von Erhard Crome
Der Lieblingsonkel meiner Kindheit war Onkel Willy. Er wohnte in Tempelhof und war der Bruder meiner Oma. Seit ich acht oder neun Jahre alt war, fuhren wir jeden Mittwoch zum Kaffee zu Onkel Willy. Ich durfte mit, und es war immer etwas Besonderes. Onkel Willy erzählte lustige Geschichten von früher, zeichnete mit mir oder wir spielten. Der „Stern“ hatte damals eine Beilage für Kinder, das „Sternchen“, mit lustigen Geschichten von Julio und dem Gummipferd, Seeräubern und „Reinhold das Nashorn“, das ich immer sehr mochte. Dass das von Loriot war, wusste ich erst später. Das „Sternchen“ bekam ich immer, wenn ich kam, und als ich selbst lesen konnte, gehörte es zu meinem wöchentlichen Pensum.
Die Familie meiner Oma war nach 1873 nach Russland gegangen, beide, meine Oma und Onkel Willy, waren in der Ukraine geboren. Meine Oma war nach Internierung und Kriegswirren mit ihrem Mann, meinem Opa, 1920 nach Deutschland gekommen, nach Berlin. Onkel Willy hatte die Tochter eines russischen Adligen geheiratet und arbeitete als Ingenieur für die deutsche Firma Demag in der Sowjetunion; er war an vielen „Großbauten“ der Industrialisierung beteiligt, hatte sein Büro aber in Moskau und kannte viele Leute der dortigen Behörden. Als die Stalinschen Prozesse losgingen und etliche seiner Bekannten unter den Verurteilten waren, ging er 1936 nach Deutschland und zog ebenfalls nach Berlin, in die Nähe seiner Schwester. Hier wurde er nicht mehr viel, wahrscheinlich weil ihm die Nazis ebenfalls misstrauten, überstand aber den Krieg. Als dann klar war, wie die Sektoren der Besatzungsmächte eingeteilt waren, fand er sich in Tempelhof bei den Amerikanern wieder. In den Osten der Stadt kam er fast nie. Er befürchtete wohl, dass der sowjetische Geheimdienst ihn vielleicht doch noch auf der Liste haben könnte, weil er zu viel wusste. Darüber haben wir nie gesprochen, er jedenfalls nicht mit mir, der ich ein kleines Kind war. Meine Oma sprach später genauso wenig darüber, aber wir fuhren jede Woche nach Tempelhof, und nicht Onkel Willy nach Adlershof.
Er hieß außerdem Brandt, Willy Brandt wie der damalige Westberliner Bürgermeister, weshalb Onkel Willy nach dem Mauerbau auf die Briefe an uns in den ersten Jahren immer „Wilhelm Brandt“ schrieb, weil er meinte, der Brief komme sonst nicht an.
Im August 1961 waren wir in Straupitz im Spreewald. Mein Vater war 1958 auf eine Anzeige in der Zeitung mit einem privaten Ferienangebot in Straupitz gestoßen. Frau Konrad, die Frau des Revierförsters, führte ein großes Haus und kochte zusammen mit ihren zwei Töchtern für über zwanzig Gäste, die zum Übernachten zum Teil bei den Bauern des Dorfes untergebracht waren. Mein Vater fand das ganz angenehm, Straupitz war nicht weit von Berlin entfernt und er musste nirgends beantragen, mit der Familie in Urlaub zu fahren. Wir waren dort mit der ganzen Familie vier Wochen lang und konnten uns gut erholen. Außerdem rundete Vater den Preis immer gut auf, so dass wir jedes Jahr wiederkommen konnten. So waren wir 1961 zum vierten Mal in Straupitz und wohnten auch bei Konrads im Haus, hatten Unterkunft und Verpflegung unter einem Dach. Da ich inzwischen viele Jungen (und ein paar Mädchen) meines Alters im Dorf kannte, war ich meist unterwegs und musste mich immer nur zu den Mahlzeiten pünktlich einstellen.
Der 13. August war bekanntlich ein Sonntag. Irgendwer von den Gästen hatte schon gehört, dass in Berlin die Mauer gebaut wurde. Herr Bresin, so zumindest der Name in meiner Erinnerung, Friseurmeister aus Pankow, hatte ein Kofferradio. So saßen nach dem Frühstück und praktisch den ganzen Tag die meisten im Garten um den Tisch unter dem Walnussbaum herum und lauschten dem meist knarrenden Kofferradio. Mal den Ostsender mit den offiziellen Meldungen und Reportagen, dann den Westsender. Die Männer rauchten und diskutierten. Das meiste verstand ich nur zum Teil. Sie hatten alle den Krieg als Soldaten erlebt und debattierten irgendwie darum, ob „der Amerikaner“ das dulden werde oder sich „der Russe“ doch wieder durchsetzen könne, ob es Krieg geben werde oder nicht. Irgendwann waren Rede-Teile des Bürgermeisters Willy Brandt zu hören, aus denen sich in Bezug auf die Sache selber – bleibt die Mauer oder nicht – aber nichts ergab. Schließlich war es Abend und am Ende hatten etliche der Männer ziemlich viel getrunken. Meine Mutter schickte mich ins Bett.
Später war im Radio zu verfolgen, wie der US-Vizepräsident Johnson nach Westberlin kam und Mut zusprach und von „Freiheit“ und solchen Sachen redete. Spätestens da waren sich die Männer einig, dass es wohl mit der Mauer länger dauern werde. Mein Vater war der Meinung, man werde es machen, wie während der Blockade 1948, als man mit Sondergenehmigungen hin und herfahren konnte – er hatte damals in Mitte gewohnt und hatte eine. Daran zweifelten die meisten. Herr Bresin meinte, nun werde er wohl doch in die Produktionsgenossenschaft der Friseure eintreten müssen. Dazu hatte man ihn vor dem Urlaub schon zu drängen versucht. Für mich war klar, dass Onkel Willy nun weit weg sein und mit den Besuchen in Tempelhof erst mal Schluss sein würde.
Zur Weihnachtszeit 1963 gab es das erste Passierscheinabkommen, das Besuche von Westberlinern in den Osten der Stadt ermöglichte. Onkel Willy zögerte erst, wahrscheinlich befürchtete er wieder sowjetische Zumutungen. Meine Oma drängte ihn jedoch, er solle unbedingt kommen; immerhin war er schon Mitte siebzig und sie hatten sich über zwei Jahre nicht gesehen. Er kam dann schließlich am 26. Dezember. Ich holte ihn vom S-Bahnhof in Adlershof ab. Es lag Schnee, Onkel Willy aber hatte einen hellen Übergangsmantel an und einen zerknautschten Hut auf. In der Manteltasche hatte er eine angefangene Flasche Weinbrand, die er dann zu Hause auf den Tisch stellte. Es wurde viel und lange geredet. Als wir allein in meinem Zimmer waren, fragte ich ihn, wie lange es wohl mit der Mauer so bleiben werde. Er schaute mich an und sagte nach einer Weile, die Alliierten hätten 1945 vereinbart, Deutschland fünfzig Jahre unter Besatzung zu halten. Und so lange werde es wohl dauern. Er hatte fast recht. Aber den Ablauf der Zeit hat er nicht mehr erlebt.
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