14. Jahrgang | Nummer 21 | 17. Oktober 2011

Imperiales

von Erhard Crome

Der „Heilige Vater ist in Berlin“, jubilierte ein Plakat auf dem U-Bahnhof. Als erstes fiel mir Heinrich Heine ein: Rom wollte herrschen; „als seine Legionen gefallen, schickte es Dogmen in die Provinzen“. Nun also besuchte der Imperator in Gestalt des Herrn der Dogmen die Provinz Germania. Der Bundespräsident stellte ein paar despektierliche Fragen, zum Beispiel ob denn der Mann nach der Heirat der Zweitfrau nicht doch der Heiligen Sakramente teilhaftig werden dürfe. Zuweilen ist auch Schweigen Ausdruck von Macht. Der Heilige Vater schwieg. Die Frau Bundeskanzlerin machte den gehörigen Kratzfuß und überreichte ein altes Notenblatt gregorianischer Gesänge. In Erfurt bekundete der Heilige Vater Genugtuung, dass er in den Gemäuern jenes früheren Klosters, in dem einst Martin Luther Diener der Alleinseligmachenden Kirche war, die evangelischen Oberen treffen konnte. Damit stehen wir fünfhundert Jahre später immer noch am Anfang: Als Luther in seinen letzten Jahren sein Lebenswerk überblickte, war er von Unruhe getrieben. Er hatte nicht die Kirche spalten und eine Separatkirche gründen wollen, sondern die ganze Kirche – also die Weltkirche von Rom – reformieren wollen; deshalb auch „Reformation“. Die klugen Zeitgenossen wussten das. Als Kaiser Karl V. 1547 nach dem Schmalkaldischen Krieg am Grabe Luthers stand, schlug sein machtpolitisch gewiefter Herzog Alba vor, die Gebeine Luthers aus dem Grabe zu reißen und als die eines Ketzers zu verbrennen. Der Kaiser lehnte dies ab. Damit ist Luther kein Ketzer. Aber die Katholen wollen die Evangelen noch immer nicht als „Kirche“ anerkennen, nur als eine christliche Gemeinschaft.
Was also ist Rom? Nur Kirche im Sinne von Glaubensgemeinschaft? Am Abend des Papstbesuches läuft im Fernsehen ein Film des Bayerischen Rundfunks. Die Stadt Rom ist zu sehen, Prozessionen, der Petersdom. Und die Katakomben unter Dom und Stadt. Die Nekropole, zweitausend Jahre alt, das Grab des Apostels Petrus, die uralten Archive mit den Korrespondenzen aller Päpste seit je. Zwischendurch Bilder vom Besuch Barack Obamas beim Papst. Wenn man versucht, die symbolische Sprache zu entziffern, ist klar, wer hier der Herr und wer der Vertreter einer der Provinzen ist, auch wenn diese Provinz zurzeit etwas mächtig erscheint. Der Imperator in Gestalt des Herrn der Dogmen lächelt huldvoll. Die Präsidentengattin macht einen Knicks. Oder habe ich das falsch gesehen? Manche behaupten, Rom sei nicht untergegangen, es habe nur seine Gestalt gewechselt; alle kolonialen Unternehmungen aller europäischen Mächte waren nichts anderes, als ein Ausgreifen dessen, was einstmals das Römische Reich war, in die Welt. Dann ist auch das heutige Weltfinanzsystem, in dessen Zentrum noch immer die USA und Westeuropa stehen, nichts anderes, als ein weiterer Gestaltwandel des Reiches: nach den Legionen die Dogmen und dann die „Finanzprodukte“. Der Papst segnet die Gläubigen, das Fernsehen überträgt live. Jemand sagt, er wirke wie der Imperator in „Star Wars“. Vielleicht ist das eine ja auch nur eine vorsichtige Beschreibung des anderen.
Zur selben Zeit kommen die Meldungen von der Finanzfront. Die „Troika“, zu der der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission gehören, fordert von Griechenland die Entlassung von 100.000 Menschen aus dem Öffentlichen Dienst. Oder werden es nur 30.000 sein? Die scheinen bereits gesetzt. Unter den dort obwaltenden Bedingungen sind auch Hunderttausende Familienangehörige von Armut bedroht, unzählige Handwerker und Kleingewebetreibende, schließlich der Fiskus, der die Steuern einkassieren soll. Politökonomisch ist bereits jetzt klar: Das „Sparprogramm“ in Griechenland würgt jegliche selbsttragende Erholung der Wirtschaft ab; der Rückgang der Wirtschaftsleistung Griechenlands ist Ergebnis der „Sparprogramme“. Das Land wird keine Chance haben, sich aus eigenen Kräften wirtschaftlich zu erholen. Es droht die wirtschaftliche Exkommunikation in Gestalt des Ausschlusses aus der Euro-Zone. Oder ist das nur eine andere Form des Vollzugs der glaubensmäßigen Exkommunikation?
Griechenland war nach der Teilung des Römischen Reiches Teil von Ostrom, nach dem Schisma von 1054, dem gegenseitigen Kirchenbann zwischen römischer und orthodoxer Kirche, religiös fremdes, ja feindliches Gebiet. Schon vor etlichen Jahren hatten verschiedene, abendländisch orientierte Autoren zum EU-Thema geraunt, die Aufnahme Griechenlands in die Europäische Union sei recht eigentlich ein historischer Irrtum gewesen, damals lediglich der Logik des Kalten Krieges geschuldet, weil die EU dem Wesen nach die Wiedererstehung des Abendländischen Europas war (mit Gallien und Germanien sowie Italien, pardon: mit Frankreich, Deutschland, den Benelux-Staaten und Italien als Gründungsmitgliedern), des Reiches Karls des Großen oder tatsächlich des Römischen Reiches. Die Unterzeichnung der Verträge erfolgte nicht zufällig in Rom. Die Delegationen der sechs Gründungsstaaten hatten sich am 25. März 1957 auf dem Kapitol getroffen. Vorbei am Reiterstandbild des Kaisers Marc Aurel kamen sie in den Konservatorenpalast in den festlich geschmückten Saal der Horatier und Curiatier. Auf dem üblicherweise verbreiteten Bild der EU sitzen die Unterzeichner der Verträge an einem langen Tisch, vor zwei monumentalen Wandgemälden. Die zeigen Motive aus der Frühgeschichte Roms: den Raub der Sabinerinnen und die Auffindung von Remus und Romulus, denen die Gründung Roms zugeschrieben wird. Was man auf dem Bild nicht richtig sieht, ist die gewaltige Statue an der Seite. Das ist eine überlebensgroße Bronzestatue von Papst Innozenz X. Tatsächlich befinden sich in dem Saal zwei Statuen, rechts und links des Tisches: Papst Innozenz X. und Papst Urban VIII. Sie haben den „Europäischen Verträgen“ den Segen gegeben. Der Nachfolger weilte gerade in Berlin. Der Papst ist den europäischen Vertragskonstellationen über-, nicht untergeordnet.
Gleiches Recht für alle? Oder weiter besondere Rechte für Rom und seine Umgebung? Nachdem Rom die Dogmen in die Lande geschickt hatte, wütete die Heilige Inquisition in weiten Teilen Europas und forderte Hunderttausende Opfer. Für Italien hatte der Papst das segensreiche Wirken der Inquisitionsgerichte untersagt. In der Nähe seiner Paläste wollte er nicht den Gestank öffentlich verbrannter Menschenleiber. Wird das jetzt, da das Finanzsystem ein anderer Aggregatzustand des Reiches ist, auch so sein, Italien anders davonkommen als Griechenland? Es wird gemurmelt, das „Sparprogramm“ der Berlusconi-Regierung reiche nicht aus. Braucht Italien eigentlich eine positive Bewertung? Luigi Vittorio Graf Ferraris, einst langjähriger Botschafter Italiens in der BRD, sagte auf die Frage nach der Korruption in Italien bereits vor zwanzig Jahren: „Die letzte ehrliche Regierung in Italien war die von Kaiser Diokletian im 3. Jahrhundert.“ Außerdem ist Italien zu groß, um unter den „Rettungsschirm“ der EU und seine Restriktionen zu passen. Man wird also Griechenland möglicherweise fallen lassen. Wenn es aber die Absicht der calvinistischen Spar-Puristen sein sollte, die den „Washingtoner Konsens“ ausgeheckt haben, ihre Sparwut auch den Italienern zu oktroyieren, wird dieses Ansinnen am Geist des Katholizismus scheitern.
Den gibt es seit zweitausend Jahren. Was ist dagegen eine Forderung aus New York oder Brüssel? Der Heilige Vater ist die Ewigkeit – nicht dieser Benedikt, sondern der Papst als solcher. Der schnelle Gewinn an der Börse dagegen ist ein Furz in der Weltgeschichte, um ein deftiges Lutherwort zu benutzen.