von Reinhard Wengierek
Theater könne zum Zufluchtsort des Lebens werden, wenn – ja wenn die Aufführung keiner festen Frontziehung zwischen Gut und Böse folge. Wenn sie intern Arbeit und Spiel, also risikoreich bliebe und extern eine Wirkung schaffende Tat sei, nicht ein bloßes Gebilde. Schauspieler schufteten nicht stundenlang dafür, dass ihr Abend am Ende aussähe wie eine Vase der Königlichen Porzellanmanufaktur, wie ein Ding von „interesselosem Wohlgefallen“ – also Wirkungslosigkeit.
Drei Sätze, die das Theaterverständnis von Ivan Nagel umreißen. In den zahllosen Aufsätzen des 80jährigen Altvorderen der Branche (Dramaturg, Intendant, Festspielleiter) wird letztlich beständig dieser Satz-Dreier reflektiert; eine Auswahl aus den letzten vier Jahrzehnten ist jetzt greifbar. Sie enthält zum einen Arbeiten über Künstler, die Nagel sonderlich nahestanden (oder stehen), und die ganz besonders und jeweils ganz eigenartig über die Kraft verfüg(t)en, besagte drei Sätze mit Leben zu erfüllen: etwa die Regisseure Kortner, Zadek, Wilson, Minks, Grüber, Stein, Bondy, Marthaler, Castorf, die Schauspieler Therese Giehse und Ulrich Wildgruber. Sie alle entsprechen gerade in ihrer Gegensätzlichkeit Nagels Theater-Grundsätzen, die einen herrlich weit gespannten Theaterkosmos (Kortner – Castorf oder Zadek – Marthaler oder Wilson – Stein) geradezu inspirieren.
Zum andern fasst das Bändchen „Empörtes und Sich-Wehrendes“. Dabei geht es um das, was „gutes sinnvolles Theater“ behindert: Seine im eitlen Wahn selbstverschuldeten Hürden sowie die ihm „dumm oder hämisch“ von außen (Kulturpolitik!) zugemuteten Schranken. Eine Sammlung höchst lehrreicher Zeilen von aktueller Brisanz; auch wenn es um längst geschlagene Schlachten geht. Etwa um den Anfang der Schaubühne am Halleschen Ufer (Berlin 1970), um die Gründung des Festivals Theater der Welt (Hamburg, 1980), um die Neuordnung der hauptstädtischen Theaterszene nach 1990 (von der Neubesetzung der Volksbühne mit Frank Castorf bis zur Überlebenssicherung von so genannten „Theatern der Truppe“ wie Sasha Waltz und deren „Radialsystem“). Diese von weitreichender Erfahrung gespeisten, weise abwägenden, dennoch polemisch zupackenden Auseinandersetzungen mit einschlägigen Behörden mögen noch heute Theaterleuten hilfreich sein im Kampf gegen diverse Trägheiten mancher ihrer Träger. Wobei auch hier gilt: Keine feste Frontziehung. Die Mächte des Kunst- und des Geldbetriebs, Macher und Ermöglicher tragen beiderseits Verantwortung für „gutes, sinnvolles“, also wirkungsmächtiges Theater (besagte drei Sätze!). Spannende Lektüre.
Ivan Nagel: Schriften zum Theater, Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 287 Seiten, 17,90 Euro
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