von Heerke Hummel
„Stoppt das Euro-Desaster!“ Zu diesem Thema referierte kürzlich Professor Max Otte vor gut hundert Zuhörern im Auditorium der „Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“. Diese ist die freidemokratisch orientierte Schwester der Rosa-Luxemburg-Stiftung von der LINKEN. Otte wurde vorgestellt als Inhaber eines Lehrstuhls für allgemeine und internationale Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Worms. Seit 2011 ist er zudem Professor für quantitative und qualitative Unternehmensanalyse und -diagnose an der Universität Graz, leitet das 2003 von ihm gegründete Institut für Vermögensentwicklung (IFVE) und betätigt sich als unabhängiger Fondsmanager. Seine Voraussage einer Finanzkrise machte ihn nach deren Eintreffen zum begehrten Vortragsredner und Fernsehgast; so die Ansage.
Was Otte vorzutragen hatte, gab er seinen Zuhörern gleich schriftlich mit: Eine „Streitschrift“ gleichen Titels. Dass er sie kostenlos verteilte, obwohl den nicht gerade armen Mittelständlern der Preis von 3,99 € mehr als zumutbar gewesen wäre, deutet an: Dem Autor geht es nicht ums Geld, er verfolgt ein Anliegen. Als konservativ denkender Ökonom zieht er zu Felde gegen „die Herrschaft der Finanzoligarchie“ und ihre Helfershelfer in den einschlägigen Ministerien der USA und Europas, auch Deutschlands. Das klingt dann beispielsweise so:
„Der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower warnte 1961 in seiner Antrittsrede vor dem Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes in den USA. Heute übt ein Machtkomplex aus Wissen und Geld einen noch viel größeren und perfideren Einfluss aus. Er bestimmt unser tägliches Leben viel unmittelbarer als ein militärisch-industrieller Komplex es jemals könnte.
Das Zentrum dieser Macht ist nach wie vor die Wall Street. Goldman Sachs und wenige andere Investmentbanken, das auf das Engste mit dem Unternehmen verknüpfte amerikanische Finanzministerium, die amerikanische Notenbank FED sowie andere Regulierungseinrichtungen und Ratingagenturen bilden die Spitze der Pyramide. Noch einmal: Es geht hier nicht um ‚Verschwörungen‘, sondern um soziale Herrschaftsstrukturen – etwas, das die kritische Sozialwissenschaft seit jeher analysiert. Die Oligarchie hat keinen Masterplan, aber sie verteidigt ihre Interessen.
Wie kann es zum Beispiel sein, dass ein gutes Rating von Anleihen durch privatwirtschaftliche Agenturen Voraussetzung dafür ist, dass Investmentgesellschaften und Versicherungen diese in ihre Bücher nehmen dürfen? Sollten nicht die Investmentgesellschaften ihr eigenes Urteil fällen dürfen? Und wie kann es sein, dass viele nationale Gesetze vorschreiben, dass ein solches Rating ausgerechnet durch drei angelsächsische Agenturen zu erfolgen hat: Moody’s, Standard & Poor’s oder Fitch?“
Für Änderungen bedürfe es „des flächendeckenden politischen Willens. Und da sieht es düster aus. Der ehemalige Chefvolkswirt des IWF, Simon Johnson, beklagt die ‚Kaperung‘ der Politik durch hemmungslose Privatinteressen. Völlig zu Recht, und dabei helfen viele mit, zum Beispiel Politiker wie der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer, der sich 1998 vehement einer Regulierung der Finanzmärkte widersetzte – und heute unter anderem einen Hedgefonds ‚berät‘. Oder Caio Koch-Weser: Als Staatssekretär wirkte er in Brüssel am Wegfall der Gewährträgerhaftung für die deutschen Landesbanken mit, was den privaten deutschen Großbanken langfristig Milliardenerträge verheißt. Heute hat er einen Versorgungsposten bei der Deutschen Bank. Auch angesehene Wissenschaftler sind mit von der Partie, wie etwa Otmar Issing, ehemals Mitglied des Bundesbank- und EZB-Rats, der später beratend in die Dienste von Goldman Sachs trat und als Vorsitzender des Frankfurter House of Finance und der von der Bundesregierung benannten Gruppe für eine Reform der internationalen Finanzmärkte mit belanglosen Empfehlungen glänzte. Die Banken kaufen damit eben nicht überwiegend Beratung ein – sie kaufen angesehene Gesichter und Reputation, um genauso weitermachen zu können wie zuvor.
Der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück muss sich den Vorwurf gefallen lassen, nicht wirklich etwas bewegt zu haben. 2008 sprach er davon, zunächst müsse man Brände löschen, Brandbeschleuniger entfernen und dafür sorgen, dass solch eine Krise sich nicht wiederhole. Anschließend aber vernachlässigte er die Reform der Finanzmärkte und erging sich mit den Themen ‚Schweiz‘ und ‚Managergehälter‘ in Symbolpolitik. Die amtierende Bundesregierung scheint sogar auf allen Fronten gleichzeitig eingeknickt zu sein. Offenbar wagt sich niemand mehr an wirkliche Reformen.“
Wie auch? „Regierungen erliegen dem Diktat der Finanzmärkte, denen Spitzenpolitiker einen geradezu abgöttischen Respekt zollen. ‚Nur nicht die Finanzmärkte beunruhigen‘ gehört zu den Formulierungen, die auch Finanzminister Wolfgang Schäuble gern auf den Lippen führt“.
Die Mehrzahl der Ökonomen sei „zu willigen Helfershelfern in einem destruktiven System geworden. Wie eine Priesterkaste des Kapitalismus legitimieren sie das hemmungslose Treiben und predigen das Mantra, dass der Markt sich eigentlich nicht irren könne – und dienen so den Interessen der Finanzoligarchie“ urteilt ein Insider des Finanzsystems, der Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre und politische Wissenschaften an der Universität Köln sowie Finanzen und Marketing an der American University in Washington, D.C., studierte und nach seinem Abschluss an der Princeton University promoviert wurde; und der zugleich öffentlich bekennt: „Ich verneige mich vor den wenigen, die noch das öffentliche Interesse vertreten: dem früheren Bundespräsidenten Horst Köhler, den Bundestagsabgeordneten Schäffler und Wagenknecht und Wissenschaftlern wie Helge Peukert und Kunibert Raffer, die es als ihre selbstverständliche Pflicht ansehen, gegen den Wahnsinn anzuschreiben, weil sie aus Steuermitteln bezahlt werden.“
Da ergab sich die Frage (und sie wurde gestellt, von manchen Gästen leicht belächelt), ob Max Otte sich eine Koalition der Vernünftigen gegen die Wahnsinnsdiktatur der internationalen Finanzoligarchie vorstellen könnte. Seine Antwort: Er wünschte es. Doch scheine sie noch in weiter Ferne zu liegen. Denn Voraussetzung dafür sei ein allgemeiner, tief greifender Umdenkungsprozess in Wirtschaft und Politik.
Dennoch: Wäre es nicht an der Zeit, dass die Wenigen beispielgebend aufeinander zugehen, um die Initiative zu ergreifen, damit Gräben zugeschüttet und gemeinsame Grundinteressen in den Vordergrund gestellt werden? Ist denn die Freiheit in „Stiftung für die Freiheit“ der FDP wirklich eine ganz andere als die in „Freiheit statt Kapitalismus“ von Sahra Wagenknecht? Absolute Freiheit gab es nie und gibt es nirgends, auch nicht für Unternehmer des Mittelstands, für Manager von Großunternehmen und schon gar nicht – historisch sicherlich bedingt – für Wirtschaftsfunktionäre im Realsozialismus, wenngleich Letztere auch nicht völlig rechtlos waren. Worum geht es also? Es geht um den Handlungs- und Entscheidungsspielraum von Menschen entsprechend einer durch die gegebenen Umstände und Bedingungen bestimmten Notwendigkeit, hier im Bereich der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Zusammenlebens und im gemeinsamen Interesse aller an einem gut funktionierenden Gemeinwesen. Bei entsprechender Einsicht müsste eine Verständigung auf das für alle Notwendige möglich sein. Und die wird kommen, wenn der äußere Druck der Verhältnisse groß genug ist. Vielleicht sogar schneller als erwartet.
An jenem Abend allerdings interessierten sich die anwesenden Liberalen weniger für politischen Weitblick als weitestgehend für die aktuellen praktischen Fragen der Rettung ihres Gesparten.
Max Otte: Stoppt das Euro-Desaster! Streitschrift, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011, 43 Seiten, 3,99 Euro
Schlagwörter: Euro, Freiheit, Heerke Hummel, Max Otte, Sahra Wagenknecht