14. Jahrgang | Nummer 19 | 19. September 2011

Wenn die unten nicht mehr wollen

Wir leben in einem Systemwechsel – und werden hundert Jahre brauchen zu begreifen, wie er sich abgespielt hat. Eine Betrachtung

von Arno Widmann

Als ich ein Kind war, Mitte der Fünfzigerjahre, saß ich hinten im Auto. Vorne saßen meine Eltern. Ich war Dinosaurierfan und stellte mir vor, wie es vor zweihundert Millionen Jahren gewesen sein mochte, als der Tyrannosaurus Rex, der heute vor dem Frankfurter Senckenbergmuseum steht, durch die Farnlandschaften eines erdmittelalterlichen Taunus stapfte. Diese Fantasien wurden an einer bestimmten Stelle – unsere Sonntagsausflüge führten immer wieder auf dieselben Strecken – unterbrochen, weil ich rechts, gegenüber auf dem Mauerwerk einer Brücke verblasst, aber doch deutlich lesbar „Rätedeutschland“ erkennen konnte. Ich wusste nicht, was dieses Wort bedeutete.
Es war rätselhafter als „Eoraptor lunensis“, „Argentinosaurus“ oder „Brachiosaurus“ – die hatte ich alle aus Silberpapier nachgeformt. In langen, sehr vergnüglichen Nachmittagen hatte ich meine Zunge an ihre Namen gewöhnt.
„Rätedeutschland“ dagegen war ein nicht zu knackendes Rätsel. Räte kannte ich gut. „Geheimräte“ traten schließlich in fast allen Büchern auf, die wir in der Schule lasen. Was „Deutschland“ war, schien ohnehin klar zu sein. Aber das Kompositum war ein unlösbares Geheimnis. „Rätedeutschland“ war – so viel war mir klar – ein Relikt, das Fossil einer Auseinandersetzung, über die mir nichts bekannt war. Es stand – ich wusste nicht, wie lange schon – da drüben an einer Brücke, über einer Straße, die keine Straße mehr war.
Mehr als zehn Jahre später hatte ich die Namen der Saurier vergessen, aber ich propagierte die Idee einer Räterepublik. Die Philosophin Hannah Arendt hatte die Räte begeistert begrüßt, als sie 1956 den Eindruck hatte, bei den aufständischen Ungarn wieder auf sie gestoßen zu sein. Die Vorstellung, dass die Menschen sich zusammentun, Räte bilden, um ihre Interessen selbst wahrzunehmen, dass sie sich also nicht vertreten ließen, reizte in den Sechziger- und zu Beginn der Siebzigerjahre viele Menschen – fast überall auf der Welt.
Wer damals links war in der Bundesrepublik, der war nicht unbedingt für eine Ausweitung des Staates. Im Gegenteil. Die meisten waren sehr interessiert daran, der Macht des Staates Grenzen zu setzen. Die DDR war keine linke Utopie. Dass dort die Menschen nichts zu sagen hatten, war niemandem entgangen. Es gab dann freilich viele, die nach der Logik „der Feind unseres Feindes ist unser Freund“ verfuhren. Das ist die Logik des Realpolitikers.
Je stärker die kritische Bewegung jener Jahre sich einließ auf die Wirklichkeit und ihre vertrackten Mechanismen, desto weiter rückte sie wieder von „Rätedeutschland“ ab. Der Frankfurter Anarchist, einer, der an viele Hauswände „Alle Macht den Räten“ gepinselt hatte , wurde SPD-Gemeinderatsmitglied in einem kleinen Ort im Oberhessischen.
Der lange Marsch durch die Institutionen hatte begonnen, und ein paar Jahre später waren einem die eigenen Slogans der Sechzigerjahre ebenso rätselhaft geworden wie die vom Ende der Vierzigerjahre sie dem Kind der Fünfzigerjahre erschienen waren. Die Geschichte, und mit ihr man selbst, war über sie hinweg gegangen. „Brecht dem Staat die Gräten – Alle Macht den Räten“ hatte man skandiert und ein paar Jahre später die Grünen gegründet. Ein paar Jahrzehnte später hatte man so sehr seinen Frieden mit den bestehenden Verhältnissen gemacht, dass man bereit war, die eigenen Kinder in den Krieg zu schicken, um „unsere Freiheit am Hindukusch zu verteidigen“.
In sieben Jahren wird 1968 fünfzig Jahre her sein. Kein Wunder, dass viele dieser Generation sich fragen, wo der neue Aufstand bleibt, wo die neue Jugendbewegung entstehen wird? Sie ist da. Sie ist nur noch nicht bei uns. Wir sahen sie vor ein paar Jahren in den Pariser Vororten. Vor ein paar Tagen in den englischen Städten. Der arabische Frühling ist ein Teil von ihr. Wir werden sie bald in China sehen. Es gibt sicher schon Verschwörungstheoretiker, die uns zeigen, dass all dieses Rütteln an den Gittern des Status Quo gelenkt wird vom KGB oder anderen finsteren Mächten.
Aber es ist der Zustand der Welt selbst, der auf Änderung drängt. 1968 war die Zeit der Befreiung der Kolonien. Man konnte täglich in den Nachrichten mitbekommen, dass die Macht sich zurückziehen musste, dass sie gestürzt werden konnte. Dazu ein Eichmann im Anschluss an die Tagesschau im Käfig. Gerechtigkeit war möglich. Gewollt werden musste sie. Das war die tägliche Botschaft.
„Wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“ – so umschrieb Lenin die revolutionäre Situation. Wir wissen inzwischen, dass beides zusammen selten eintrifft. Jedenfalls wurde gerade der Welt vorgeführt, dass die oben nicht können. Das hat nicht dazu geführt, dass die unten nicht mehr wollen. Aber auch wer sich von „Rätedeutschland“, von der Idee also, dass er zusammen mit anderen sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, verabschiedet und sich wieder den Sauriern zugewandt hatte, hegt zu Recht den Verdacht, dass er sich auch nicht dümmer hätte anstellen können als zum Beispiel die deutschen und amerikanischen Finanzaufsichtsbehörden.
Er erinnert sich daran, wie viel Hohn und Spott Oskar Lafontaine, als er Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland war (Oktober 1998 bis März 1999), erntete, weil er die Einführung internationaler Kontrollen der Aktivitäten der großen Investoren forderte. Er wurde nicht nur angegriffen, weil das falsch sei, sondern vor allem deshalb lächerlich gemacht, weil er vorhabe, einen völlig aussichtslosen Kampf anzutreten. Gegen die Milliardenfonds könne die Politik nichts ausrichten. Zehn Jahre später standen die, die sich über die Politik lustig gemacht hatten, da und verlangten von ihr, mit Hilfe der Steuerzahler saniert zu werden.
Angesichts dieser Entwicklung wird man sich nicht wundern, dass die Idee, der Markt dürfe nicht das Sagen haben, wieder mehr Befürworter findet, als in jenen Jahren, da jeder glaubte oder doch in dem Glauben unterstützt wurde, er könne sich am Markt ordentlich bereichern. Es waren Sozialdemokraten, die uns rieten, unser Geld in Aktienfonds zu geben, um für unsere Renten vorzusorgen.
Niemand hat nachgerechnet, wie viele Menschen diese Empfehlungen wie teuer bezahlt haben. Über Jahrzehnte predigten die, die Geld haben, denen, die keines haben, sie sollten nicht auf den Staat, sondern auf ihre eigene Tatkraft setzen. Als die, die das Geld hatten, es verspielt hatten, da wandten sie sich an den Staat, nicht wie ein Hartz-Empfänger um ein paar Hundert Euro bittend, sondern sie wollten Milliarden, um den Status quo, um ihren Status quo zu retten. Das gelang ihnen. Sie waren „systemrelevant“ oder verstanden es, sich als „systemrelevant“ darzustellen.
Diese Lage weckt linke Reflexe. Nicht nur in der Linken. Vergangenen Sonntag zitierte Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den Thatcher-Biografen und konservativen britischen Journalisten Charles Moore, der im Daily Telegraph geschrieben hatte: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke Recht hat.“ Schirrmacher, dessen bewundernswerte Begeisterungsfähigkeit gern mit ihm durchgeht, ist auch diesmal hellwach und wittert einen neuen, erregenden Ton. Er schreibt: „Die CDU hat ihre an die Finanzmärkte ausgeliehenen immateriellen Werte, ihre Vorstellung vom Individuum und vom Glück des Einzelnen niemals zurückgefordert. Sie hat nicht nur keine Verantwortung für pleitegehende Banken verlangt, sie hat sich noch nicht einmal über die Verhunzung und Zertrümmerung ihrer Ideale beklagt. Entstanden ist so eine Welt des Doppel-Standards, in der aus ökonomischen Problemen unweigerlich moralische Probleme werden. Dort liegt die Explosivität der gegenwärtigen Lage, und das unterscheidet sie von den Krisen der alten Republik.“
Man muss Schirrmacher dankbar für diesen Aufschrei sein. Selbst wenn man seine Vorstellung, die CDU habe ihre Ideale erst in der Ära Merkel verraten, nicht teilt. Auch der Doppel-Standard ist kein neues Modell, sondern seit Jahrzehnten das einzig funktionierende. So schön es sich im Feuilleton macht, die Krise erst dann wahrzunehmen, wenn sie aus den Niederungen der Ökonomie in den Himmel der Werte und Ideen tritt, so sollte man doch davon ausgehen, dass die Lösung nicht im Himmel, sondern auf dem Boden der wirtschaftlichen und politischen Tatsachen gefunden werden muss.
Wenn ich ganz kurz einmal gegen Schirrmacher konservativ argumentieren darf: Es gibt nur diese Menschen. Den neuen gibt es nicht. Falls es ihn einmal geben sollte, so wird er das Produkt des alten Menschen sein. Anders gesagt: Die Predigt gegen den Doppelstandard hilft nichts, die Forderung nach einer anderen Moral hilft ebenso wenig. Den jungen Männern, die in Sekunden Milliarden verschieben, ist klar, was sie treiben, und auch die Sparkassenangestellte, die ahnungslosen Kunden exakt die Papiere anbietet, die ihre Kasse loswerden möchte, weiß, was sie tut. Ihnen fehlen nicht die Werte. Ihnen fehlt das Rückgrat, sie dann, wenn sie bedroht, wenn sie also am dringendsten gebraucht werden, zu verteidigen. Gegen andere und gegen die eigenen Interessen. Ihnen fehlt das Rückgrat, und uns fehlt das Rückgrat. Darum gibt es Institutionen, Gesetze, Regeln.
Wir wissen nämlich, dass wir uns auf unser Rückgrat nicht verlassen können. Wir hängen die Moral hoch. „Damit keiner dran kommt“, sagte mein Großvater und klopfte mit seinem Stock auf den Boden. Die Institutionen zwingen uns dazu. In einer Demokratie zwingen wir uns mittels ihrer.
Der Sozialismus ist gescheitert, weil in ihm alles systemrelevant war. Alles war Sache der Führung. Die kleinste Verzögerung der Obsternte, ein kritischer Nebensatz in einem Hunderte von Seiten langen Roman – alles war sofort eine Frage der Leitung. Jedes Mal ging es ums Ganze. Eine Linke, die glaubt, daran anknüpfen zu müssen, hat die Lektion der eigenen Geschichte nicht verstanden. Eine Rechte, die nicht begreift, dass es nichts gibt, das man einem überlassen könnte, schließt die Augen vor ihrer Geschichte. Je weniger in einer Gesellschaft systemrelevant ist, desto besser. Desto geringer die Einsturzgefahr des Ganzen.
Es geht nicht darum, Einstürze, Bankrotts also, zu verhindern. Es geht darum, sie möglichst früh, also möglichst kostengünstig passieren zu lassen. Das ist sicher keine linke Idee. Das ist aber auch keine rechte Idee. Das ist vernünftig. Es ist das Vernünftige, das schwer zu tun ist. Besonders in einem Land, das Jahrzehnte lang marode Industrien durchgefüttert, ganze Landstriche miternährt hat, ein Land also, das sich in Ost und West daran gewöhnt hatte, dass es irgendwie schon funktionieren wird. Solange die Wirtschaft brummt, mag das gehen, aber der Hunger auf neues Geld wird immer größer sein als die Wirtschaftskraft. Das kennt jeder aus seinem eigenen Leben oder dem seiner Nachbarn. Das gilt für Staaten genauso. Solange das Geld leicht zu beschaffen ist, wird es beschafft. So wird es von Mal zu Mal teurer. So finanzierte am Ende die BRD die Schuldenlast der DDR. Verschwindend wenig übrigens im Vergleich zu den heute aufgetürmten Schulden der Bundesrepublik Deutschland. Jetzt kommt die BRD selbst an die Grenzen ihrer Möglichkeiten.
Wer jetzt schaut, ob eine Lösung von links oder von rechts kommt, der vertut seine Zeit. Der ehemalige chinesische Ministerpräsident Deng Xiaoping erklärte einmal, ihm sei es völlig gleichgültig, ob die Katzen rot oder schwarz wären, Hauptsache sie fingen Mäuse. Recht hat der Mann. Allerdings ist unsere Lage ein wenig komplizierter. Es gibt keinen Deng Xiaoping, der die Katzen einsetzt. Es gibt auch keine Katzen. Es gibt nur Mäuse, die versuchen, ihr Leben so zu organisieren, dass sie nicht von den Mäusen, die behaupten, sie seien Katzen, gekillt werden. Von ihren Brüdern und Schwestern, die sich besonders entwickelt haben und nun beanspruchen, den anderen zu sagen, wo es langgeht. Die anderen haben es gerne, wenn man ihnen die Arbeit abnimmt. So können sie aus dem Fenster schauen, ihren Utopien anhängen und von Sauriern träumen.
Aber es kommt der Zeitpunkt, da wehren sie sich, da stoppen sie die Mäuse, die sich für Katzen ausgeben. Manchmal erst nach zwanzig, dreißig Millionen toten Mäusen. Darum sind Verfahren gut, diese mutierten Lebewesen, denen die Mäuse ein Gutteil ihrer Fortentwicklung – im Guten wie im Bösen – verdanken, rechtzeitig zu stoppen. Bevor ihr Nutzen zum irreparablen Schaden wird.
In Europa wurde darum das Prinzip der Gewaltenteilung entwickelt. Die einen machen die Gesetze, die anderen setzen sie durch, und die nächsten sprechen Recht. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, auf die Einhaltung dieser Trennung zu bestehen. Je größer freilich eine Katze ist, desto leichter wird sie diese Barrieren überspringen. George W. Bush war eine solche Katze. Silvio Berlusconi ist eine.
Von Gregor Gysi hört man immer wieder die Sätze: „Die Geschichte wird nicht enden mit dem Kapitalismus. Der Feudalismus wurde auch abgelöst. Die Sklaverei wurde überwunden.“ Er hat Recht. Aber er hat auch Unrecht. Denn die Vorstellung, das eine sei der Nachfolger des anderen, ist eine Geschichtskonstruktion und hat mit der Geschichte, wie sie wirklich abläuft, wenig zu tun. Was er den Feudalismus nennt, also die Übereignung von Macht und Besitz an verdiente Mitarbeiter des Herrschers – das gibt es noch immer. Überall auf der Welt. Das gibt es – wie übrigens auch die Sklaverei – mitten im Kapitalismus. Den gibt es nicht in Reinkultur und hat es niemals in Reinkultur gegeben. Die berühmten Gesellschaftsformationen leben mit einander in einander. Der Sozialismus ist ein Element in dieser Mischung. Der Begriff hilft so wenig wie die anderen Begriffe.
Die Welt wird sich in den nächsten Jahren gewaltig ändern. Die Vorstellung, ausgerechnet die Formen des wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Zusammenlebens, die sich auch in Europa erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt haben, würden das 21. Jahrhundert prägen, hat angesichts der demografischen und der Machtverhältnisse etwas Tollkühnes. Es wird neue Balancen von Volksbeteiligung, von Wirtschaftsmacht und Herrschaft geben. Die neuen Medien werden darin wichtige Rollen spielen.
Wir leben mitten in einem Systemwechsel. Wir werden einhundert Jahre brauchen, um zu begreifen, wie er sich abgespielt hat. Wir werden immer wieder versuchen, ihn mit den Begriffen rechts und links einzufangen. Das wird uns nichts helfen. Aber wir tun das schon sehr lange. Und wir haben noch keine Alternative. Die Aufschrift „Rätedeutschland“ ist noch nicht wieder aufgetaucht. Die Parolen sind Parolen des Übergangs. Parolen, hinter deren Kraftmeierei für jeden Hilflosigkeit zu spüren ist. Krawall ist kein Programm. Krawall ist ein Aufruf: Verunsichert, was euch verunsichert. Angezündete Autos sagen nichts, als dass es Menschen gibt, die sich nachts zusammentun, um Autos anzuzünden. Es sind Taten Einzelner, einiger weniger, aber darum sind sie nicht unpolitisch. Die angezündeten Autos sind Zeichen. Aber wir können sie nicht lesen. Wir wissen nicht einmal, ob es Zeichen einer Sprache sind oder Ausdruck einer Sprachlosigkeit. Wird uns etwas mitgeteilt oder geht es in erster Linie darum, den Freunden zu zeigen, was man fertig bringt? Rührend, wie wir versuchen, diese Flammenschrift zu lesen. Wir erzählen uns davon, dass nicht nur Luxuskarossen abgebrannt werden, sondern auch Kleinwagen, Familienkutschen.
Aber denken wir daran, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der man zwanzigtausend Euro einfach so auf die Straße stellt und empört ist, wenn ihnen etwas passiert? Wir machen uns nicht klar, in welchem Glück wir leben, und es fällt uns schwer zu begreifen, dass dieses Glück bröckelt. Es hat etwas Obszön-Dummes, dass wir nicht begreifen wollen, in was für einer Ausnahmesituation wir aufwuchsen, in welchem kostbaren Moment der Weltgeschichte, dass wir ihn einfach als Normalfall nehmen.
Wer vom Moritzplatz aus Richtung Naunynstraße geht, der findet ganz oben an einer Hauswand: „Revolution ist die einzige Lösung“. Mit drei Ausrufezeichen. Eine linke Parole. Eine dumme Parole. Die Revolution ist keine Lösung. Sie ist ein Fragezeichen. Danach ist alles wie vorher. Die Menschen sind dieselben. Die Lage hat sich nicht geändert. Keines der demografischen Probleme, kein Nahrungsproblem, kein Energieproblem ist gelöst. Danach findet ein Aufräumen statt, und dann beginnt die Suche nach den Antworten von neuem.
An keine Hauswand hat ein Revoluzzer Eurobonds geschrieben. Ich bin froh darüber. Es zeigt, dass sie, so verrückt sie uns vorkommen mögen, lange nicht so verrückt sind wie unsere Politiker. Die sind nicht mit der Analyse, ja nicht einmal mit der Definition unserer Probleme beschäftigt. Sie wollen sie verschieben. Eurobonds lösen keines unserer Probleme. Sie zögern den Zusammenbruch hinaus. Es ginge aber darum, statt des durch das Hinauszögern vergrößerten Zusammenbruchs möglichst viele kleine zu erzeugen, in deren Mitte wir einigermaßen überleben könnten. Der von den Eurobonds kreierte Aufschub ist nur dann interessant, wenn wir ihn nutzen könnten, um abzustoßen, was uns beschwert. Wer garantiert uns das? Ach, was heißt garantiert? Wer sagt es uns auch nur? Wenn nach der Ausgabe der Eurobonds weitergemacht würde wie bisher, wären sie nur noch eine offene Flanke für die Spekulation auf den Abstieg Europas.
„Rätedemokratie“ habe ich nirgends wieder gelesen. Es wäre nicht hilfreich. Wir haben inzwischen deutlich genauere Vorstellungen davon, wie Elemente von direkter Demokratie verbunden werden könnten mit der repräsentativen Demokratie. Wir wissen auch, dass beide missbrauchbar sind. Es gibt keine Generallösung, keine sozialistische Gesellschaft, keine reale Utopie. Es gibt nur das Durchwursteln. Also die harte Auseinandersetzung unter den Mäusen gegen die, die auf Dauer Katzen sein und von den Mäusen leben wollen. Dieser Kampf ist unser Kampf. Auch wenn wir uns lieber für Dinosaurier interessieren würden.

Aus: Berliner Zeitung, 20. August 2011. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.