14. Jahrgang | Nummer 21 | 17. Oktober 2011

In Hiroshima

von Max Klein, Liverpool

In Hiroshima nennt man Straßenbahnen „street cars“. Sie haben einen Fahrer und einen Schaffner. Die Haltestellen werden auf Japanisch und englisch angesagt. Bezahlt wird beim Schaffner beim Aussteigen. In einem solchen Straßenauto, das durchgängig aus mehreren Wagen besteht, ist es friedlich. Die Japaner, wie mir mein Physikerkollege Yuji Y. erklärt, stören andere ungern, jeder, und am Vormittag eher jede, hat also die Augen artig niedergeschlagen, die Jugend schaut in ihre Handys, aber man telefoniert nicht im „street car“. Es ist Frieden.
Eine solche Straßenbahn gibt es auf einem Foto, ausgebrannt aber nicht umgestoßen, erkennbar nur an der Form ihrer tragenden Eisenkonstruktion, dahinter die Öde. Auch in dieser Bahn muss Frieden geherrscht haben – die Japaner haben lange Traditionen und werden sich diese Art besonders zurückhaltenden Umgangs nicht erst zugelegt haben, um der Hektik der Moderne zu begegnen. Der 6. August 1945 war ein besonders schöner Sommertag, klarer blauer Himmel am Morgen, der der Stadt zum Verhängnis wurde. Die beste Art, ein Ziel auszumachen, war die Sicht bei gutem Wetter.
Die Stadt liegt am Wasser, sie hat Flüsse, die in den Ozean fließen, Brücken, diese zu überqueren, wie die Aioi-Brücke. Vorgelagert ist die bis zu etwa 500 Meter hohe Insel Miyajima, eine große Touristenattraktion mit ihrem Aquarium und ihren Rehen, die sich unter die Menschen an der Promenade mischen, unweit des orangefarbenen, im Wasser stehenden Schreins Itsukushima, der auf das Jahr 1168 zurückgeht. Als wir abends nach dem Kongress in einem Boot zum Festland übersetzen, da ist es warm, der Himmel dunkel und freundlich, Hiroshima ganz nah, es leuchtet herüber und ich erinnerte mich an Sausalito und die Bucht von San Francisco, ohne Golden Gate. Zum zweiten Mal, beim Anblick des Street-Car-Fotos und auf diesem Boot, dachte ich darüber nach, was das wohl für Menschen waren, die auf diese Stadt ohne jede Vorwarnung eine A-Bombe („little boy“) werfen ließen und geworfen haben, am 6. 8. 45 um 8.15 Uhr. Ziel war die Aioi-Brücke im Zentrum der Stadt. Die Bombe explodierte 300 Meter seitlich von ihr entfernt, in 600 Meter Höhe.
Yuji, dessen Großvater durch die Bombe verwundet wurde, bedankte sich besonders, als er erfuhr, dass ich zunächst ins Museum (peace memorial museum) gegangen war und nicht sofort auf die Tagung, die er mitorganisiert hatte. Im Museum sieht und erfährt man mehr, als man glaubt tragen zu können. Man ist umringt von Schulklassen, noch kleinen Kindern in weißen T-Shirts, die sich mit einem Schreibblock in der Hand ernsthaft Notizen machen. Man kauft sich ein Buch, eine Sammlung von Erinnerungen von überlebenden Opfern, die meisten damals selbst Schüler oder Studenten und damit befasst, Gassen in dichte Häuserreihen zu treiben, damit sich Brände im Fall von Bombenangriffen nicht ungehindert ausbreiten konnten. Alle berichten, wie am Morgen, es war um 7.30 Uhr, ein Fliegeralarm aufgehoben wurde und sie also besonders beschwingt an die Arbeit gingen, bis am Himmel ein B29 Bomber auftauchte.
Im Museum findet man, was wir „minutes“ nennen, das Protokoll der ersten Zusammenkunft des „target committee“ am 27. April 1945, der Gruppe von zumeist Wissenschaftlern also, die eine Auswahl treffen sollte von japanischen Städten, logischen Kriterien folgend, die sie aufstellten. Auch aus harmlosen Zusammenhängen ist bekannt, dass Kriterien immer dann formuliert werden, wenn man eigentlich schon weiß, was man erreichen will. Kriterium Nummer 1 hätte ja sein können, dass das „Target“ unbewohnt zu sein habe, man suchte jedoch ausdrücklich nach „larger populated areas“. So ist dieses Protokoll für einen Physiker ein besonders beklemmendes Dokument wissenschaftlichen Herangehens und menschlichen Versagens. Das Komitee benennt 17 dicht bevölkerte Ziele, darunter auch noch Kyoto, das aber wohl jemand kannte, der die alte Kaiserstadt ungern vernichtet sah, ferner Hiroshima, Nagasaki, Osaka und andere Städte.
General Farrel, so heisst es im Protokoll, fasste die Verantwortlichkeiten jedes Teilnehmers zusammen, darunter wie folgt: „a) Dr. Dennison will complete the weather data …; b) Dr Fenney will have available and correlate the informational data on the size of the bomb burst, the amount of damage expected, and the ultimate distance at which people will be killed; c) Dr. von Neumann will complete all of the computations and work with Dr. Fenney on the assigned tasks..“. Man legt schließlich den Termin des nächsten Meetings auf den 10. Mai um 9 Uhr fest, im Büro von J. R. Oppenheimer. Hat man es vielleicht abgesagt, weil Keitel am Tag vorher die Kapitulationsurkunde für Deutschland unterschrieb?
Man war höflich, hatte Doktortitel, war genial und später berühmt wie der Informatiker von Neumann. Aber hatte man ein Gewissen? Was heißt denn Gewissen im Krieg? Jo Rotblat, Physiker aus Liverpool, verließ das Manhattan-Projekt, als Hitler geschlagen war, mit dem Argument, es brauche nun keine Bombe mehr. Er ging auch, um in Polen seine Familie zu suchen, war er doch mit dem letzten Polen verlassenden Zug 1939 ausgereist und seine Frau gezwungen zu bleiben, obwohl sie sofort hatte nachkommen wollen.
Rotblat war lange Jahre Präsident der Pugwash-Bewegung, einer auf Einsteins und Russels Appell von 1955 zurückgehenden Vereinigung von Wissenschaftlern, die sich zusammenschlossen, um sich für die Ächtung und Abschaffung von Atom- (wie auch chemischen und biologischen) Waffen einzusetzen. 1995 erhielten Rotblat und Pugwash den Friedensnobelpreis. Im Juli dieses Jahres hielt Pugwash seine Welttagung in Berlin ab, unterstützt immerhin vom Außenministerium, kaum bemerkt jedoch von der deutschen Öffentlichkeit, die oft merkwürdige Themen beschäftigen.
Immerhin hatte mit Rotblat einer vorzeitig Los Alamos verlassen, viele andere aber machten mit und sogar noch weiter. Nun hatte der Abwurf mit Deutschland, könnte man einwenden, nichts zu tun. Im September 1944 beschließen Roosevelt und Churchill, nicht Truman und Attlee, die Bombe in Japan einzusetzen. Jedoch gab es einen kürzlich in den USA wieder diskutierten Zusammenhang insofern, als die Sowjetunion zugesagt hatte, nach dem Sieg in Berlin in den Krieg gegen Japan einzutreten. Im Juli 1945 wird in Potsdam im Gespräch zwischen Stalin und Truman dafür ein Termin benannt, der 15. August. Truman notierte und selbst der japanische Kaiser Hirohito wusste, dass dies die Niederlage Japans im Krieg besiegeln würde (Boston Globe, 7. 8. 2011). Es gab also wohl nur ein wenige Sommerwochen dauerndes „window of opportunity“, wie es wahrscheinlich genannt wurde, um die Bombe abzuwerfen.
Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass die A Bombe von Hiroshima eben nicht gebraucht wurde, den 2. Weltkrieg zu beenden. Führende Militärs der USA wussten das schon lange: „The use of this barbarous weapon … was of no material assistance in our war against Japan…“, so etwa William D. Leahy, Stabschef unter Roosevelt und Truman (Counterpunch, 5. 8. 2011). Man wollte die Technologie testen und die Wirkung erkunden – amerikanische Ärzte „kamen nicht, um uns zu helfen sondern die Folgen zu erforschen“ schreibt ein Überlebender in dem Buch der Erinnerungen.
In Hiroshima lebten 350.000 Menschen, 140.000 starben. Diese Zahl wird mit einer Unsicherheit von sieben Prozent angegeben, das heißt, man weiß nicht, ob es 10.000 mehr oder weniger waren. Sadako Sasaki war zwei als die Bombe fiel, glücklich, mit zwölf bekam sie Leukämie, mit 13 war sie tot – eine Spätfolge würde das wohl heißen. Unwahrscheinlich, dass Dr. Fenney solche Opfer einbezogen hat in seine Vorhersagen „about the amount of damage expected“.
Den sofortigen Tod Unbeteiligter bezeichnet man heute als Kollateralschaden. Das setzt doch aber voraus, dass es ein militärisches Ziel überhaupt gab, zu dem kollaterale Folgen in Beziehung gesetzt werden könnten. In Hiroshima gab es keine Kollateralschäden, hier nahm man eine Stadt zum „target“. Das war nicht neu, wovon Coventry oder Dresden Zeugnis ablegen. Jedoch hatte man die Explosionskraft vervielfacht – die Druckwelle breitete sich mit 440 Meter pro Sekunde aus –, die Hitze auf 3-4.000 Grad gesteigert und radioaktive Strahlung neu hinzugefügt. Eines der Opfer beschreibt, dass es anschließend 26 Gesichtsoperationen benötigte. Reihenweise stürzten sich überhitzte Menschen am Vormittag des dann nicht mehr blauen sondern finsteren Tages, voll schwarzen Regens, zur Abkühlung in den doch verstrahlten Fluss. Wer Wasser trank war des Todes, wer nicht oft auch. Die Strahlung kannte und sah man nicht, ihre Folgen waren grauenhaft.
Hiroshima hat wieder einen klaren Himmel und eine Architektur, die man vielleicht später einmal interessant finden wird, die jedoch heute vor allem den Willen seiner Einwohner bezeugt zu bleiben. Wer einmal dort war, wird Macht noch skeptischer sehen, denn es waren die Mächtigen und ihre falsch verstandenen, inhumanen strategischen Interessen, die die Welt auf militärische Planquadrate schrumpfen ließen. Wie viele wissen, dass die amerikanische Besatzungsmacht noch sechs Jahre nach dem Abwurf die Verbreitung von Fotos aus Hiroshima verbot und jeden Bericht einer scharfen Zensur unterwarf, wie man im Museum liest. Machtmissbrauch und Zensur gehören zusammen.
Als Jo Rotblat Ehrendoktor unserer Universität in Liverpool wurde, sagte er, grauhaarig und aufrecht: „Vergesst nie eure Menschlichkeit – never forget your humanity.“ Die überlebenden Opfer von Hiroshima und ihre Nachgeborenen wissen was das heißt. Mächtige und Wissenschaftler mögen es bedenken. Man lernt darüber besonders viel in Hiroshima.

Epilog
Helmut Schmidt schrieb in das Besucherbuch des Friedensmuseums in Hiroshima, dies hier möge nie mehr passieren. Warum aber geschah es denn? Zu den Ursachen, die keiner der von mir gelesenen Opferberichte erwähnt, gehört, dass der Faschismus Kriege neuen Ausmaßes begonnen hatte. Der in Fernost war jedoch nahezu beendet.
Man muss kein gebildeter Historiker sein, um etwa T. Hasegawa von der Universität Kalifornien Recht zu geben, der in seinem Buch „Racing the Enemy“ die Behauptung erneut bezweifelt, die Bombe wäre geworfen worden, um den Krieg zu beenden, selbst wenn man noch eine große Landeaktion plante, größer als die in der Normandie. Eigentlich genügt ein Blick auf Ereignisse und Daten des Sommers 1945: Am 16. 7. wird die erste Atombombe getestet, am 6. 8. die zweite auf Hiroshima und am 9. 8. die dritte auf Nagasaki geworfen – übrigens nur deshalb, weil über dem eigentlich vorgesehenen Kokura, das dreimal angeflogen wurde, schlechtes Wetter herrschte. Die drei Bomben explodierten alle vor welthistorischen Ereignissen – vor dem Auftakt der Potsdamer Konferenz am 17. 7., vor dem Beginn der Mandschureioffensive der UdSSR am 8. 8. sowie vor der Kapitulationserklärung Japans, die am 15. 8. erfolgte. Die Wirkung der Atombombenabwürfe auf Japan sollte nicht Strahlung sondern Herrschaft sein. Ihre Folge jedoch waren Tod und Wettrüsten.
Im Friedensmuseum findet man eine Aufstellung des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitutes SIPRI darüber, welche Länder im Jahre 2010 wie viele Sprengköpfe besaßen: USA – 9.600, Russland – 12.000, Großbritannien – 225, Frankreich – 300, China – 240, Indien – 60 – 80, Pakistan – 70 – 90, Israel 80.
Heute brächten intelligente Raketen auf der Basis moderner, Satelliten gestützter Erkundung ihre Last bei jeder Witterung ans Ziel. Das gute Wetter, das Hiroshimas und Nagasakis Tragik war, es wäre kein Kriterium mehr in einem „target committee“.
Die Sprengkraft der sowjetischen Wasserstoffbombe „Zar“ (1961) entsprach der von 3.000 Hiroshima-Bomben und war siebzehnmal stärker als alle im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen Bomben zusammen. Die Menschheit kann sich nun total, sofort, mehrfach vernichten. Ist die Welt sicherer, wenn alle Kernwaffen haben und sich gegenseitig auslöschen können, oder haben die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki wie auch Pugwash Recht, die eine atomwaffenfreie Welt fordern? Die Kernwaffen und den Krieg müsse man abschaffen, so Rotblats Vermächtnis. Über all das denkt man erneut nach, anlässlich einer Tagung über Elementarteilchenphysik in Hiroshima.