von Franz Schandl, Wien
Man darf den Staat wohl zu Recht als den zentralen Garanten der bürgerlichen Gesellschaft interpretieren. Alle seine Werkzeuge und Instrumente, Institutionen und Apparate werden dafür eingesetzt, den Kapital- und Herrschaftsverhältnissen Bestand zu gewähren. Das Arsenal ist groß. Man denke etwa an die infrastrukturellen Bedingungen. Die sind trotz aller Privatisierungen noch immer staatliches Terrain.
Soziale Wohlfahrt und polizeiliche Gewalt unterscheiden sich zwar als Mittel, aber nicht als Zweck. Repression (Überwachen, Strafen, Kontrollieren, Sortieren) und Fürsorge (Beihilfen, Förderungen, Zuschüsse) sind unterschiedliche Varianten einer Sicherheit versprechenden Maschine. Der Staat, das ist das große Zentralversicherungssystem der bürgerlichen Gesellschaft. Droht dieser Versicherung die Insolvenz, dann steht die gesellschaftliche Entsicherung auf der Tagesordnung, das Gewaltmonopol wird sich entweder verschärfen oder in Gewaltpole zerfallen.
Wenn immer mehr auf immer weniger zugreifen können, wird der Kampf um die staatlichen Ressourcen schriller und heftiger. Das Hauen und Stechen, das Schimpfen und Rempeln ist auch unübersehbar und unüberhörbar. Ohne die sozialstaatliche Redistribution hätte sich die moderne Demokratie schon gesprengt; indes gehen wir Zeiten entgegen, wo jene immer unmöglicher wird, der Staat zusehends auf seine vermeintlichen Kernaufgaben, die Verwaltung der öffentlichen Ordnung, reduziert werden soll. Soziale Abfederung erscheint dann als Luxus, für die der Staat nicht mehr zuständig ist, sondern jede und jeder Einzelne. Vorsorge statt Fürsorge nennt sich dann dieses Programm. Sozialstaat und Rechtsstaat gehören freilich zusammen. Wird jener abgebaut, ist dieser in Gefahr.
Verträglichkeit ist jedenfalls nicht unmittelbar vorhanden, sondern muss durch gesonderte Verträge gesichert werden. Unser Stoffwechsel und unsere Dienste bedürfen der rechtlichen Kodifizierung. Diese fällt in den staatlichen Bereich und ist Folge politischer Verhandlung. Das Misstrauen, das zur mentalen Grundkonstitution der bürgerlichen Subjekte gehört, muss eben durch Verträge entschärft und kanalisiert werden. Der Kauf ist ein klassischer Vertrag – jede ökonomische Transaktion bedarf der staatlich durchgesetzten Rechtsform. Ist ein Konflikt zwischen den Geschäftspartner genannten Tauschgegnern nicht lösbar, ist die staatliche Gerichtsbarkeit gefordert.
Verträge sind wie Sicherheitszertifikate, sie stabilisieren den ökonomischen Verkehr, indem sie Tauschgeschäfte zu Rechtsgeschäften machen. Verträge unterstreichen also nicht die profane Verträglichkeit des Marktes, sondern seine wesensmäßige Unverträglichkeit. Daher schreien auch jene, die den blanken Markt schlechter vertragen, unaufhörlich nach Recht und Gesetz. Was bleibt ihnen heute auch anderes übrig, als Vater Staat anzurufen? Nicht zufällig ist daher das Proletariat staatsfreundlicher als die Bourgeoisie. Ein Umstand, den Vertreter eines offensiven Klassenkampfs wohl schwer erklären können.
Verträglichkeiten, die stets aufs Neue hergestellt werden müssen, stabilisieren allerdings nur, solange Zahlungsfähigkeit gegeben ist. Ist diese Flüssigkeit bedroht oder verschwunden, stockt der Warenverkehr: Käufer können nicht mehr kaufen, Verkäufer können nicht mehr verkaufen. Nicht bloß das Geschäft kommt zum Erliegen, auch viele Bedürfnisse können nicht mehr befriedigt werden. Insbesondere wenn die Ware Arbeitskraft nicht mehr verwertbar ist, zeitigt das böse Konsequenzen. Wie sollte das in einer Gesellschaft anders sein, wo Leben von Kaufen und Verkaufen abhängig ist? Wenn dann noch sozialstaatliche Sicherungssysteme ausbrennen oder abgebaut werden, sind Absturz und Demütigung unvermeidlich.
Garantie heißt auch Sozialisierung von Verlusten, die vom Markt nicht mehr gedeckt werden können. Natürlich übernimmt der Staat und mit ihm die Gesellschaft (genauer: die Steuerzahler) diese Haftungen. Wer sonst sollte sie auch übernehmen können? Gerade darin besteht ja die Aufgabe des Staates: Koste es, was es wolle, der Markt ist zu gewährleisten. Wenn dieser zusammenzubrechen droht, dann ist es die vornehmste Aufgabe seines Staates, ihn in dieser Situation zu retten. Fragt sich nur, wie lange er das noch umsetzen kann, ohne dass es zur monetären Implosion führt.
Schlagwörter: Franz Schandl, Fürsorge, Markt, Repression, Staat