von Helga Jülich
Der Fluch dieser bösen Tat wird auf der ganzen (deutschen) Nation unauslöschlich ruhen. Die Täter (die Nationalsozialisten) werden eines Tages verschwunden sein, ihre Taten werden aber weiterleben.
Friedrich Kellner, Tagebücher 13.10.1939
Als Victor Klemperers Tagebücher ab 1995 im Aufbau-Verlag erschienen, war daran viel zu rühmen. Allem voran, dass es kaum jemals zuvor einem Zeitzeugen so gelungen war, anhand der Schilderung alltäglichen Geschehens nachvollziehbar zu machen, wie der Nazismus Schritt für Schritt das Denken und Verhalten der großen Mehrzahl der Deutschen ergriff und so zur Massenbasis für die Hitlerclique geriet und ihr diente – bis zum bitteren Ende.
„Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“, hatte Klemperer seine Aufzeichnungen leitthematisch überschrieben. Dem gleichen Ansatz, wenn auch anders in der Form, ist seinerzeit ein weiterer Tagebuchschreiber gefolgt – nie so namhaft geworden wie der große Romanist Klemperer – in dem, wie er Chronist jener barbarischen Zeit war, und Klemperer nahezu ebenbürtig.
Im Unterschied zu Klemperer war Friedrich Kellner sozusagen ein „no name“. Justizinspektor in der mittelhessischen Kleinstadt Laubach, bekleidete er das Amt des Geschäftsstellenleiters im dortigen Amtsgericht. Der Nazi-Partei blieb er fern und nicht nur das: Kellner hasste die Nazis und ihre Gewaltherrschaft bereits, als die Mehrzahl seiner Landsleute diesbezüglich noch begeisterte Heilserwartungen hegten. Sein „Nicht mit mir“ blieb eine Gratwanderung, einer von den braunen Lokalschranzen beabsichtigten Einweisung in ein KZ entging Kellner nur knapp.
Über all das, worüber er mit niemandem aus dem Kollegen- und Bekanntenkreis in jenen Jahren reden konnte, hat der damals Mittvierziger nahezu täglich Fakten gesammelt und Notizen gemacht. Kellner sammelt und schreibt akribisch auf, was er an relevanten Nachrichten über die Faschisierung Deutschlands, dessen Weg in den Krieg bis zu dessen Ende erfahren kann. Dass er das außer dem Abhören von „Feindsendern“ ausschließlich aus der ihm einzig zur Verfügung stehenden Nazipresse tut, scheint widersinnig – sind dieser doch ausschließlich gesteuerte Propaganda und Desinformation und ideologische Abrichtung zu entnehmen. Aber darin besteht das Faszinierende an diesem Tagebuch: Mit nichts anderem als mit dem, was man – leider oft auch missbräuchlich – als „gesunden Menschenverstand“ bezeichnet, weiß Kellner all die Erfolgsmeldungen und Propagandaartikel zu analysieren und sich ein reales Bild zu zeichnen – samt der frühen Voraussagen des dann ja auch mit aller Wucht und Härte eingetretenen „Zusammenbruchs“. Logik ersetzt, was an Wahrheit nicht verfügbar ist.
Der Fundus der Aufzeichnungen Kellners bis zum Kriegsende ist ungemein groß und aussagekräftig, die Quellen, die er kommentiert, sind sehr häufig als Faksimile aufgeführt, von den verlogenen Kriegsnachrichten über Todesanzeigen bis zu den belfernden Kommentaren der Goebbels-Presse, die einen noch heute das Blut gefrieren lassen.
Verachtungsvoll, schonungs- und kompromisslos entlarvt Kellner die Mächtigen als die Verbrecher, die sie sind und wünscht ihnen jenes Ende an den Hals, das zumindest ein Teil später auch erfährt. Nicht minder entschieden fällt sein Urteil aber auch über all die Mitläufer aus, die sich in der „Bewegung“ ihre Pfründe durch Posten, und zur Schau getragene Staats- und Parteitreue gesichert haben und so den Mächtigen deren Verbrechen überhaupt erst möglich machen; Feigheit ist denn auch ein zentraler Begriff mit dem sich Kellner immer wieder auseinandersetzt.
Gerade Letzteres ist ein Aspekt dieser verdienstvollen Edition, die – läsen sie Kellner denn – auch bei all jenen nachwirken könnte und sollte, die ihr eigenes Denken auch unter anderen gesellschaftlichen Umständen zugunsten einer blinden oder doch willigen Gefolgschaft an der Garderobe abgegeben hatten und haben, unter realsozialistischen Bedingungen ebenso wie heute, wo kaum jemand – ohne existentielle Bedrohung befürchten zu müssen (! ) – einem System in den Arm fällt, das zwar keines von Nazis ist, alle möglichen Aspekte von Menschenfeindlichkeit aber auch aufzuweisen hat.
„Armes deutsches Volk, was hast Du getan, als du deine Freiheit ohne Kampf in feiger Weise preisgabst? Ein Volk muß seine Verfassung genauso verteidigen wie sein eigenes Hab und Gut. [Ich möchte sogar sagen: das Volk muß in erster Linie seine (Grund)rechte verteidigen, denn ohne diese Rechte ist alles gefährdet. Dann regiert die Willkür!] das ist es, was künftigen Generationen täglich dreimal gesagt werden muß …“
Friedrich Kellner
Tagebücher, 17.3.1940
Friedrich Kellner, Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne. Tagebücher 1939-1945. Herausgegeben von Sascha Feuchert, Robert Martin Scott Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Riecke und Markus Roth, Wallstein Verlag, Göttingen 2011, 2 Bände, 1.134 Seiten, 59,90 Euro
Schlagwörter: Friedrich Kellner, Goebbels, Helga Jülich, Nazis, Victor Klemperer, Wallstein Verlag