungenen Liedzeilen gefasst ward:
Die Gedanken sind frei / wer kann sie erraten? / Sie fliehen vorbei / wie nächtliche Schatten. / Kein Mensch kann sie wissen, / kein Jäger erschießen / mit Pulver und Blei: / Die Gedanken sind frei!
Denkste!
Schlagwörter: George Orwell, Hajo Jasper, Karl Valentin