von F.-B.Habel
Schillers Satz, wonach die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, gilt heute nicht mehr unbedingt. Seit über einhundert Jahren ist es möglich, die Leistungen der Schauspieler medial festzuhalten, und so finden sich immer wieder neue Bewunderer darstellender Künstler, die schon lange nicht mehr am Leben sind. Oft wurden diese Künstler ein Leben lang von Kritikern begleitet, setzten an der Meinung dieser Rezensenten ihren Maßstab und wuchsen an den Urteilen. Trotzdem sind Publizisten von einst oft nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt. Zu denen, die vor dem Vergessen bewahrt werden sollten, zählt Herbert Ihering (1888-1977), der fast sieben Jahrzehnte lang zu den prägenden deutschen Kritikerpersönlichkeiten zählte.
Der aus dem Hannoverschen stammende Literaturstudent (in Freiburg und München, bevor er nach Berlin kam) veröffentlichte seinen ersten theaterwissenschaftlichen Text in Siegfried Jacobsohns Schaubühne, der er als Autor zu Weltbühne-Zeiten bis zum Verbot 1933 treu blieb. (Auch in den Nachkriegsjahrzehnten veröffentlichte er hier gelegentlich.) Für Ihering, der sein Studium 1912 beendete, waren das Jahre des Ausprobierens, wenngleich das Schwergewicht von Anfang an auf der Theaterkritik lag. Er arbeitete als Dramaturg, bald gelegentlich als Regisseur, war Verlagslektor, und veröffentlichte bei S.J. auch eigene Lyrik. Jacobsohn schrieb seinen Namen nach der damals üblichen Schreibweise, in der für ein I als Versalie das J gesetzt wurde: Ihering, eine Form, die bis heute zu kleinen Verwirrungen führt. Karin Herbst-Meßlinger hat anhand der Geburtsurkunde die richtige Namensschreibung belegt.
Sie ist Autorin eines ausführlichen Essays, das den bei text + kritik in München herausgegebenen Band „Herbert Ihering, Filmkritiker“ einleitet. Denn zum Film veröffentlichte Ihering ebenfalls, wenn auch wohl nicht in der Schau- / Weltbühne. Seit 1919 befasste sich der Kritiker in Freie Deutsche Bühne, dem Berliner Börsen-Courier, nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Berliner Zeitung im Osten und der Anderen Zeitung im Westen in zahlreichen Aufsätzen und Kritiken mit dem einst verpönten Medium. In teils umfangreichen Artikeln beschäftigte er sich eingehend mit der Entwicklung des Films, dem Verhältnis von Stumm- und Tonfilm, dem von Film und Theater oder der Literatur im Film. Schon in der Stummfilmzeit, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als Ihering für das Deutsche Theater Berlin, Brechts Berliner Ensemble und die Zeitschrift Sinn und Form in der DDR arbeitete (und im Westen, wo er wohnte, abgeschrieben war) untersuchte er die Dualität der beiden großen Filmnationen USA und UdSSR. Immer aber frönte er seiner Leidenschaft, der Analyse des Spiels großer Mimen, das er oft über Jahrzehnte hinweg mit Liebe und auch Sorge beobachtete. „Wegener enttäuschte seine Freunde“, schrieb er in der Weltbühne 52 / 1918. „Er stellte sich neben sich selbst und verlor den Zusammenhang mit seiner Persönlichkeit. Er erklärte seine eigene Männlichkeit und bramabarsierte. Er verabschiedete den Instinkt und überließ sich einem Verstande, der nicht mit dem mimischen Gefühl gleichlief.“ Fast anderthalb Jahrzehnte später sieht Ihering Paul Wegener in dem Film „Unheimliche Geschichten“ und kommt im Berliner Börsen-Courier 1932 zu einem neuen Urteil: „Paul Wegener sitzt mit gestrafftem Gesicht und zurückgestrichenen Haaren da, nur Spannung und Ruhe, kein Getue, keine Absichtelei – außerordentlich. Paul Wegener könnte für den Tonfilm ein großer Gewinn sein, wenn er auf dieser Linie fortführe und nicht Dämonie zu posieren gezwungen würde, sondern bürgerliche Rollen spielt, harte, unbetonte, selbstverständliche Menschen oder böse Spießer. Wer oft gegen Wegener hat schreiben müssen, freut sich, ihm dies heute sagen zu können.“
Dass Ihering in der Schaubühne nicht über Film geschrieben habe, stimmt nicht ganz. Vor hundert Jahren, in Nr. 20/1911, bespricht er eine frühe Form der Genre-Verbindung zwischen Theater und Film, wie sie erst in den zwanziger Jahren bei Piscator modern wurde. Die französische Burleske „Die Million“ im Großen Schauspielhaus ist voller „Kulissenverrücktheiten und einem Wirbel von Unmöglichkeiten“, schreibt Ihering, und fährt fort, nachdem er den Beginn einer Flucht geschildert hat: „Der Vorhang fällt, und – der Kinematograph setzt die Handlung fort. Der Maler jagt aus dem Hause, wirft Menschen um, rennt durch die Straßen (…). Ein Sekretär frühstückt, trinkt Wein. Und den Schluck, den er kinematographisch begonnen, schlürft er auf der Bühne zu Ende. Grenzen sind verwischt, Akte ineinander geschliffen. Was schon – auf der Szene – lebensfern ist, wird noch einmal ins Unwirkliche projiziert.“ Die Gedanken, die Ihering hier zur Ästhetik der Dualität von Theater und Film äußert, wären wert gewesen, ins Buch aufgenommen zu werden: „Aber ist die Welt des Films in Wahrheit unwirklicher? Scheinen nicht seine photographisch getreuen Bilder als die der gepinselten Kulissen des Theaters? Sind nicht die rennenden, stolpernden, prügelnden Menschen des Kinos lebendiger als die raumgefesselten der Bühne? Alles ist auf den Kopf gestellt. Das Lebendige ist tot, das Tote lebendig.“ Leider fehlt diese frühe Rezension in der ansonsten sehr lesenswert zusammengestellten Sammlung zu Iherings Auseinandersetzung mit der Wirkung der Filmkunst. In seiner Besprechung von René Clairs Tonfilmadaption „Die Million“ spielt er aber 1931 im Börsen-Courier auf das zwanzig Jahre zurückliegende Theatererlebnis an. Ein anderes Manko ist das fehlende Register. Wo Wegener, Chaplin oder die Garbo erwähnt werden, muss man sich mühsam zusammensuchen. Aber auch das Suchen macht in diesem Band Vergnügen, weil man dabei immer wieder auf erstaunlich modern anmutende Gedanken der Kritiker-Legende stößt.
Rolf Aurich / Wolfgang Jacobsen (Hrsg.): Herbert Ihering. Filmkritiker, Reihe Film & Schrift, Band 12, edition text & kritk im Richard Boorberg Verlag, München 2011, 410 Seiten, 26,- Euro
Schlagwörter: F.-B. Habel, Herbert Ihering, Richard Boorberg Verlag, Rolf Aurich, Siegfried Jacobsohn, Weltbühne, Wolfgang Jacobsen