von Klaus Hammer
Bernd W. Seiler, emeritierter Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Universität Bielefeld, hat in einem materialreichen Text-Bild-Band „Fontanes Berlin“ erkundet. Er folgt dabei neben Fontanes Wohnsitzen in Berlin vor allem den Handlungsorten seiner Berliner Romane und Erzählungen. Geschickt weiß er sein wissenschaftliches Interesse mit dem des Fontane- und Berlin-Liebhabers zu verbinden, konfrontiert damalige Stadtansichten mit heutigen, kann eine Fülle zeitgenössischer Fotos, Postkarten, Zeichnungen, Grafiken, Gemälde, Stadtpläne, architektonischer Skizzen, Zeitungsanzeigen, Adressbucheinträgen einbringen und ermöglicht so dem Leser, auf den Spuren Fontanes und seiner Romangestalten durch Berlin zu wandern.
„L’Adultera“, zunächst als Novelle, dann als Roman bezeichnet, liegt eine damalige Skandalgeschichte aus der guten Gesellschaft Berlins zugrunde – der Fall des Eisengroßhändlers Louis Ravené, der von seiner wesentlich jüngeren Frau verlassen wurde, weil sie von dem jungen Bankkaufmann Gustav Simon ein Kind erwartete. Fontane hat allerdings keinen „Tatsachenroman“ geschrieben, sondern lässt die Ehebrecherin Melanie – eine überraschende Wendung – straffrei ausgehen und Glück in ihrer neuen Beziehung finden. Seiler weist sehr genau die Lokalitäten in dem Roman nach, die Stadtwohnung der van Straaten, deren Sommervilla am nördlichen Rand des Tiergartens mit ihren Treibhäusern, die Landpartie nach Stralau, die „reizende Mansarde“, die Melanie und Rubehn dann am Westrand des Tiergartens mieten. Es geht hier aber nicht nur um Figuren und ihre Handlungsweise, sondern auch um Bilder, deren Motive, Ausdrucksformen und Wirkungsweisen. So erweist sich die Kopie des berühmten Bildes „Die Ehebrecherin vor Christus“ des Malers Tintoretto als Gebilde, in das die eigenen verborgenen Wünsche und Ängste hinein gewoben werden. Melanie wehrt sich gegen die manipulierende Identifizierung mit dem Bild der Ehebrecherin. Mit den Orts- (eine „Große Petristraße“ gab es in Berlin nicht) und Zeitanspielungen hat Fontane einige Verwirrung gestiftet. Er wollte nicht nur Sachverhalte, sondern Reflexe der momentanen Befindlichkeit bieten, die auf Zukünftiges verweisen sollen. Ein absonderlicher „Ausnahmefall“ (Fontane) bleibt diese Geschichte und steht in eigentümlicher Spannung zur Echtheit des Berliner Lebensbildes.
Im Unterschied zu „L’Adultera“ ist der Doppelroman „Irrungen, Wirrungen“ eine komplett erfundene Geschichte, aber eine doch so typische, dass sie sich jederzeit so zugetragen haben könnte (so meldete sich eines Tages auch bei Fontane eine Frau, die erklärte, sie sei das Original der Lene Nimpsch, weiß Seiler zu berichten). Eine Liebesgeschichte schlägt in eine Ehegeschichte um, nur die Paare haben gewechselt und auch die sich zu Sinnträgern verdichtenden Orte sind andere geworden. Die Idyllen der Dörrschen Gärtnerei am Stadtrand und des Ausflugsortes Hankels Ablage (bei Zeuthen an der Dahme) sind nur Trugbilder und taugen wenig fürs Leben. Umsichtig spürt Seiler den unterschiedlichen Lebenswelten Lenes und Bothos nach, den so ganz anders gearteten Spaziergängen der beiden Paare, Bothos Alleingängen durch Berlin, bei denen er in Gedanken bei Lene weilt, um sich später dann mit einer Ehe mit Käthe abzufinden. Die „Berliner Alltagsgeschichte“ verbindet alltäglichen Bericht mit „historischer Erinnerung“ (das Grabmal Hinckeldeys, der Charlottenburger Schlosspark mit der „höfischen Vorgeschichte“ König Friedrichs II.). Als sich Käthe bei der Lektüre der Hochzeitsanzeige Lenes und Gideons über den Namen des Bräutigams lustig macht, gesteht Botho ein: „Was hast du nur gegen Gideon, Käthe? Gideon ist besser als Botho.“
Das tragische Gegenstück zu „Irrungen, Wirrungen“ ist „Stine“. Invalidenstraße 98a, später auch Tieckstraße 27a, Zietenplatz und Mohrenecke, Mauerstraße, Zeltenstraße – so heißen die stadtplangetreuen Adressen und Schauplätze einer abermaligen „Berliner Alltagsgeschichte“, die aber diesmal eine fremde, vergangene, fortsetzungslose Geschichte offeriert. Waldemar von Halderns Umherirren durch Berlin, nachdem seine Heiratspläne mit Stine auf familiären Widerstand gestoßen sind, “macht ihm fühlbar, dass sein Leben keinen Sinn hat, weil ihm nichts, aber auch gar nichts darin gelungen ist“. So geht er in den Tod, in den ihm Stine bald folgen wird.
Spielt „Irrungen, Wirrungen“ im Westen, „Stine“ im Norden, so „Frau Jenny Treibel“ im Osten von Berlin. Von hier kommt die einstige tütenklebende Krämerstochter und nunmehrige Kommerzienrätin Jenny Treibel – nach Fontane der „Typus einer Bourgeoise“ – und hier leben auch Vater und Tochter Schmidt. Er, der einstige Jugendfreund Jennys, sie, die sich zunächst in den Kopf gesetzt hat, Jennys drögen Sohn Leopold zu heiraten, sich dann aber eines Besseren besinnt. Die prächtige Treibelsche Villa, nach dem Muster der Spätrenaissance gebaut und dementsprechend eingerichtet, liegt in der Köpenicker Straße zur Spree zu. Dagegen herrscht in der Mietswohnung der Schmidts wirtschaftliche Enge und im Treppenhaus riecht es nach „kleiner Wäsche“. Auf der Landpartie am Halensee wird in Gesprächsverläufe aufgelöst, was im herkömmlichen Roman Handlung ist: Gesprächspaare gehen hintereinander her oder suchen verschiedene Wege, reden über vorangehende Paare oder behindern diese durch einfaches Hinterhergehen. Nach diesen Gesprächen ist wieder eine völlig neue Situation entstanden, die durch Unterredungen der Betroffenen geklärt werden muss und wieder Konversationsstoff für Nichtbetroffene abgibt. Eine Art Satyrspiel zu „L’Adultera“, denn hier ist der Gedanke des bürgerlichen Reichtums, so neu erworben er sein mag, mit weit mehr Ironie und überdies als gefährlich ansteckend konzipiert. Hier findet sich letztlich Geld zu Geld und Geist zu Geist.
Nicht immer sind die Domizile von Fontanes Figuren genau auszumachen. Die beiden Jahrzehnte von 1875 bis 1895, in denen die Romane spielen, waren von rasanter Bautätigkeit, ganze Straßenzüge wurden durch Neubauten ersetzt, neue Stadtteile entstanden um den alten Kern, der Bau der Stadtbahn von Ost nach West führte mitten durchs Zentrums, doch von all dem nehmen die Figuren keine Notiz. Woldemar von Stechlin fährt zu einem Besuch der Barbys mit der Ringbahn am Potsdamer und Brandenburger Tor vorbei bis zum Reichstagsufer. Er sieht dort das Haus mit der Malzkaffee-Reklame, aber nicht das fast fertig gestellte Reichstagsgebäude, das größte Berliner Bauvorhaben jener Zeit. Den tieferen Sinn dieses Vorgehens Fontanes sieht Seiler darin, dass Berlin für die Figuren immer ihre Heimat oder wenigstens ihr Zuhause ist und sein soll. Auch Umzüge innerhalb der Stadt, wie Fontane sie selbst wiederholt erlebt hat, spielen keine Rolle. Wenn jemand, wie Leslie-Gordon in „Cécile“, nach längerer Abwesenheit zurückkehrt, heißt es: „Gordon wuchs sich rasch wieder in Berlin ein“. In Fontanes Berlin gibt es – so Seiler – keine Neuerungen oder Unvollständigkeiten, Unvollkommenheiten, Belästigungen, keinen Lärm, keine Gerüche. Es ist ein „vorteilhaft arrangiertes, ein poetisches Berlin-Bild“. Und doch erscheinen zeitgenössische Verhältnisse in Fontanes Berliner Romanen stets perspektivisch gebrochen, Fakten kommen als schon beredete und gedeutete – nicht als ‚objektive’ – an den Leser. Fontane inszenierte Gespräche und hielt so Realitätserfahrung und -verarbeitung als stets subjektive Anstrengung gegenwärtig.
Sein Realismus sucht die postalische und kalendarische Genauigkeit, um sie im gleichen Moment wieder aufzuheben. Der Eindruck, dass der Zeitverlauf nicht stimmt, dass also die Zeit gelegentlich aus den Fugen gerät, könnte auch den poetologischen Grundsatz Fontanes bestätigen, dass selbst realistische Geschichtenerzähler „verschwommen“ denken müssen (Thomas Mann). „Was soll uns der Roman?“, so fragte Fontane 1875 anlässlich einer Rezension zu Gustav Freytags „Die Ahnen“. „Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Hässlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben … Er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen … lassen“.
Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2011. 192 Seiten, 279 Abbildungen. 26,90 Euro.
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