von Peter Linke, Moskau
Unsere Gehirne sind „Glaubensmaschinen“, so Michael Shermer in seinem druckfrischen Buch „The Believing Brain“ („Das glaubende Hirn“): Sie suchen und finden Strukturen, die sie dann mit Bedeutung füllen. Diese bedeutungsvollen Strukturen formen Überzeugungen, die unser Verständnis von Realität gestalten. Unsere Hirne neigen dazu, nach Informationen zu suchen, die unsere Überzeugungen bestätigen, während sie Informationen, die unseren Überzeugungen widersprechen, ignorieren… Shermer nennt dies „glaubensabhängige Realität“ und meint, mit dieser griffigen Formel einen Schlüsselbefund moderner Hirnforschung auf den Punkt gebracht zu haben.
Believing is seeing – Glauben ist Sehen, nicht umgekehrt, wie bisher angenommen… Nun bin ich kein Hirnforscher. Dennoch leuchtet mir Shermers These ein. Zumindest hilft sie mir, Dinge zu verstehen, die ich mir bisher nicht erklären konnte. Etwa, warum so viele westliche Russlandversteher unverdrossen zwischen dem „liberalen „Hoffnungsträger“ Medwedjew und dem „autoritären Sowjet-Fossil“ Putin unterscheiden. Klar doch: Medwedjew ist der Gute, weil man fest daran glaubt, entspricht er doch genau jenem postsowjetischen Reformertyp, auf den so genannte Entscheidungsträger in Berlin und anderswo abfahren: jung, smart, twitternd … und natürlich mit viel Herz für den Westen. Wer nun aber etwa Anderes glaubt, etwa, dass es mehr braucht als einen jugendlichen Helden mit Laptop, um die russische Karre aus dem postsowjetischen Dreck zu ziehen? Erschließt sich diesem auch eine andere Realität? Zum Beispiel eine, in der zwischen „Reformern“ und „Fossilen“ zu unterscheiden einigermaßen schwerfällt. Ich glaube schon.
Mag Medwedjew noch so viel von „Rechtsnihilismus“ schwadronieren und medienwirksam verkünden, das Land vom langen Schatten Stalins befreien zu wollen – das Update der Milliarden Rubel schweren ultraliberalen „Strategie 2020“ geht auf Premier Putins Kappe, ist sein Brand, für dessen Kultivierung er sogar unlängst eine neue Struktur aus dem Boden gestampft hat: die so genannte Russische Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst unter Leitung des Gajdar-Jüngers Wladimir Mau. Also sind letztlich beide, Medwedjew und Putin, Liberale? Stehen sich zumindest gedanklich viel näher als gemeinhin angenommen? Spielen lediglich gegenüber dem Westen good cop – bad cop?
Zumindest viele russische Beobachter scheinen dies so zu sehen: Das Hauptproblem der „Strategie 2020“ wie des gesamten postsowjetischen Reformkurses, so zwei der gescheitesten Kreml-Kritiker, Michail Remisow und Boris Meschujew, sei die Schaffung einer „künstlichen Alternativlosigkeit“ in Fragen der sozialökonomischen Entwicklung…
Wirklich? Auch wenn Ex-Gajdar-Berater Mau meint, einer Art russsicher ENA vorzustehen, er ist nicht der Einzige, der vom Kreml gehätschelt wird. Staatlich bezuschusst werden neben Maus schärfstem Konkurrenten, der Moskauer Hochschule für Ökonomie, auch andere, weit weniger liberale Einrichtungen, von der Moskauer Universität über die Akademie für Arbeit und soziale Beziehungen bis hin zum Russischen Institut für Strategische Studien. Und alle arbeiten an ihren eigene „Strategien 20XX“, stellen sie zur Diskussion, verwerfen sie und fangen von vorne an…
Nein, von einer „künstlichen Alternativlosigkeit“ kann keine Rede sein, eher von einer künstlichen Pluralität. Es sieht eher danach aus, als habe sich der Kreml längst noch keine abschließende Meinung darüber gebildet, wohin Russlands Reise im 21. Jahrhundert gehen soll und deshalb verzweifelt nach Meinungen fischt. Denn nur Eines scheint ihm inzwischen wirklich klar zu sein: So wie bisher kann es nicht weitergehen…
Nirgendwo wird dies deutlicher als in Russlands aktueller „Ostforschung“: Hundert Experten, dreihundert Meinungen… Ist Russland „eurasisch“ oder „pazifisch“, gehört es zum „Großen Osten“, zu „Großostasien“ oder etwa zum „Großen Mittleren Osten“? Welche Rolle kann Zentralasien bei der Entwicklung Sibiriens spielen? Sollten die „Schanghaier Sechs“ mit der NATO kooperieren? Gibt es einen „postbyzantinischen Raum“…? Fragen, an den sich nicht nur spinnerte Orientologen am Moskauer Fernostinstitut oder in Irkutsk die Zähne ausbeißen, sondern zunehmend auch smarte Analysten im liberalen Institute of Contemporary Development, bei Gasprom und Transneft. Aus gutem Grund: In Richtung Westen gibt es kaum etwas, das nicht längst ausprobiert wurde: „Strategische Partnerschaften“, „Gemeinsame Räume“ „Flankenvereinbarungen“… Gebracht hat dies alles relativ wenig. Entsprechend groß der Frust. Und das Bemühen, im Osten noch einmal neu anzufangen: Strukturen zu schaffen, wo es nie welche gab, nicht länger Problem, sondern Problemlöser zu sein…
In Russlands Denkfabriken riecht es stark nach Zukunft, bricht sich eine neue Futurologie Bahn. Mit Rechnung an den Kreml. Und der zahlt. Korruption nicht ausgeschlossen. Auch bleibt es (vorerst) eine Futurologie der Mittelklasse, deren Träume an einem kindlichen Egoismus leiden (Tatjana Iwanowa), und die deshalb für jene Viele, die durch den sozialen Rost fallen bzw. schon gefallen sind, wenig Empathie aufbringt.Dennoch: Zukunft hat, wer über sie nachdenkt. Und nachgedacht wird im heutigen Russland mehr denn je. Sollte das Tandem Medwedjew-Putin je eine historische Mission gehabt haben, dann diese: den widersprüchlichen, verworrenen, nicht selten abwegigen, aber immer leidenschaftlichen Debatten zwischen Polittechnologen, Akademikern, Künstlern, Uniformträgern, Popen, NRO-Aktivisten und vielen anderen nicht nur nicht im Wege zu stehen, sondern aktiv zu fördern. Zumindest im Augenblick sieht es so aus, als wolle man sich dieser Mission tatsächlich stellen.
Blauäugigkeit? Kaum. Verständigung tut einfach Not, denn nur sie fokussiert letztendlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf das Wesentliche: Von entscheidender Bedeutung ist nicht, ob sich Russland nach Westen oder Osten bewegen soll, sondern, dass es sich überhaupt bewegt. Und erste Bewegungen sind durchaus spürbar. Russland schickt sich an, seine postsowjetische Phase hinter sich zu lassen. Dabei kehrt es nicht in die Welt zurück (wie Daniel Treisman in seinem jüngsten Opus durchaus wohlwollend meint), sondern korrigiert die Konturen dieser Welt, indem es transgressiv Realitäten schafft, denen nicht länger die Vorstellung zugrunde liegt: entweder liberal oder autoritär – ein Drittes ist nicht gegeben…
Postpostsowjetische Verhältnisse: eine neue politische Kultur, ohne Euro-Masochismus und eurasische Folklore, die renitenten Westlern und Slawophilen keinerlei Karrierechancen mehr bietet, die Vergangenheit auch mal Vergangenheit sein lässt, um Zeit für Zukunft zu haben, die mehr auf Yota und Badoo als auf Öl und Gas setzt… Eine phantasieintensive Angelegenheit. Aber anders wird Russland der längst überfällige Sprung ins 21. Jahrhundert nicht gelingen.
P.S.: Ach so, die bevorstehenden Wahlen. Überraschungen dürften sie keine bereithalten, die oben beschriebenen Tendenzen nicht konterkarieren. Und das ist gut so.
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