von Erhard Crome
Christian Wulff klebt noch immer an seinem Sessel. Man mag es schon gar nicht mehr ansprechen. Horst Köhler trat aus „Respekt vor dem Amt“ zurück, Wulff bleibt wegen Respektlosigkeit vor demselben kleben. Wenn er im Fernsehen erscheint, mit offizieller Rede etwa zur Wannseekonferenz, die die Vernichtung der europäischen Juden zu behandeln hatte, zum Geburtstag Friedrichs II. oder zur deutschen Verkehrsgerichtsbarkeit in Goslar – das waren seine drei wichtigsten offiziellen Termine Ende Januar –, ist das nur noch peinlich, weil neben den wohlgesetzten, meist richtigen Worten die falsche Person steht. Die ARD stuft ihn auf der gefühlten Beliebtheitsskala deutscher Politiker inzwischen als unbeliebter denn Guido Westerwelle ein. Und das will schon was heißen. Olaf Glaeseker, der laut Frankfurter Allgemeine Zeitung (3. Februar 2012) von Wulff „mein Faktotum“ genannt wurde, soll an allem schuld sein und Wulff will von allem nichts gewusst haben. Ein Faktotum ist der vertraute und verschwiegene Kammerdiener, der Mann für alles, der seinem Herrn die Wünsche von den Augen abliest, bevor er sie überhaupt ausgesprochen hat. Und da soll er lauter unschöne Dinge gemacht haben, von denen der Herr nichts wusste? Vielleicht ist ja auch die Übernahme der Rolle als Sündenbock eine letzte Art Faktotums-Dienst. Inzwischen soll es auch um ein neues schönes Auto gegangen sein. Gattin Bettina, heißt es, hat per Anwalt und mit einstweiliger Verfügung die weitere mediale Thematisierung dieser Sache untersagen lassen. Damit ist sie aber nicht aus der Welt. Ob eine Staatsanwaltschaft in Hannover oder in Berlin eine dieser Angelegenheiten nun doch aufgreift, um Ermittlungen aufzunehmen, wird nicht mehr ausgeschlossen. Ein Berufsvertreter der deutschen Beamtenschaft hat gerade einer Zeitung erzählt, dass auch nur ein Teil dessen, was bei Wulff als Vorteilsnahme bereits feststeht (und folgenlos zu bleiben scheint), bei einem normalen kleinen Beamten längst zum fristlosen Hinauswurf geführt hätte. Diese Art Aktivitäten heißt schon „wulffen“.
Die deutsche Öffentlichkeit scheint sich an all das inzwischen gewöhnt zu haben. Seit Dezember schraubte sich die Skandalisierung der Causa Wulff hoch, er drehte seine winkeladvokatischen argumentativen Pirouetten und blieb. Dem Skandal ist medial nichts mehr hinzuzufügen, die Regierungsfraktionen stützen ihn weiter, die Kraft der Opposition reicht nicht, ihn zum Rücktritt zu zwingen, solange kein per Gerichtsentscheid bewiesener Gesetzesbruch vorliegt. Im Grunde steht er symbolisch für die zwergenhafte Kleinkariertheit der verkommenden Bürgerherrschaft in diesem Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts.
Zur selben Zeit sind in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zu einem Sondergipfel zur anhaltenden Schuldenkrise in Europa zusammengekommen. Der sogenannte Fiskalpakt war zu beschließen, der auf deutschen Druck hin für „mehr Haushaltsdisziplin“ sorgen soll und vorsieht, dass „Schuldenbremsen“ in den Ländern künftig gesetzlich zu fixieren sind. Es sollen weitgehend automatische Daumenschrauben, sprich „Sanktionen bei Verstößen“ zur Anwendung kommen. Es wurde auch über Förderung von Wachstum und Beschäftigung geredet – ob dies eine ähnliche Verbindlichkeit erhält, wie die „Schuldenbremsen“, dürfte bezweifelt werden. Das ist eher ein Placebo angesichts der Tatsache, dass die bereits erzwungenen „Kürzungen“ von Einkommen, Beschäftigung, Renten und Sozialeinrichtungen in Griechenland selbst bei Mainstream-Analytikern zu der Einsicht führten, dass diese Maßnahmen die wirtschaftliche Erholung des Landes abwürgen und mittelfristig verhindern.
Das deutsche Wesen bestimmt die europäische Gangart. Die konservative spanische Tageszeitung ABC schrieb dazu am 1. Februar: „Europa hat Keynes per Dekret verboten und die Gegner der Sparpolitik ziehen lange Gesichter. So wie Margaret Thatcher vor 30 Jahren hat sich nun Angela Merkel mit ihrem Sparfundamentalismus durchgesetzt, gegen dieses verschwenderische Gen der Sozialdemokratie, die immer eine Ausrede sucht, um mehr auszugeben: in Jahren des Booms, weil es Geld im Überfluss gibt, in Zeiten der Rezession, weil man das Wachstum anschieben muss. Aber die deutsche Kanzlerin ist eine vorsichtige Frau … Und das Credo ihrer Führerschaft ist unantastbar: Erst den Haushalt ausgleichen, danach sehen wir weiter. … Spanien tut gut daran, sich dieser Politik anzupassen, und hat auch gar keine andere Wahl. Reformen oder Bankrott, es bleibt keine andere Möglichkeit. … Es ist nur sie, also Deutschland, die den europäischen Motor am Laufen hält und bestimmen kann, wo es lang geht. … Und wer zahlt, bestimmt die Regeln.“ Angela Merkel, nach Berlin zurückgekehrt von dem Gipfel, erklärte dessen Ergebnis zu einem „Meisterwerk“. Mit anderen Worten, die Frau Meisterin lobte sich gleich selbst, bevor die Medien und die Opposition wieder mit ihrer ewigen Nörgelei und Meckerei anfangen konnten.
Ebenfalls zur selben Zeit werden die Kriegsszenarien gegen Syrien und Iran weiter angeheizt. Auch wenn deutsche konservative Medien den „vorzeitigen Abzug“ der USA und Frankreichs aus Afghanistan kritisieren, weil „die Demokratie“ in dem Lande noch nicht konsolidiert sei. US-Präsident Obama und Frankreichs Präsident Sarkozy haben in diesem Jahr Wahlen zu bestehen (oder auch nicht), in die sie nicht mit diesem langandauernden, verlustreichen Krieg gehen wollen. Insofern gibt es für diese Entscheidung plausible innenpolitische Gründe. Die sind aber nicht alles. Der Libyen-Krieg hat gezeigt, dass man ihn gewinnen konnte, dies aber an die Grenzen der zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel des Westens ging – es war ja ein „kleiner“ imperialistischer Krieg an der Peripherie, nicht ein „totaler Krieg“, für den der Bevölkerung spürbare und drastische Einschränkungen zu oktroyieren wären. Insofern ist der Abzug aus Afghanistan, wo es kein Öl gibt und wo die Ausbeutung anderer Rohstoffe wohl eher an die chinesischen und indischen „Nachbarn“ geht, wie verschiedene Abmachungen mit der Karsai-Regierung gezeigt haben, offensichtlich eine „Frontbegradigung“, um sich besser auf die kommenden Kriege gegen Syrien und Iran konzentrieren zu können. Und hier ist Deutschland bei der Aufstellung der politisch-diplomatischen Drohkulissen sehr aktiv dabei. Einschließlich der Beschimpfung der russischen Regierung, dass sie eine entsprechende Resolution des UNO-Sicherheitsrates noch immer verhindert.
Alles in allem, die Herrschenden und Regierenden arbeiten ziemlich erfolgreich an unserer Gewöhnung. Gewöhnung in einer dem medizinischen oder psychologischen Sinn analogen Bedeutung: Die „Toleranz“ wird vergrößert, das Ansprechen unserer Protestschwelle höher gelegt. Die schrittweise vorgenommene Veränderung unserer politischen Umwelt soll immer weniger wahrgenommen werden. Wir sollen uns gewöhnen an eine verkommene, korrupte politische Repräsentanz, die ja nur ein lächerlicher Schatten der Korruption ist, die die „Finanzmärkte“ als Kasino mit all ihren erschwindelten Boni ausmachen. Solange wir über Wulff reden, reden wir nicht über den Finanzkapitalismus. Wir sollen uns gegen das wachsenden Leiden abstumpfen und es uns in dieser Welt „wohnlich“ einrichten (davon kommt „gewöhnen“ letztlich) und dann auch akzeptieren, dass die deutsche Vorherrschaft in der EU normalisiert wurde und inzwischen auch der Krieg. Ja, es heißt, mehr Krieg bringe mehr Frieden und mehr Menschenrechte, wie im Falle Syrien vorgeführt werden soll. Und danach ist dann endlich der Iran dran.
Schlagwörter: Afghanistan, Christian Wulff, Erhard Crome, EU, Iran, Schuldenkrise, Syrien