14. Jahrgang | Nummer 22 | 31. Oktober 2011

Querbeet (II)

von Reinhard Wengierek

Was mir diesmal im Kunstgestrüpp in die Quere kam: Zwei Briefe, ein Madonnen-Meeting, rheinische Gondelei und ein Hammer aus Bayreuth…
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Ein jeder weiß: Geschriebenes in Tüten gesteckt, gemeinhin Briefe genannt, können lebensumstürzende Folgen haben. Man sollte also vorsichtig sein mit Herzensergießungen oder sonstigen Offenbarungen via Post. Was aber tun, wenn die Seele schier unerträglich drückt? Wie bei Kurt, deutscher Kommunist, Emigrant in der Rettungsstation Moskau anno 1939. Dort knallt ihm der Hitler-Stalin-„Freundschaftsvertrag“ vor die Brust. Dort schnappt er nach Luft, schreibt an Werner, seinen Bruder: „Mit einem Verbrecher Freundschaft schließen…?“ – und kommt in die Lubjanka. KGB-Vorwurf: „Kritik an der Außenpolitik des Genossen Stalin.“ Und ab ins Straflager. Zehn Jahre für „antisowjetische Propaganda und Bildung einer konspirativen Organisation“. Die Organisation war Werner, war Karl. – Ein Vierteljahrhundert später im DDR-Berlin: Karl ist Chef eines zentralen historischen Instituts; ein Mitarbeiter dichtet die linientreue Rezension eines kritischen, also klassenfeindlichen Buchs über die KPD-Einheitsfrontpolitik Ende der 1920er Jahre und entschuldigt sich privat für diesen Opportunismus beim westdeutschen Verfasser. In einem Brief, den selbstredend die Stasi abfängt: Parteiverfahren, Parteiausschluss für den Absender.
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Zwei Briefe mit heimlichen Mitlesern und schweren Folgen. Der Fortschritt liegt im Unterschied: Damals rein in den Knast, jetzt raus aus der Karriere. Ein Unterschied, der in Wirklichkeit die Regression markiert, von der Eugen Ruge erzählt. In seinem lakonisch zu Herzen gehenden DDR-Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“; der dem Autor (57) just den Deutschen Buchpreis einbrachte. Nebenbei bemerkt, der Titel versteckt einen sinnigen Verweis: „Die Welt im Licht“ nannte einst Gorki seine Lobpreisung des „großen Sohns der Menschheit“ namens Stalin.
Gerade mal ein läppisches Halbjahrhundert brauchte August, Sachsens starker König, für den Einkauf seiner sagenhaften Bildersammlung. Ihr Kultstück: Raffaels „Sixtinische Madonna“; gemalt vor 501 Jahren. Ein paar Monate zuvor pinselte Raffael die „Madonna di Foligno“; residiert seit Urzeiten im Vatican. Jetzt, nach Jahrhunderten der Trennung, sind die Preziosen erstmals für wenige Monate wieder wie einst in Raffaels Atelier beieinander: In Dresdens Semper-Galerie. Doch der Sixtina gebührt die Palme im Schönheitswettbewerb: Sie triumphiert mit sanft entrückter Diesseitigkeit über die kühl introverte Jenseitigkeit ihrer Kollegin.
Dresden, Brühlsche Terrasse. Auf einer Bank in glühender Oktobersonne. Daneben die Kopie meiner Sitzbank aus gläsernem Kunststoff; gleichfalls einladend zum Herbstgoldgucken. An der Lehne das Schild „Nur für Arier“. Im Pflaster die kleine Metalltafel: „Am 1. April 1940 wurde Juden der Zutritt zur Brühlschen Terrasse verboten.“
Von hier ein paar Kilometer Luftlinie nördlich hinweg über die Elbe eine Aussichtsplattform für den berühmten Blick auf Elbflorenz, auferstanden aus der Zerstörung, die freilich schon weit vor jenem 1. April 1940 begann. Auch davon erzählt das Militärhistorische Museum der Bundeswehr im ehemaligen Arsenal an der Stauffenberg-Allee. Architekt Daniel Libeskind hat es hergerichtet und einen stählernen Keil in den neubarocken Prunkbau getrieben – mit besagter Plattform in der Spitze für den Blick auf das, was ein Ruinenmeer war.
In der Ausstellung zwei Schicksale auf Schautafeln als ein Sinnbild für politischen, also menschlichen Irrsinn: Der neunjährige Dresdner Manfred Pucks verlor bei der Zerbombung Dresdens seine Eltern, die zwanzigjährige Dresdnerin Henny Brenner, geborene Wolf, entging durch den Angriff an jenem 13. Februar 1945 ihrer für den Tag darauf angesetzten Deportation ins Todeslager und überlebte. In der Vernichtung Errettung, in der Sühne Auferstehung – was für ein Bild!
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Flink und genusssüchtig sowie erpicht auf des Herbstes letzten Glanz einen Dreisprung querbeet vom Main zum Rhein: Im Schauspiel Frankfurt Ibsens „Wildente“, von Karin Henkel bis zur Unkenntlichkeit mit kindischem Stummfilm-Expressionismus verkleckert. Einer der üblichen Auswüchse, mit denen intellektuell gespreizte Star-Regie nach Aufmerksamkeit giert. Das irritierte Publikum reagierte mit bloß einem einzigen Buh auf diese Verdummung.
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Weiter nach Wiesbaden: Ein stringent aus klassischen Ur-Tragödien gefiltertes Antiken-Digest „Agamemnons Kinder“, von Konstanze Lauterbach kunstgewerblich unter Aussparung von Tragik breit getreten auf den mit Bauschutt zugemüllten Brettern des Schauspiels der hessischen Landeshauptstadt. Dann Koblenz. Das Theater, eine spätklassizistische Kostbarkeit, begann mit Shakespeares „Macbeth“ die neue Saison. Der ansonsten tüchtige Intendant Markus Dietze machte mit allerhand Aufwand an Menschen und Material aus dem Schotten-Schocker doch bloß ein läppisches Stückchen vom Klopp-mich und Mord-mich. Das Volk aber jubelte in ergebener Liebe zu seinem Stadttheater. Dennoch: Ich herze unentwegt diese großartige, allein hierzulande flächendeckende Einrichtung; auch wenn nicht alles Gold ist – es bildet dennoch seine Leute, wenn auch zuweilen auf Umwegen.
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Das große Herbstglanz-Theater meiner westelbischen Stippvisite dann doch noch in der Koblenzer Bundesgartenschau: Mit der Seilbahn von der Mosel-Mündung am Deutschen Eck übern Rhein hinauf geschwebt zur Feste Ehrenbreitstein. Die blumenreiche Großgärtnerei hoch droben im letzten Hitzestoß des scheidenden Sommers. Ein Naturschauspiel.
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Zum Schluss ein Film-Bravo: Ich finde, Leander Haußmanns Stalinismus-Farce „Hotel Lux“, die den Ruge-Roman aberwitzig ergänzt, ist kein Schuss ins Peinliche, wie manche meinen. Den grauenvollen Irrsinn der Epoche durchzuckt leichthin erschütternd das Komische. Der Regisseur tänzelt über Abgründen als todernster Schalk, sein Protagonist Bully Herbig als Wahnsinnskomödiant.
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Und noch ein Wahnsinnsding: Frank Castorf wird 2013 in Bayreuth Wagners „Ring“ machen! Er ist die letzte Wahl der dortigen Damen-Direktion, die von den Filmdiven Wim Wenders sowie Florian Henckel von Donnersmarck kaltschnäuzig (Spätromantiker Wim) oder verängstigt (Neorealist Florian) Körbe erhielten. Nun soll der berüchtigte Zyniker und verspielte Volksbühnen-Dekonstruktivist aus Berlin Richards Riesen-Thriller stemmen. Das wird DER Hammer! Erschlagend albern und schlagend erhellend; also durchtrieben aufklärerisch. Eben wagnerisch. Schöne Grüße bis zum nächsten Querbeet.