von Günter Hayn
Helmut Holter sei erstaunt, so das Neue Deutschland am 23. September 2011. Holter war Spitzenkandidat der Linken in Mecklenburg-Vorpommern. Für Holter ist solch Äußerung ein Zeichen äußerster Gefühlsaufwallung. Er ist sauer, stinksauer sogar. Die Landtagswahlen vom 4. September hatten nämlich für die Linke einen Stimmenzuwachs ergeben: heftige 1,1 Prozent (2006: PDS 16,8, WASG 0,5%). Das ist ein Mandat im Landtag mehr. Die SPD gewann allerdings mit 5,4 Prozent vier Mandate dazu. Die CDU verlor vier Mandate. Rot-schwarz wäre mit einem Übergewicht von 19 Stimmen ebenso möglich wie rot-rot mit elf Stimmen Mehrheit. Am 21. September hatten nun die Schweriner SPD-Gremien einstimmig die Fortsetzung der SPD-CDU-Koalition beschlossen. „Vor allem über die Einstimmigkeit“ sei Holter erstaunt gewesen, war zu lesen. Von einer solchen wiederum kann in der Linken zurzeit keine Rede sein. Ausgerechnet der Landesverband, der von 1998 bis 2006 in einer Koalition mit der SPD unter Harald Ringstorff durch eine quasi in sich ruhende, sehr pragmatisch angelegte Politik in den bundesdeutschen Schlagzeilen kaum auffiel, fetzt sich momentan heftiger als die Grünen in ihren Gründungszeiten. Vordergründig schuldig ist ein Eklat, den Holters frühere Ministerkollegin Marianne Linke auf dem Rostocker Landesparteitag verursacht hat. Den hatte der Landesvorstand mit großem historischem Einfühlungsvermögen ausgerechnet auf den 13. August terminiert. „Mitten im Wahlkampf zerlegt sich die Linkspartei in Mecklenburg-Vorpommern“, ätzte ZEIT ONLINE denn auch voller Verwunderung über soviel politische Weltfremdheit. Linke verweigerte sich dem an einem solchen Tage unumgänglichen Maueropfergedenken. Kenner des linken Nord-Ost-Landesverbandes meinen allerdings, das merkwürdige Verhalten der Ex-Ministerin habe eher damit zu tun gehabt, dass im Vorfeld der Landtagswahlen anlässlich der Nominierungen zur Landesliste, „der ‚parteilinke’ Block um Marianne Linke eiskalt durchgereicht“ wurde, wie es das Neue Deutschland noch einigermaßen zurückhaltend beschrieb. Folge war ein Antrag auf Parteiausschluss Linkes seitens „eines Basismitglieds“, wie der Landesvorsitzende Steffen Bockhahn mitteilte. Auf den wiederum reagierten die politischen Freunde Marianne Linkes mit einem Abwahlantrag gegen Bockhahn. Auf dem Landesparteitag am 24. September in Güstrow wies den die Antragskommission als „unzulässig“ zurück. Damit hätte man es bewenden lassen und mit der Diskussion um „die richtigen Schlüsse aus dem Ergebnis des Votums der Bevölkerung“ (O-Ton Linke M-V) beginnen können. Machte man aber nicht. Bockhahn wollte seine Gegner endgültig am Boden liegen sehen und stellte die Vertrauensfrage. Mit 83 Prozent Zustimmung gewann er die deutlich, in einer namentlichen Abstimmung. Die ist nun wiederum in Personalfragen für die Linke ungewöhnlich und war eher übliche SED-Praxis.
Erwin Sellerings Entscheidung für die Koalition mit der CDU muss man wohl auch im Kontext dieses katastrophalen Zustandes der mecklenburg-vorpommerschen Linken sehen: „Die entscheidende Frage war, mit wem eine gute Regierung möglich ist. Welcher ist der verlässlichere Partner? Da haben wir uns nicht für das gute Angebot der Linken, sondern für das sehr gute Angebot der CDU entschieden.“ So der Ministerpräsident am 23. September in den Norddeutschen Neusten Nachrichten. Übrigens hatte die Linke in den jüngsten Landtagswahlen gegenüber 2006 13.751 ihrer Wählerinnen und Wähler verloren – das sind zirka zehn Prozent! Erschreckend sind die Daten aus dem neuen Landkreis Vorpommern-Greifswald. Dort verlor die Partei bei den Kreistagswahlen 4,3 Prozent Stimmen. Die NPD kann dort inzwischen mit satten 8,9 Prozent aufwarten. Die Braunen holten in dieser Region in den Wahlkreisen Ostvorpommern II 11,3 Prozent und Uecker-Randow 15,4 Prozent der Zweitstimmen zu den Landtagswahlen. Bemerkenswerterweise gewann aber hier die linke Landrätin Barbara Syrbe am 18. September die Stichwahlen mit 19 Prozent Vorsprung (59,5 Prozent) zu ihrer CDU-Konkurrentin. Hier läge für Holter und Bockhahn ein lohnenderes Aufgabenfeld als in der Exegese der Koalitionsverhandlungen zum zweiten Kabinett Sellering.
Harald Ringstorff wollte einstmals die PDS durch „Umarmen“ entzaubern. Das hat die inzwischen allein erledigt. Selbst beim Thema „DDR-Geschichte“ ließ Erwin Sellering die Linke durch ein betont unideologisches Auftreten im wahrsten Sinne des Wortes links liegen. Nach einer Umfrage der Schweriner Volkszeitung hätten Mitte August 2011 bei einer Direktwahl des Ministerpräsidenten 55 Prozent der Linksparteiwähler für Sellering gestimmt. Ähnliches wäre wohl auch in Berlin bei der direkten Konfrontation zwischen Klaus Wowereit und Harald Wolf der Fall gewesen. Weshalb die dortige Linken-Spitze unbedingt auf ein TV-Duell zwischen dem Titelverteidiger und seinem in allen Umfragen kontinuierlich hinter Renate Künast (Grüne) und Frank Henkel (CDU) gehandelten Mitbewerber beharrte, wird ein nie restlos zu klärendes Geheimnis bleiben. Es steht zu vermuten, dass auch Dank dieser formal üblen Blockadepolitik des SPD-freundlichen RBB die Linke bei den Abgeordnetenhauswahlen am 18. September wenigstens noch 11,7 Prozent Zweitstimmen einfahren konnte. Das bedeutet Platz vier – immerhin noch drei Prozent vor den PIRATEN, die erstmals in das Berliner Abgeordnetenhaus einzogen und die bis auf den heutigen Tag kaum einer kennt: bei genauer Betrachtung die einzigen Sieger dieser Wahl. Es wird lohnen, diese Partei künftig im Blick zu behalten.
Für die Liberalen bedeuteten die Berliner Wahlen – 1,8 Prozent für das Landesparlament und 1,6 für die Bezirksverordnetenversammlungen – möglicherweise das Läuten des Sterbeglöckchens. In Berlin hat sich die FDP in das politische Nirwana verabschiedet. Auch die SPD, zwar stärkste Kraft, verlor 2,5 Prozent Zustimmung und rutschte unter die magische 30-Prozent-Latte. Noch im Mai hatten die Grünen die in einzelnen Umfragen gerissen, lagen gelegentlich sogar vor der SPD. Am Wahltag fielen sie aber auf 17,6 Prozent zurück. Auch wenn die Berliner CDU nur einen Stimmengewinn von 2,1 Prozent verbuchen kann – es gelang ihr, ihren quasi freien Fall zu stoppen. Im politischen Spektrum der Hauptstadt ist mit dieser Partei wieder zu rechnen.
Rot- Rot allerdings wurde abgewählt und für die Linke war es die zweite Niederlage in Folge. Es lohnt sich, auf die Ausgangssituation zu schauen. Am 21. Oktober 2001 errang die damalige PDS 366.292 Stimmen, das bedeutete mit 22,6 Prozent Platz drei knapp hinter der CDU. Die PDS hatte mehr als doppelt so viele Stimmen wie die Grünen (148.066) und erkämpfte die relative Mehrheit aller Direktmandate, nämlich 32 von 78 insgesamt. Quasi mit einem Paukenschlag verschaffte sie sich erstmals Eintritt in eine Berliner Landesregierung. Die desaströse Bilanz nach zwei Wahlperioden: Der Partei gingen 195.463 Wählerinnen und Wähler verloren, sie erhielt noch 170.829 Zweitstimmen. In lediglich acht Wahlkreisen konnte sie die Direktmandate verteidigen. Es wäre vollkommen unsinnig, beide Wahlperioden getrennt zu betrachten. Am 18. September wurde über das Schicksal von Rot-Rot insgesamt abgestimmt und weit über die Hälfte ihrer ehemaligen Wählerschaft will die Linke nicht mehr im Berliner Senat sehen. Man kann jetzt, wie einige Parteistrategen diverse demographische Entwicklungen zur Erklärung versuchen heranzuziehen. Das Ergebnis bleibt dasselbe. Den demographischen Faktoren sind die anderen Parteien auch ausgesetzt – es bliebe nur die Schlussfolgerung, dass die Linke diese schlichtweg verschlafen hat. In den Berliner Bezirken, wo die PDS nach der Wiedervereinigung der Stadt von ihrem Ruf als „Kümmererpartei“ zumindest in den Ost-Bezirken aufgrund einer hervorragenden Verankerung in Verbänden, Initiativen und Vereinen jahrelang profitieren konnte, sieht es nicht besser aus: Von 319.832 Stimmen blieben ihr nach zehn Jahren rot-rot noch 181.343 Wählerinnen und Wähler erhalten.
Noch kurz vor dem Urnengang hatte Sozialsenatorin Carola Bluhm vollmundig erklärt: „Es gibt in Berlin keine Wechselstimmung.“ Willkommen in der Wirklichkeit! Vor zehn Jahren war die Linke in Berlin Volkspartei. Davon ist nicht mehr viel übrig. Es besteht die Gefahr, dass der verbliebene Vertrauensrest auch noch verspielt wird: „Doch die positiven Ergebnisse, beispielsweise in der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik, wurden von den Wählerinnen und Wählern nicht entsprechend gewürdigt. Dafür wurden wir für Versäumnisse besonders hart abgestraft.“ – So Gesine Lötzsch und Klaus Ernst jetzt in einem Brief an die Landes- und Kreisvorsitzenden. Die verstockten und ungerechten Wähler sind also schuld. Für einige Landespolitiker sind es die beiden Briefeschreiber. Für andere die feindseligen „Mainstream-Medien“. Ausnahmsweise war’s mal nicht das Wetter.
Bringt diese Partei nicht endlich die Kraft auf, ihre eigene Politik inklusive ihres Personals einer kritischen Analyse zu unterziehen, wird sie binnen kurzem das Schicksal der FDP erleiden. Die Fallhöhe von elf auf unter fünf Prozent – auf Bundesebene dümpelt die Partei um die sieben Prozent daher – ist so heftig nicht. Für die deutsche Gesellschaft wäre das tragisch. Für eine gescheiterte Linke ist keine Alternative in Sicht. Einem dramatischen Rechtsruck wären wir angesichts der tiefen Krise des marktwirtschaftlichen Systems ein Stück näher.
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